Johannes Buxtorf – Vortrag am 13. Januar 2015

Herzlichen Glückwunsch zum 450. Geburtstag

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Johannes Buxtorf

dem Begründer der wissenschaftlichen Hebraistik

dem wirkmächtigsten Kamener aller Zeiten

Dr. Christoph Buxtorf und Dr. Regine Buxtorf, zwei Nachfahren des Johannes Buxtorf, kommen anläßlich dieses Geburtstages am 13. Januar 2015 nach Kamen

(Bitte lesen Sie auch den Artikel über JB! Hier klicken! Hinweis: am 13. Januar 2015 hält Horst Delkus im Kamener Museum einen Vortrag über JB)

KH

Fritz Heitsch – Stadtdirektor und Künstler

von Klaus Holzer

In unserer Vorstellung gibt es kaum etwas Trockeneres als Verwaltungsbeamte. Sie verfahren streng nach Recht und Gesetz, neigen zu bürokratischem Verhalten, treiben uns manchmal zum Wahnsinn, dennoch geht es ohne sie nicht.

Ganz anders der Künstler. In allem scheint er das Gegenteil des Bürokraten zu sein. Große Freiheit und Gestaltungskraft aus ihm selber heraus, gewonnen aus sich selbst auferlegten Regeln, treiben ihn zu schöpferischem Tun.

Aus der Zwischenablage Fritz Heitsch, 1962

Und es scheint ausgeschlossen, daß sich diese einander widersprechenden Eigenschaften in einer Person verbinden können. Und doch ist es vorgekommen, in Kamen: der frühere Kamener Stadtdirektor Fritz Heitsch war beides.

FH wurde am 23. Juni 1900 in Elberfeld (heute Stadtteil von Wuppertal) geboren, gerade noch rechtzeitig, um im Ersten Weltkrieg als Soldat zu dienen. Sein Vater war Prof. Louis Heitsch, Bildhauer und Oberlehrer an der Handwerker– und Kunstgewerbeschule in Elberfeld. Anders als nach seiner Herkunft zu erwarten gewesen wäre, wurde Fritz, nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt war, Bergmann auf der Zeche Sachsen in Heessen, wo er fast zwei Jahrzehnte arbeitete, mehrere davon als Betriebsrat. 1922 trat er in die SPD ein.

Ende der 1930er Jahre inhaftierten ihn die Nationalsozialisten im KZ Schönhausen in Bergkamen, von wo er nach kurzer Zeit in das Lager Wittlich/Mosel verlegt wurde. Als echter Sozialdemokrat hatte er sich geweigert, mit „Heil Hitler“ zu grüßen.

Während dieser Zeit als Gefangener entsann er sich seiner Kindheit in einer Künstlerfamilie und fand zur Kunst, die es ihm ermöglichte, diese belastende Zeit ohne größere Schäden an Körper und Geist zu überstehen.  Aber er machte es sich nicht leicht, er wählte den schweren Weg, er brachte sich das zu seiner Kunst notwendige Handwerk selber bei. Und für seine Plastiken nahm er nicht die leichter zu bearbeitenden Werkstoffe wie Holz oder Töpferton, sondern den spröden Mergelton, aus dem auch Ziegel gefertigt werden.

Büste FH von W. Becker 1943 KopieW. Becker, Büste Fritz Heitsch, 1943

 Nach der Zeit in Wittlich war er gesundheitlich angeschlagen und kam dennoch, wieder zurück in der Heimat, erst einmal als Sanitäter an die Westfront, nach seiner Entlassung 1940 ins Knappschafts-krankenhaus nach Hamm, wo er seine künstlerische Tätigkeit wieder aufnahm. Schon 1942 war er an einer Ausstellung in Hamm beteiligt. 1943 wurde er an die Landwehr überstellt. Inzwischen war seine künstlerische Begabung sogar den Nazis aufgefallen, die ihn bisher alsSozialisten diskriminiert hatten. In der Wochenschau vom 20. Oktober 1943 wird FH als „Kumpel auf einer deutschen Zeche“ porträtiert, der „ein guter Bergmann“ sei, der „seine freie Zeit als Bildhauer“ verbringe. So benutzten sie ihn, den sie wenige Jahre zuvor noch ins KZ gesteckt hatten, nun für ihre Zwecke.

Bäuerin_Mutter    Fritz Heitsch, Bäuerin, o.D. | Mutter mit Kind, o.D.

Am 25. Mai 1945, gleich nach Kriegsende, ernannte der englische Kommandant von Hamm FH, den sozialdemokratischen Betriebsrat und ehemaligen KZ-Insassen, zum Bürgermeister von Werries, seinem Wohnsitz seit 1923. Das geschah ganz lakonisch auf einem etwa 5 cm breiten Streifen Papier, mit Schreibmaschine geschrieben: „Hereby I appoint Herr Heitsch Bürgermeister of Werries.“ Nur ein Jahr später bestellte ihn derselbe englische Kommandant zum Amtsbürgermeister des Amtes Rhynern. Den nächsten Schritt auf der Karriereleiter machte er, als Hubert Biernat, damals Landrat in Unna, ihn zu sich ins Kreishaus holte. Doch schon 1948 wurde er für 12 Jahre zum Stadtdirektor in Kamen gewählt.

In diese Zeit fallen Kamens erste größere Industrieansiedlungen: Kettler, Winkelhardt, GZK, mit Paul Vahle fuhr er einen ganzen Sonntagnachmittag lang durch Kamen, bis dieser ein passendes Grundstück gefunden hatte. Wie weitsichtig dieses Handeln war! Vahle ist heute eines der innovativsten Unternehmen in Kamen, ein Vorzeigebetrieb, Weltmarktführer auf seinem Gebiet, der berührungslosen Stromübertragung. Bei all diesem Handeln stand FH unter dem immensen Druck der „Waschkauenfraktion“, die sich sorgte, daß dem Bergbau Arbeiter verloren gehen könnten, die die Arbeitsplatzkonkurrenz fürchtete. FH war der Weitsichtigere.

In diese Zeit fiel die schwierige Aufgabe des Wiederaufbaus der teilweise zerstörten Stadt. Man sollte also meinen,  damit war FH ausgelastet. Doch fand er immer noch Zeit für seine Plastiken, vielleicht brauchte er sie auch, um zwischen all den schweren Entscheidungen jener Zeit Luft zu schnappen. Sein Thema waren immer wieder die Erfahrungen seiner frühen Jahre: Bergmann, Bäuerin, Mutter mit Kind, sie alle Figuren, denen man ansah, daß sie in ihrem Leben immer kämpfen mußten. Für ihn war die Frage nie, die damals die Künstler umtrieb: figürlich oder abstrakt? Seine Erfahrungen waren konkret, sie mußten konkret dargestellt werden. Sie sollten die Lebenswirklichkeit widerspiegeln.

Bergmänner             Fritz Heitsch, Bergmann, o.D. | Bergmann, o.D.

In den 1950er Jahren traf er auch mit bekannten Künstlern unserer Region zusammen: Max Schulze-Sölde, Fritz und Eberhard Viegener, Hans Güldenhaupt, Lutz Ante, Heinz Wittler, u.a.

Als wäre es noch nicht genug, sich als oberster Verwaltungsbeamter und als ein anerkannter Künstler in Kamen zu verewigen, wurde er auch noch zum Mäzen einer jungen Künstlergeneration. Helmut Meschonat, ein entfernter Verwandter, ebenfalls aus Werries nach Kamen gekommen, Ulrich Kett und Heinrich Kemmer gründeten 1959 die Künstlergruppe „Schiefer Turm“, als deren, heute würde man sagen, Manager der umtriebige Emil Künsch auftrat. Diese drei Künstler brauchten dringend ein Atelier, in dem sie ihre großformatigen Arbeiten anfertigen konnten. Emil Künsch wandte sich mit der Bitte um Hilfe an die Stadt und fand in FH jemanden, der das Verständnis für dieses Bedürfnis sogleich in die Tat münden ließ. Jetzt wurde der Dachboden des Amtsgerichts, des heutigen Hauses der Kamener Stadtgeschichte, von den Beteiligten in Gemeinschaftsarbeit in ein Atelier verwandelt. Und weil FH an der Gruppe ein persönliches Interesse nahm, wurde er gleichzeitig Mitglied und stellte ab 1961 mit den Jungen zusammen aus.

Kinderkopf KopieFritz Heitsch, Sohn Klaus, ca. 1945

Und auch in anderer Hinsicht half er ihnen, ihren Weg in die Kunst zu finden, indem er sie mit den arrivierten Künstlern aus seiner Bekanntschaft zusammenbrachte, was ihnen immer wieder neue Impulse verlieh.

Daß er gleichzeitig auch ein guter Verwaltungschef gewesen sein muß, beweist die Tatsache, daß er 1961 für eine zweite zwölfjährige Amtsperiode als Stadtdirektor gewählt wurde. In dieser Funktion wurde er zum Vorsitzenden des Deutschen Städtebundes im Regierungsbezirk Arnsberg gewählt, er, der Sozialdemokrat, von einer CDU-Mehrheit!

Doch 1963 erlitt er einen Schlaganfall und war fortan nicht mehr in der Lage, sein Amt auszuüben. Am 28. Februar 1965 schied er offiziell wegen Erreichens der Altersgrenze aus. Seine Gesundheit hatte ihn zwar im Stich gelassen, doch von der Kunst ließ er nicht. Sie war der Trost seiner letzten Lebensjahre.

Am 28. Januar 1971 starb Fritz Heitsch in Kamen und wurde auf dem alten Friedhof an der Friedhofstraße beigesetzt.

                                                          FH Unterschrift 111kb Kopie

 

Seine Plastiken stehen heute überwiegend in privaten Sammlungen, doch sind einige auch in öffentlichen Instituten untergebracht. Sein Sohn Klaus Heitsch hat eines der für FH typischen Motive dem Kamener Haus der Stadtgeschichte geschenkt. Hier hat der „Bergmann“ seinen Platz in der Vitrine neben dem Stollen gefunden, den Kamener Bergleute hier eingerichtet haben, damit die Erinnerung an das nicht verlorengeht, was Kamen 110 Jahre lang geprägt hat, im guten wie im schlechten, der Bergbau.

KH

Johannes Buxtorf, ein Basler aus Camen

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Johannes Buxtorf, ein Basler aus Camen

Daß sein Sohn Johannes, der dem Camenser Oberpfarrer Johannes Buxtorf (andere Schreibweisen sind Boxtorp und Boxtrop) und seiner Frau Maria, geb. Volmar, am Weihnachtstage 1564 geboren wurde, ein wahres Weihnachtsgeschenk für Europa und die Wissenschaft werden sollte, war wahrhaftig nicht vorherzusehen. Dabei wurde der Kleine in eine Familie hineingeboren, die nicht nur für die damalige Zeit außergewöhnlich genannt werden muß. Die Familie wohnte in dem alten Fachwerkhaus an der heutigen Ecke Kampstraße/ Weststraße

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(damals gab es keine Straßennamen, nur Hausnummern), wo das Haus der Commerzbank steht. Das Familienwappen zeigte einen springenden Bock, der bis zum Abriß des Hauses um 1900 als Wetterfahne auf dem Dach stand. Der letzte Besitzer, ein Hugo Müller, entfernte diese Wetterfahne vom Dach, weil seine Mutter wegen der Quietschgeräusche, die sie bei Wind verursachte, nicht schlafen konnte und schenkte sie dem Kamener Stadtmuseum. Das Original gibt es dort leider nicht mehr, doch erinnert eine Kopie an das Verlorene.

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Kopie der Wetterfahne des Kamener Buxtorf-Hauses mit dem Bock,
dem Wappentier der Buxtorfs

 

Und auch der Name „Buxtorf“ ist zwar heute noch an zwei Stellen in der Stadt vertreten, doch sagt er den wenigsten etwas. In der Innenstadt gibt es die Buxtorfstraße, klein und unbedeutend, dem großen Mann so gar nicht angemessen, und in Südkamen das Buxtorfhaus, das sich durch das Männerforum zu einem bekannten Treffpunkt entwickelt hat.

Die erste Erwähnung dieses Namens finden wir in einer Urkunde „des dinstages vor sunte Johannes baptisten“ (19. Juni 1453), in der ein Johan Buxtorp den Verkauf einer Geldrente durch Brun de Vette an Dietrich Sprenge zu Camen bezeugt. Dann taucht ein Dr. jur. Severinus (auch Joachim genannt; seine Lebensdaten sind nicht überliefert) auf, der, mit Unterbrechungen, 30 Jahre lang Bürgermeister von Camen war. Daher war die Familie hier sehr angesehen und mit fast allen anderen führenden Familien in der Stadt verwandt. Das war für Severinus‘ Sohn Johannes von größtem Vorteil, als er nach 1553 als der damalige Camener Oberpfarrer an der St. Severinskirche (heute Pauluskirche) einer der Wegbereiter der Reformation in Kamen wurde. Anders als der erste, der sich in Camen zur Reformation bekannte, Hermann Hamelmann, wurde Buxtorf als angesehener Bürger der Stadt nicht der Stadt verwiesen. Erst im Laufe des 17. Jh. starb die männliche Linie der Buxtorfs in Camen aus.

Aber kommen wir zu unserem Weihnachtskind zurück. Über seine Kindheit und Jugend ist kaum etwas bekannt. Ersten Unterricht erhielt der kleine Johannes – die meisten Buxtorfs hießen Johannes, was es manchmal schwer macht, sie auseinanderzuhalten; unser Johannes wird hier, der wissenschaftlichen Tradition folgend, als JB I bezeichnet – von seinem Vater, dem Oberpfarrer, in Lesen und Schreiben unterrichtet, erhält selbstverständlich auch, wie das im Jahrhundert der Reformation in gelehrten Häusern üblich war, eine erste Einführung ins Lateinische. Schon bald schickte ihn der Vater auf das Gymnasium nach Hamm, das heutige Hammonense – Camen hatte zu der Zeit zwar bereits eine Schule, die „schola latina camensis“,  Vorläuferin  unseres heutigen Gymnasiums, doch empfahl sie sich nicht für die Studien ehrgeiziger Schüler – wo er vom Rektor Georg Fabricius mit dem Hebräischen bekannt gemacht wurde. Doch bereits nach kurzer Zeit wechselte JB I auf das Archigymnasium nach Dortmund, wo Fridericus Beurhusius sein Lehrer war. Als 1582 sein Vater starb, ging er kurz nach Camen zurück, setzte aber bald seine Studien in Marburg/Lahn fort. Schon 1584 aber ist er an der Nassauischen Hochschule in Herborn eingeschrieben, wohin ihn die seinerzeit berühmten Namen Olevianus und Piscator gezogen hatten.

Es ist offenkundig, daß ihm Bildung über alles ging. Es ist überliefert, daß er nicht, wie es wohl unter Studenten damals weit verbreitet war, ein liederliches Leben führte, sondern alle Vorlesungen regelmäßig besuchte und fleißig mitschrieb, woraus er in seinem späteren wissenschaftlichen Leben noch reichlich schöpfte.

Johann Piscator war seinerzeit der bedeutendste Hebraist und ein hervorragender Lehrer, der in JB I seinen besten Schüler fand. Dieser zeichnete sich durch Talent und enormen Fleiß aus, so sehr, daß sein Lehrer schon nach kurzer Zeit bekannte, sein Schüler sei ihm an Wissen überlegen.

Von Herborn ging es für kurze Zeit nach Heidelberg, doch schon 1588 nach Basel – er schrieb sich als Johannes Buxtorfius vuestfalus camensus ein – vor allem, um dort bei Johann Jacob Grynäus zu studieren. Auch der merkte sofort, was für einen besonderen Studenten er vor sich hatte. Daher setzte er alles daran, ihn in Basel zu halten. So wurde JB I schon ein halbes Jahr nach seiner Ankunft in Basel die Professur der hebräischen Sprache angeboten, obwohl er noch nicht einmal den Magister erworben hatte! Aber er lehnte sie ab, da er sich dafür noch nicht reif fühlte. Doch ließ er sich dazu überreden, sie vertretungsweise anzunehmen. Nach seiner Promotion am 6. August 1590 wurde er einstimmig auf diesen Lehrstuhl gewählt. Seiner Promotion zum Magister ging eine Disputation voraus, die sich mit dem Thema befaßte, ob „Tiere ganz ohne Vernunft seien oder nicht“.

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 Johannes Buxtorf in den 1590er Jahren
 

Von nun an war alles im Leben des JB I darauf angelegt, Basler Bürger zu werden. Nur noch ein letztes Mal besuchte er seine Heimatstadt Camen. Im September 1593 fuhr er „mit günstigem Wind von Basel nach Köln“ und suchte dann zu Fuß seine Heimat auf. Aber schon am 1. Dezember 1593 kehrte er wohlbehalten nach Basel zurück. Anfang 1594 heiratete er Margaretha, die Tochter der in Basel bekannten Familie Curio, bei der er seit 1588 gewohnt hatte. Wie weltlich dieser uns so durchgeistigt erscheinende Mann handeln und denken konnte, geht aus einem Brief hervor, den er einem Freund schrieb: „… endlich, am 10. dieses Monats Januar fiel die ersehnte Beute in meine Netze: ich stürmte heran, riß sie an mich und sagte: Du allein gefällst mir.“ Mit ihr bekam er 11 Kinder, 5 Söhne – 3 von ihnen als Drillinge, die bald starben – und 6 Töchter. Und alle überlebenden Kinder vernetzten die Buxtorfs weiter in Basel, indem sie in angesehene Basler Familien einheirateten. Nicht minder pragmatisch war die Familie Curio eingestellt. Bevor der Vater der Heirat zwischen seiner Tochter und Johannes Buxtorf zustimmte, erkundigte er sich bei einem von dessen Verwandten, Dr. Joachim Buxtorf, der Kanzler des Grafen von Waldeck war, nach Johannes‘ wirtschaftlicher Situation. Heiraten war damals nicht zuallererst eine Frage der Liebe, man mußte die Sicherheit des noch nicht existierenden Wohlfahrtsstaates privat planen.

JB I hatte eine große Familie zu ernähren, 13 Personen, dazu kam eine Magd, so daß Geld immer knapp war. Als er einmal 300 Gulden aus den Niederlanden erhielt, bedankte er sich, erwähnte aber auch: „Wenn einer hier die Last von hundert Eseln auf sich bürdete, so wird ihm gleichwohl nicht mehr zu Lohn als einem Esel.“ Und das Haushaltsgeld wird weiter verknappt durch JBs I Leidenschaft für Bücher, die sich mit dem Hebräischen, mit rabbinischen und talmudischen Schriften befaßten. Diese Bibliothek war so umfangreich, daß die Familie sie 1705 für 1000 Taler an die öffentliche Bibliothek in Basel verkaufen konnte. Wie sehr diesen großen Gelehrten die Alltagssorgen drückten, geht aus seiner Antwort an den Rektor der Akademie von Saumur, Robert Boduis, hervor, der JB I unter allen Umständen an seine Hochschule holen wollte und ihm praktisch zusagte, JB I könne seine eigenen Bedingungen formulieren. Seine Einwände betreffen Einkommen, Schwierigkeiten beim Umzug aus der sicheren Stadt Basel mit allen ihm vertrauten Umständen wie der deutschen Sprache und den ihm bekannten Lebensverhältnissen. So schreibt er explizit: „In unserem Deutschland sorgt man bei Geistlichen und Universitätslehrern fast überall außer dem Gehalt für freie Wohnung und ein gewisses Quantum an Getreide und Wein. In diesen Stücken ist mir die in Frankreich herrschende Sitte unbekannt und ebenso der Maßstab, der für den Aufwand der Akademiker gilt.“ Er wird für immer in Basel bleiben, obwohl ihn noch mancher ehrenvolle Ruf an andere Universitäten erreicht. Und Basel unternimmt auch viel, um ihn zu halten. Sein Leben wird ihm vereinfacht, sein Gehalt steigt, so daß er dann doch ein sorgenfreies Leben führen kann.

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Buxtorf-Haus in Basel, „Zum St. Johannes”, Bäumleingasse 9

Mitte der 1590er Jahre beginnt eine unglaubliche Schaffensperiode. Wie sein Freund Johan Tossanus bemerkte, arbeitete JB I bis zu 14 Stunden am Tage wissenschaftlich. Dazu kommen aber noch viele Arbeitsstunden aus der Erfüllung seiner vielen Ämter, die er im Laufe seiner Jahre in Basel bekleidete: Präpositus (Vorsteher) und Ökonom des Oberen Kollegs, acht Mal Dekan der philosophischen Fakultät, 1614/1615 Rektor der Universität, oft Vertrauensperson zur Vertretung der Universität in öffentlichen Angelegenheiten. Und sein Briefverkehr mit allen Autoritäten der Theologie und des Hebräischen, mit Rabbinern in ganz Europa wie auch mit zahllosen Menschen, die ihn in Fragen ihres Glaubens konsultierten, füllt Bibliotheken und stellt heute eine wertvolle Quelle für Zeitstudien dar. Woher nimmt ein Mensch nur diese Energie?

Von nun an war Basel das Zentrum der hebräischen Studien in Europa. Hier war jetzt der größte akademische Lehrer des Hebräischen zu Hause, was schon sehr viel galt. Doch war der Forscher JB I, der Wissenschaftler, unübertroffen. Hier saß die in Europa höchste Autorität in Fragen jüdischen Glaubens, selbst für jüdische Gelehrte. So wurde er auch „rabbinorum magister“ genannt. Hier schrieb er Werke, die jahrhundertelang Standardwerke ihrer Disziplin waren. Zeitgenossen aus seinem Fach beklagten sich gar, daß JB I „in Betreff des Ausbaues jener Wissenschaft […] nichts zu thun übrig gelassen“ hat. Hans Jürgen Kistner, der ehemalige Kamener Stadtarchivar, berichtet, daß Bonner Theologiestudenten noch in den 1980er Jahren Buxtorfsche Wörterbücher benutzten. JB I war nichts weniger als der Begründer der jüdischen Studien in Deutschland und in Europa, derjenige, der ad fontes ging.

Worin aber besteht denn nun die wissenschaftliche Bedeutung des JB I aus Camen?

Dazu muß man sich erst einmal die Situation im Jahrhundert der Reformation klarmachen. Luther wies der Heiligen Schrift eine ganz neue Bedeutung zu, indem er postulierte, daß sie allein die Grundlage allen Glaubens sein müsse, der Mensch durch sie direkten Zugang zu Gott habe. Aber da wurde die Lage kompliziert.

Die damals maßgebliche Grundlage der christlichen Kirche war eine griechische Übersetzung des hebräischen Alten Tetsaments (AT), die Septuaginta. Daraus gingen für die Westkirche mehrere lateinische Tochterübersetzungen hervor. Aus einer dieser Tochterübersetzungen und der hebräischen Fassung verfertigte der Kirchenvater Hieronymus um AD 400 eine neue lateinische Bibelübersetzung, die Vulgata, noch heute die gültige Bibel der römisch-katholischen Kirche. Erst Luther griff mit seiner Übersetzung auf die hebräische Bibel Jesu und seiner Jünger zurück. Nun ist aber jede Übersetzung immer auch eine Interpretation, daher ergeben sich zwangsläufig, zusätzlich zu dogmatischen Aspekten, Unterschiede im Verständnis der Hl. Schrift. Hinzu kamen damals die Probleme zwischen Judentum und Christentum. Beide Seiten beriefen sich auf die Hl. Schrift, die Christen auf die griechische, die Juden auf die hebräische Fassung. Und für die einen waren die Juden die Mörder des Heilands, für die anderen Jesus ein gehenkter Verbrecher. Schwer vorstellbar, wie man da zueinander finden sollte.

Mit der hebräischen Bibel hatten sich vor Luther anderthalb Jahrtausende lang ausschließlich jüdische Gelehrte beschäftigt, in dem Versuch, eine eindeutig verständliche Fassung dieses Textes herzustellen. Was für uns seltsam klingt, hat doch einen einfachen Grund. Im Hebräischen werden nur die Konsonanten, nicht die Vokale geschrieben, weswegen es nur für denjenigen lesbar ist, der es gut beherrscht. Jedoch existierte das Hebräische als lebende Sprache schon zur Zeit Jesu Geburt nicht mehr, nur noch in der schriftlichen Überlieferung. Stephen G. Burnett, der JB I am gründlichsten studiert hat, brachte in seinem Vortrag in Kamen im Jahre 2001 ein einleuchtendes Beispiel: „Wenn man z.B. die Konsonanten MTR ohne Vokale als deutsches Wort schreibt, könnte das «Motor», «Mieter» oder sogar «Mutter» sein. Aber welches Wort ist denn nun hier gemeint? Deshalb ist diese Frage von Vokalen von höchster Bedeutung für die Schriftauslegung.“

JBs I Bestreben war es in allem, „die Unversehrtheit und unbedingte Zuverlässigkeit des hebräischen Bibeltextes einschließlich der Vokalisation zu erweisen, die darum die Benutzung der Septuaginta und der Vulgata, auf die sich die Katholiken beriefen, unnötig mache.“

JBs I große Leistung bestand darin, daß er es schaffte, das ganze Material, das jüdische Gelehrte vor ihm erarbeitet hatten, zu sammeln, zu systematisieren und auf das philologisch-wissenschaftliche Niveau zu heben, auf dem sich die Darstellung der griechischen und der lateinischen Grammatik befand, es in die humanistische Tradition der europäischen Sprachwissenschaft zu stellen, die in der Renaissance entstanden war. Er erarbeitete eine neue Grammatik und ein neues Lexikon des Hebräischen und des Aramäischen, der Sprache Jesu. Diese Werke blieben jahrhundertelang für die wissenschaftliche Erforschung des AT von hoher Bedeutung. Er führte in ihrer Gesamtheit die Bibeltexte und die überlieferten jüdischen Auslegungen dieser Texte zusammen. Speziell diese Werke waren jahrhundertelang Standardwerke und wurden durch spätere Forschung kaum übertroffen. Sie sind hinsichtlich ihrer Vollständigkeit kaum wieder erreicht worden.
 

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Frontispiz von Buxtorfs Lexicon Hebraicum et Chaldaicum
 

JBs I große Arbeiten lassen sich in drei Klassen einteilen. Erstens: Werke zur Grammatik und Lexik des hebräischen und aramäischen Sprachgebrauchs. Zweitens: Werke zum Bibeltext und seine rabbinischen Ausleger. Drittens: Werke zu den religiösen Aspekten des rabbinischen Judentums. JB I war der erste, der eine Bibliographie der jüdisch–hebräisch–rabbinisch–talmudischen Literatur erstellte, eine bahnbrechende Arbeit, für die er zu großen Teilen auf seine eigene, überragende Bibliothek zurückgreifen konnte.

Hier seine wichtigsten Werke: Manuale Hebraicum et Chaldaicum, 1602; Synagoga Judaica: das ist Juden-schul, 1603, seine einzige Veröffentlichung auf Deutsch;

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Synagoga Judaica: das ist Juden-Schul

Praeceptiones Grammaticae de Lingua Hebraica, 1605, später unter dem Titel Epitome grammaticae Hebraicae noch viermal von Buxtorf selber und sechzehnmal von anderen herausgegeben; Lexicon Hebraicum et Chaldaicum, 1607; Thesaurus Grammaticus Linguae Sanctae Hebraicae, 1609; Concordantiae Bibliorum Hebraicae, die aber erst 1632 veröffentlicht wurden; er fing das große Lexicon chaldaicum, talmudicum et rabbinicum an, das erst sein Sohn JB II vollenden konnte, ein Werk in dem die Arbeit zweier Forscher über 30 Jahre hinweg steckt, 1639 (was besonders betont wird: OPUS XXX ANNORUM steht auf dem Frontispiz) .

Im Haus der Stadtgeschichte Kamen gibt es eine Ausgabe des „Lexicon chaldaicum, talmudicum et rabbinicum“, Sumptibis & typis Ludovici König, Basileæ; M DC XXXX.

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Die Kamener Ausgabe des „Lexicon Chaldaicum, Talmudicum et Rabbinicum,
Frontispiz und zwei Seiten
 Juden hatten es in Europa schwer, seit Papst Innozenz III 1215 von Thomas von Aquin die Lehre der „Erbschuld der Juden“ übernahm. Damit waren diese praktisch rechtlos, konnten sich nur durch hohe Bargeldzahlungen private Sicherheit erkaufen, als „Schutzjuden“. Solch ein Fall ist für Kamen für 1348 belegt, das Jahr, in dem in ganz Europa die ersten großen Judenpogrome wüteten, weil man sie am Ausbruch der Pest für schuldig hielt. Graf Engelbert III von der Mark stellte einem Juden Samuel einen Schutzbrief nach Unna aus, auf 7 Jahre befristet, gegen 8 Schillinge pro Jahr. Angesichts solcher Umstände waren solide Kenntnisse über das Judentum praktisch nicht vorhanden.

Hinzu kommt die Zeit, das 16. Jh., 80 Jahre nach der Reformation, 20 Jahre vor Beginn der Europa verheerenden Religionskriege. Überall wurde um den „rechten Glauben“ gerungen. Der einzelne durfte sich diesen aber nicht selber aussuchen, da war das „cuius regio, eius religio“ (in wessen Land ich wohne, dessen Glaube nehme ich an) des Augsburger Religionsfriedens von 1555 schon ein großer Fortschritt.

Als JB I sich für seine „Juden-Schul“ mit dem Judentum, seinen Schriften und deren Exegese sowie den Sitten und Gebräuchen im täglichen Leben beschäftigte, betrat er absolutes Neuland. Seine Haltung war die des Wissenschaftlers und Theologen. Und entsprechend war nicht Völkerverständigung sein Ziel, sondern die Widerlegung des jüdischen Glaubens und die Bekehrung der Juden zum Christentum. Seine Wißbegier jedoch trieb ihn dazu, engen Kontakt zu Juden zu suchen. Einmal lud er Juden zu sich nach Hause ein, nahm an einem Beschneidungsfest teil, was ihn ein Jahresgehalt an Strafe kostete. Das nahm jemand in Kauf, der immer auch an seine Finanzen dachte! Aber daß auf eine solche Handlung in einer europäischen Stadt wie Basel eine solch drakonische Strafe stand, zeigt deutlich auf, welche Stellung die Juden damals hatten.

Und JB I formuliert seine Ziele und Absicht denn auch ganz deutlich im Titel seiner „Juden-Schul“: „Darinnen der gantz Jüdische Glaub vnd Glaubens-Übung mit allen Ceremonien / Satzungen / Sitten vnd Gebräuchen / wie sie bey jhnen offentlich vnd heimlich im Brauche: Auß ihren eygenen Bücheren vnd Schrifften / so den Christen mehrteils vnbekandt / vnd verborgen seynd / grundlich erkläret: Item ein Außführlicher Bericht von jhrem zukünfftigen Messia: Sampt einer Disputation eines Juden wider einen Christen: darinnen der Christlich Glaub beschirmet / vnd der Jüdisch Vnglaube widerleget vnd zu Boden gestürtzet wird.“  Allerdings geht hieraus auch klar hervor, daß für JB I das Judentum nicht auf der Bibel, sondern auf dem Talmud beruht, womit die Parallele zum Verhältnis zwischen Schrift und Tradition im römischen Katholizismus gegeben ist. Vor allem aber war er an allem Jüdischen selbst interessiert: der schriftlichen Grundlage und den Auswirkungen im täglichen Leben.

 

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Buxtorf I, Johannes, aus Kamen in Westfalen begründete eine Gelehrten-Dynastie, wie es sie vielleicht kein zweites Mal gegeben hat, Hebraist in Basel, Dekan und Rektor der Universität;

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Buxtorf II, Johannes, sein Sohn, kam schon mit vier Jahren auf die öffentliche Schule, mit 13 auf die Universität, wurde mit 16 zum Magister promoviert, der Nachfolger seines Vaters als Hebraist auf dem Lehrstuhl, erhielt eine theologische Professur, die extra für ihn geschaffen wurde. JB II beschäftigte sich mit Schriften spanischer Juden und übersetzte als erster ein Werk von Judah Ha-Levi unter dem Titel „Liber Cosri“. Darin wird über den Volksstamm der Khasaren berichtet und in diesem Zusammenhang über einen Religionsdisput, der die Ringparabel zum Thema hat. Damit erscheint es möglich, daß Gotthold Ephraim Lessing über sein Studium des Moses Mendelssohn auf Buxtorfs Übersetzung aufmerksam wurde und JB II auf diese Weise die Inspiration zu seinem dramatischen Gedicht „Nathan der Weise“ mit der berühmten Ringparabel wurde. (Anm. d. Verf.: Der Besitz des Rings macht den Erben der wahren Religion kenntlich, doch läßt ein Vater, der keinen seiner drei Söhne enterben will, zwei Ringe nachmachen, so daß jeder einen Ring erhält, und der echte nicht mehr zu erkennen ist. Nun liegt es an jedem einzelnen, seinen Ring zu dem echten zu machen. So wird die prinzipielle Gleichwertigkeit der drei großen monotheistischen Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam deutlich.)

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 Buxtorf III, Johannes Jacob, Sohn des JB II, erregte als Achtjähriger für seine Kenntnis des Hebräischen die Bewunderung der Gelehrten, kam mit 14 auf die Universität, vertrat seinen Vater in der Professur der hebräischen Sprache mit 19 Jahren, wurde sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl;

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Buxtorf IV, Johannes, Neffe des JB III, hat bis 1732 als Professor in Basel gewirkt.

142 Jahre lang hatte diese eine Familie den Lehrstuhl für Hebraisik in Basel inne. Und noch bis 1969 gab es einen Professor Dr. Buxtorf für Geologie an der dortigen Universität.

Der Wissenschaftler JB I war ein gläubiger Christ. Hier der Bericht über die letzten Tage in seinem Leben: „Im Jahre 1629 wütete in Basel die Pest. Am 7. September des Jahres zeigten sich bei Buxtorf die ersten Anzeichen der Erkrankung, die am folgenden Tage zum Ausbruch kam. Als ihn, der unbeirrt an dem Manuskript weiterarbeitete, das sein Sohn später fertiggestellt hat, dieser über sein Befinden befragte, gab er ruhig zur Antwort: «Mir geht es gleich, ob ich abgerufen werde oder leben bleibe. Ich habe lange genug gelebt. Wenn Gott will, daß ich ihm länger diene, will ich es gern tun, um der Kirche und der Wissenschaft zu nützen.Sonst aber, aus irdischen Gründen, begehre ich auch nicht einen Moment länger zu leben. Wenn Gott will, geschehe sein Wille.» Wie der Antistes (Anm. d. Verf.: in der Schweiz reformierter Oberpfarrer) Johann Wolleb in der Leichenrede bezeugt, war «all sein tun während der Krankheit darin gerichtet, daß er Gott für seine Heimsuchung gedankt und sich in seinen heiligen Willen ergeben, mit Vermelden, er wolle nicht tun, wie die, welche vom Herrn fliehen, sondern er wolle zu ihm fliehen.»

Am 9. September 1629 stand Johannes Buxtorf um drei Uhr früh auf, um in der Konkordanz (Anm. d. Verf.: d.i. eine alphabetische Zusammenstellung von Wörtern und, in diesem Falle, Untersuchung des Inhalts der, hebräischen, Bibel mit ihren Übersetzungen auf Übereinstimmungen und Unterschiede) die Stellen mit dem Namen Adonay (Anm. d. Verf.: Anrede Gottes im AT), die bisher noch fehlten, abzuschließen. Sein Freund Tossanus sagte später in seiner Gedenkrede: „So hat er seine Lebensarbeit, die er im Namen Gottes begonnen, dem er sein ganzes Leben gedient, buchstäblich mit dem Namen Gottes geschlossen.“

Am 13. September 1629, nachmittags gegen zwei Uhr, starb Johannes Buxtorf aus Camen in Westfalen bei vollem Bewußtsein. Seine letzte Ruhestätte fand er im Kreuzgang des Basler Münsters. Dort hängt eine Tafel: „Johanni Buxtorfio, Cameni Westfalo, linguae sanctae in Basileo Athenaeo professori“ (Johannes Buxtorf aus Camen in Westfalen gewidmet, dem Professor der heiligen Sprache an der Universität Basel).

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Epitaph für Johannes Buxtorf aus Camen im Kreuzgang des Basler Münsters,

den Begründer der Gelehrtendynastie auf dem Lehrstuhl für Hebraistik an der Universität Basel

KH

 

Ich verdanke die Kenntnis obiger Angaben folgenden Schriften (Dank an J. Dupke vom Stadtarchiv Kamen, der sie mir zusammenstellte):

E. Kautzsch, Johannes Buxtorf der Ältere, Rectoratsrede gehalten am 4. November 1879 in der Aula des Museums zu Basel, Basel 1879

St. G. Burnett, Johannes Buxtorf Westphalus und die Erforschung des Judentums in der Neuzeit, Vortrag gehalten am 11. Juli 2001 in der Sparkasse Kamen

J. Herrmann, Johannes Buxtorf aus Kamen, Vortrag zur Siebenhundertjahr-Feier  der Stadt Kamen, gehalten am 27. Juli 1948

Besonderen Dank schulde ich Herrn Dr. Christoph Buxtorf, Basel, der  bereitwillig meine Fragen beantwortete und mir zusätzliches Material zusandte:

R. Smend, Vier Epitaphe – die Basler Hebraisten-Familie Buxtorf, Berlin/New York 2010

Das Familienverzeichnis der heutigen Buxtorfs, „Who is Who“, dem ich entnehmen konnte, wie sich die Eminenz des ersten Buxtorfs durch die Jahrhunderte erhielt, aber diversifizierte. Unter den nachfolgenden Generationen gab es viele weitere Professoren, Ratsherren, Oberstzunftmeister, einen Basler Bürgermeister, Landvögte, Stadtmedici und führende Industrielle (ein Buxtorf ist Mitbegründer der chemischen und pharmazeutischen Industrie Basels).

Die Rechtschreibung in den Zitaten folgt den jeweiligen Quellen, wird an einigen Stellen aber geglättet.

Abbildungen: Stadtarchiv Kamen, Andi Hindemann, Dr. Christoph Buxtorf, Wikipedia, Klaus Holzer

 KH

Das 8. Zeitzeichen – „Kopfbuchen“

Borys Sarad

Photo: Borys Sarad

von Klaus Holzer

8. Zeitzeichen des KKK

Am Donnerstag, 13. November 2014, fand im Haus der Stadtgeschichte in Kamen das 8. Zeitzeichen des Kulturkreises Kamen statt. Heribert Reif, bis Januar 2014 Leiter des Botanischen Gartens Rombergpark in Dortmund sprach über „Kopfbuchen – zum Geschichtsverständnis früherer Waldnutzung“. Mit tiefer Kenntnis und voller Begeisterung referierte Heribert reich über Holz– und Waldnutzung während der letzten anderthalb Jahrtausende. Und er wußte Erstaunliches zu berichten.

Wer von seinen Zuhörern wußte schon, daß

… bereits Karl der Große eine erste Waldschutzsatzung erließ, weil er die Bedeutung von Holz zum Bauen, Heizen, Kochen und für den Waffenbau erkannt hatte?

… sich anhand der Bepflanzung vom Gardasee übers Piedmont bis in die Toskana deutsche Siedlungsspuren nachweisen lassen? (Die germanischen Fürsten hatten, als sie zur Völkerwanderungszeit nach Italien zogen, in ihrem Troß eben auch Bauern und Handwerker dabei, die im fremden Land genau das taten, was sie von zu Hause kannten?)

… die mangels Geschichtskenntnissen heute oft banal Monsterbäume oder –wälder genannten Anpflanzungen das Ergebnis bäuerlicher und forstwirtschaftlicher kultureller Leistung sind? (Ausgewachsene Buchen zu fällen, war früher viel mehr als heute härteste Knochenarbeit, gab es doch keine Motorsäge. Daher war es sehr wirtschaftlich, die Bäume in ca. zwei oder zweieinhalb Metern Höhe zu schneiden und statt der dicken Stämme die dann von hier aus gewachsenen jungen Äste zu ernten, sobald sie die richtige Dicke hatten. Das Sägen wurde leichter, und das Spalten entfiel. Und unter der Höhe von zwei Metern ging das nicht, weil das frei weidende Vieh sonst die frischen Triebe abgefressen hätte. Für die Tiere blieben aber die seitlich aus der Wurzel wachsenden Triebe als Futter. Baumäste sind übrigens vorteilhaft für die Gesundheit der Tiere.)

… die Linde der Baum der Franken war, der regelmäßig alle 10 – 15 Jahre in Form geschnitten wurde, wovon es noch heute Beispiele am Niederrhein und im Oberbergischen gibt?

…die Eiche ursprünglich vor allem nördlich der Lippe (seit vielen Jahrhunderten eine geographische, ethnische, politische und religiöse Grenze) und in Ostwestfalen und im Lippischen angepflanzt wurde, also im Gebiet der Sachsen, und nicht beschnitten wurde, sondern frei wuchs? (Karl zwangschristianisierte die Sachsen bekanntlich vor 800 und eroberte dabei ihr Land, was dann für die weitere Verbreitung des „sächsischen“ Baumes sorgte.)

… Bäume, wenn sie regelmäßig beschnitten und somit zu neuem Austrieb animiert werden, viel älter werden als ihre unbeschnittenen Nachbarn?

… kein Baum älter als ca. 800 Jahre wird, auch wenn immer wieder von „tausendjährigen“ Eichen usw. die Rede ist? (Die 1000 Jahre sind leicht zu erklären, wenn man die Erinnerungsspanne des Menschen zugrundelegt: drei, höchstens vier Generationen, deutlich unter 100 Jahren. Diese „tausendjährigen“ Bäume bleiben immer tausendjährig.)

… die Linde der Baum der Frau ist, in matriarchalischen Gesellschaften dominierte? Der Baum Marias, weil ihre Blattform an ein Herz erinnert? Der Gerichtsbaum wurde, weil auch Justitia eine Frau ist?

… die Eiche der männliche Baum ist, in patriarchalischen Gesellschaften vorherrschte?

… in Ostwestfalen/Lippe die Linde in manchen Gegenden in ca. zwei Metern Höhe beschnitten wurde, damit man die neuen Triebe so biegen und wachsen lassen konnte, daß darauf ein Gerichtsraum eingerichtet werden konnte? (Die Seitentriebe wurden miteinander verflochten, so daß ein Baumhaus entstand.)

Vieles mehr wußte Heribert reif zu berichten, immer hoch interessant, fesselnd erzählt, das meiste neu, wenngleich mancher ihm nicht immer folgen mochte, so z.B. bei den Ausführungen des Referenten zu den Gründen für die Reformation. Da bleibt so mancher wohl doch eher bei der orthodoxen Deutung.

Über eineinhalb Stunden dauerte der Vortrag, doch niemand ging vorzeitig. Heribert Reif hatte seine Zuhörer in seinen Bann gezogen.

KH

Westfälische Kulturkonferenz 2014 in Höxter

Westfälische Kulturkonferenz 2014

Am Freitag, 26. September 2014 fand in der Residenz Stadthalle Höxter die Westfälische Kulturkonferenz 2014 des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe statt. Eröffnet wurde sie von Matthias Löb, dem neuen LWL-Direktor, den Standpunkt der Landesregierung zu Kultur vertrat Ministerin Ute Schäfer, das Engagement des LWL für Kultur erläuterte Dr. Barbara Rüschhoff-Thale, LWL-Kulturdezernentin. Als einer von 387 Delegierten vertrat Klaus Holzer den Kultur Kreis Kamen.

Das Thema der Konferenz war: Wie kann es gelingen, die Bürger an der Kulturplanung und –durchführung zu beteiligen? Ist das überhaupt wünschenswert?

Die zweite Frage wurde eindeutig bejaht, von Ehrenamtlern, Politikern und dem LWL. Ohne eine gleichberechtigte Beteiligung von Bürgern an allen kulturellen Prozessen bleibt Kultur leblos, spielt sich nur in der Nische ab und wird kaum wahrgenommen, kann also auch keine große Wirkung entfalten, da sie eben nicht mehr einfach vorausgesetzt werden kann, wie das beim Bildungsbürgertum noch der Fall war, während heute neue Schichten für Kultur erschlossen werden müssen. Und „gleichberechtigt“ bezieht sich auf alle Institutionen, die sich mit Kultur befassen, also LWL, Politik und Verwaltung in Stadt und Kreis.

Mit der ersten beschäftigte man sich ausführlich. Dazu wurde es als unabdingbar erachtet, aus den gewohnten Denkschemata auszubrechen, was besonders Politik und Verwaltung schwerfällt, gehört dazu doch vor allem, Macht abzugeben, vorhandene Strukturen zu hinterfragen. Es müssen die Potenziale von Künstlern aller Art (Malerei, Skulptur, Musik, Tanz etc.) wie auch von Ehrenamtlichen erforscht und eingesetzt werden. Diese müssen von Anfang an in die Planung eingebunden und an der Umsetzung beteiligt werden. Diese Potenziale müssen weiterentwickelt werden, dabei darf es keine Denkverbote geben. Und vor allem: Stärken müssen erkannt und verstärkt werden. Der Begriff „Kultur“ müsse erweitert werden, junge Leute müssen an Kultur herangeführt werden.

Oft bringen Bürgermeister und Verwaltungen das Argument vor, es sei kein Geld vorhanden, die sozialen Kosten, gesetzlich verankert, fräßen Rücklagen auf. So richtig das sein mag, war man sich auf der Konferenz doch einig, daß Sozialkosten nicht gegen Kulturinvestitionen aufgerechnet werden dürfen, weil mehr Kultur ausufernde soziale Folgekosten vermeide. Mehr Bildung und Kultur wirken als Prävention vor späteren sozialen Reparaturkosten (vgl. die NRW-Landespolitik und ihre Begründung für mehr Investitionen in Kindergärten und Schulen).

Um Kulturarbeit zu breiter Akzeptanz zu verhelfen, muß sie sichtbar gemacht werden. Dazu braucht es eine Kulturdatenbank, z.B. vom Kulturamt einer Stadt erstellt, die alle in der Kultur Tätigen erfaßt, die so voneinander erfahren und zur Zusammenarbeit finden können; die den Bedarf an Kultur erfaßt, um Probleme bewältigen zu können (Musiker, Tänzer, bildende Künstler z.B. brauchen einen Proben– oder Malraum); die Transparenz schafft, was erfahrungsgemäß zu weniger Vorbehalten in der Öffentlichkeit gegenüber aller Art von Kultur führt.

Für ganz wichtig wurde der Kulturwirtschaftsbericht gehalten, der, wissenschaftlich begleitet, zu der Erkenntnis beiträgt, daß mehr Ausgaben für Kultur Investitionen sind, die sich auf mittlere Sicht auszahlen, und die nicht konsumtiv sind.

Vertreter der Kulturpolitik und –verwaltung aus vielen Städten, Kreisen und Institutionen waren gekommen, KH war aus Kamen der einzige.

KH

Raum der Erinnerung

„Raum der Erinnerung“

DEZMUS 2

Wir leben in einer globalisierten Welt, in der dem Einzelnen hohe Mobilität abverlangt wird: Wenig ist von Dauer, der Wandel ist stetig. Die früher übliche lebenslange Bindung an eine Stadt, einen Arbeitsplatz, scheint obsolet. Gerade die junge Generation, mit dem Internet aufgewachsen, findet es immer schwerer, Wurzeln zu schlagen. Ihre Welt ist oft nur noch die virtuelle Welt. Es wird immer schwerer, dauerhafte Bindungen einzugehen.

In dieser Situation ist zu beobachten, daß mehr und mehr Menschen offenbar das Bedürfnis haben, sich an ihre Herkunft zu erinnern, sich ihrer zu vergewissern. Es besteht ein starkes Interesse an Familienforschung, der Herkunft und Bedeutung des eigenen Namens, an Heraldik (Familien legen sich wieder Wappen zu) und Stadt– wie auch Regionalgeschichte (Gesprächskreise wie die Kamener Arche oder Bergkamener Zeitzeugen u.a.), Heimat– und Geschichtsvereine haben Zulauf, Archive öffnen sich einer zunehmend interessierten Öffentlichkeit.

Dieser Strömung will der Kultur Kreis Kamen im Rahmen eines Projekts eine Stimme geben. Arbeitstitel:

„Raum der Erinnerung“

(weitere mögliche Titel: „Zeitinseln“ oder „Geschichte/Vergangenheit/Erinnerung im Schuhkarton“)

DEZMUS 1

Hier soll Erinnerung persönlich verstanden werden. Es geht nicht um die „große“ Geschichte wie Kriegserklärungen, Schlachten, das Verhältnis von Staaten zueinander, sondern darum, wie der Einzelne seine Erinnerung an die Vergangenheit mit konkreten Dingen füllt. Das kann sein:

  • eigene oder in der Familie aufbewahrte und weitergereichte Tagebücher
  • Photos
  • verschickte Postkarten (z.B. aus dem ersten Italienurlaub, mit Touropa hingefahren)
  • altes Gerät, das in der Familie eine Rolle gespielt hat (z.B. das Waffeleisen aus der Kindheit, die Wärmflasche usw.)
  • die Fahrkarte des (ersten) Gastarbeiters in Kamen in die neue Heimat oder die für seine (erste) Reise zurück in die alte Heimat
  • die Schreibmaschine, auf der die (erste) Geschichte/das (erste) Gedicht geschrieben wurde, inzwischen durch einen Rechner ersetzt
  • das Glöckchen, das Kinder an Heiligabend zur Bescherung rief
  • Weihnachten, wie es in der Erinnerung fortlebt
  • Familienbräuche im Wandel der Zeit
  • der Koffer, mit dem jemand als Flüchtling in Kamen ankam
  • die Zeitung, die ein besonderes Datum für die Stadt markiert
  • das erste Handy/der erste Rechner und wie sich das Leben dadurch veränderte
  • Schulzeugnisse mit Fächern, die es nicht mehr gibt (z.B. Schönschreiben und ein Heft dazu)
  • das Buch, das einem Soldaten während der Kriegsjahre zum Trost diente, ihm half, zu überleben
  • die Decke, in die jemand als Kind eingehüllt war, als die ganze Familie zusammen mit Nachbarn wegen Bombenalarms ganze Nächte im Keller/Luftschutzbunker zubringen mußte
  • der Brief, den ein ehemaliger Kriegsgefangener oder Zwangsarbeiter an z.B. einen hiesigen Bauern schickte und in dem er ihm für gute Behandlung dankte
  • ein Souvenir aus dem ersten Urlaub

Und immer sind diese Dinge mit wichtigen Augenblicken oder Ereignissen im Leben einzelner verknüpft. Es lohnt sich, den Versuch zu unternehmen, solch einen „Raum der Erinnerung“ in Kamen zu schaffen. Genügend Häuser in der Altstadt, die vor dem Verfall stehen, gibt es (vgl. a. gesonderten Artikel „Dezentrales Museum“).

KH

Ein dezentrales Museum für Kamen!

Der Kultur Kreis Kamen regt an, in Kamen ein dezentrales Museum einzurichten. Es gibt in der Stadt Kamen relativ viele Leerstände. Alte Bausubstanz in der Kirchstraße, Weststraße, Oststraße, Nordenmauer, Am Geist und andernorts steht vor dem Verfall, ihr Abriß ist absehbar.

 

Nordenmauer 29 2 Kopie

Dem KKK schwebt ein dezentrales Museum für Kamen vor. Das bedeutet, daß im Museum an der Bahnhofstraße durch die Auslagerung einzelner Abteilungen in leerstehende Häuser in der Stadt Platz für eine bessere Präsentation der umfangreichen Bestände geschaffen werden könnte.

Kirchstraße 10 Kopie

Es ist vorstellbar, daß etwa die traditionsreichen Handwerke in Kamen, z.B. Schuhmacher und Leineweber, je ein eigenes Haus bekommen, wo sie in etwa der alten Art präsentiert werden könnten. Gleiches gilt für die Erinnerung an den Bergbau, die Germanen. Der im Haus der Stadtgeschichte freiwerdende Platz könnte anderweitig genutzt werden, z.B. auch, um aus dem umfangreichen Bestand des Archivs die „Urkunde des Monats“ der Öffentlichkeit vorzustellen. Zusätzlich könnte der Eingangsbereich publikumsfreundlicher gestaltet werden (Café, Museumsladen). Selbst eine Touristen-Information fände noch Platz. Solche Häuser könnten an einzelnen Tagen pro Woche geöffnet sein und während dieser Zeit von Handwerkern, die sich mit alten Arbeitsweisen auskennen, betreut werden. Diese Arbeitsmethoden könnten demonstriert werden, Schulklassen (und andere) würden Dinge erfahren können, die dabei sind auszusterben. Des weiteren lassen sich in diesen Häusern viele weitere Veranstaltungen oder auch Mitmachaktionen für Schulklassen organisieren.

Am Geist 2 Kopie

Es möge hier genügen, darauf hinzuweisen, daß sich noch viele weitere Möglichkeiten ergeben werden, sobald solche Häuser in Betrieb genommen werden. Auf diese Weise könnten vom Abriß bedrohte Häuser in der Innenstadt gerettet und zu Schmuckstücken werden, Leerstände verhindert und mehr Leben in die Stadt gebracht werden. Diese Gebäude könnten eventuell auch Vereinen als Vereinsheime zur Verfügung gestellt werden, z.B. gegen die Auflage, sie zu pflegen und für die im Laufe der Zeit notwendig werdenden Reparaturen zu sorgen, zunächst mietfrei, später gegen eine maßvolle Jahresmiete. Diese Häuser könnten durch die Stadt angekauft werden. Gleichzeitig sollte es gelingen, große Teile der Kamener Industrie und des Handwerks hinter der Idee zu versammeln und sie zu bewegen, die Renovierung zu übernehmen. Durch eine geeignete Konstruktion wären diese Kosten steuerlich absetzbar. Erwünschter Nebeneffekt (oder Voraussetzung?) wäre ein höherer Grad der Identifizierung dieser Unternehmer mit ihrer Stadt Kamen. Im günstigsten Fall führte dieses Vorhaben zu einer breiten Bewegung auch in der Bürgerschaft. Das bedarf großer Anstrengungen seitens aller am Wohle der Stadt interessierten Stellen: Politik und Verwaltung, Vereinen, Gruppierungen und einzelner Bürger. Schwer, aber nicht unmöglich, wenn alle an einem Strang ziehen.

(Photos: KKK)

KH
Der Gedanke „Ein dezentrales Museum für Kamen“ läßt sich wunderbar weiterspinnen. Seit 80 Jahren ist bekannt, daß es in Kamen mit der germanischen Ausgrabungsstätte im Seseke-Körne-Winkel die wichtigste archäologische Fundstätte Nordwestdeutschlands für die Erforschung unserer Vorfahren gibt. Ein Symposion in der Kamener Stadthalle im Jahre 2009 unter der Leitung des heimischen Archäologen Dr. Georg Eggenstein stellte als Ergebnis fest, daß die Ergebnisse aus der Kamener Ausgrabung unser traditionelles Bild vom metsaufenden und keulenschwingenden Wilden dringend revidiert werden muß. Und seit langem ist klar, daß Kamen aus dieser Tatsache ein Juwel des kulturellen Lebens (und des Stadtmarketings) machen könnte. Müßte. Angeregt durch das Bergkamener Vorbild, wo man mehr als 15 Jahre brauchte, bis aus der ersten, belächelten, Idee tatsächlich eine römische Holz-Erde-Mauer entstand, liegen auch in Kamen Vorschläge vor. Der Heerener Ortsheimatpfleger Karl-Heinz Stoltefuß griff die Idee eines dezentralen Museums für Kamen des KKK auf und erweiterte sie um einen dreistufigen Vorschlag, den Seseke-Körne-Winkel zu einem Schwerpunkt der Kamener Geschichtsdiskussion zu entwickeln:

  1. Erstellung einer Sonderschau „Germanensiedlung“ im Dachgeschoß des Museums in der Bahnhofstraße;
  2. Pfostenabsteckung des germanischen Langhauses im Seseke-Körne-Winkel;
  3. Rekonstruktion des Langhauses.

germ. Langhaus Kopie

Photo: Stefan Milk, Hellweger Anzeiger

Der KKK hat bereits einen Schritt getan, um die Ausgrabungsstätte bekannter zu machen und eine Tafel mit der Geschichte und Abbildungen erstellt und das Projekt auf den Weg gebracht. Sie soll am Klärwerk stehen und wird Bestandteil einer Radrundfahrt sein, die zu weiteren historisch bedeutsamen Stellen in und um Methler herum führen wird. Aber alle, die sich an dieser Diskussion beteiligen, sind sich darüber einig, daß am Ende idealerweise der Nachbau des Langhauses stehen muß, und zwar in der Nähe der Originalfundstelle. Das wird jedoch dauern (vgl. Bergkamen). Daher schlägt der KKK als verhältnismäßig leicht zu verwirklichende Zwischenstufe den Nachbau eines offenen germanischen Speicherhauses vor, in dem Modelle des Langhauses, weiterer Gebäude, die bei den Untersuchungen des Geländes im Juli 2014 lokalisiert werden konnten, Kopien von Fundstücken usw. ausgestellt werden könnten. Auf diese Weise würde der Bedeutung des Ortes Rechnung getragen, Spaziergängern und Radfahrern, die heute schon in großer Zahl dort zu finden sind, ein lohnendes Ziel geboten und ein Prozeß in Gang gesetzt, der dazu führen könnte, daß mittel– bis langfristig dort ein Nachbau des germanischen Langhauses stehen würde, als Gegenüber zur Holz-Erde-Mauer auf dem Römerberg in Oberaden. In Bergkamen würde man sich sicher darüber freuen, spielte sich doch zwischen 11 und 8 v.Chr. zwischen diesen beiden Lagern ein reger Verkehr ab. Ohne die Germanen hätte es die Römer dort gar nicht gegeben.

KH

Lothar Kampmann

Lothar Kampmann

„Der bewegte Mensch ist Ausdruck von Leben.“

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LK ist sicherlich einer der bekanntesten Kamener Künstler, vielleicht der bekannteste, und dennoch nahm in seiner Heimatstadt niemand Notiz davon, daß sich sein Todestag am 20. Januar 2013 zum 20. Mal jährte.

LK wurde am 11. Juli 1925 in Aachen geboren, wohin seine Mutter extra für seine Geburt von Kamen aus in ihre Heimatstadt zurückgefahren war. Schon während seiner Kriegsgefangenschaft begann er zu zeichnen, zumeist seine Mitgefangenen. 1954 schloß er ein Studium zum Kunsterzieher in Mainz ab und arbeitete auch einige Jahre lang in diesem Beruf. Nachdem er am Aufbau einer fundierten Lehrerausbildung im Fach Kunst maßgeblich beteiligt war, erhielt er erst eine außerordentliche, 1964 eine ordentliche Professur an der Pädagogischen Hochschule Dortmund, die später zur Universität, heute Technische Universität Dortmund, wurde. Er ist der Gründer der Altenakademie Dortmund, die heute noch Bestand hat.

Daß sich Anfang des Jahres niemand seiner erinnerte, erstaunt umso mehr, als sich zu Jahresbeginn wieder einmal eine Kontroverse um sein vielleicht bekanntestes Kamener Kunstwerk, den „Kömschen Bleier“, abspielte: ist er gegenwärtig am richtigen Ort in der richtigen Weise aufgestellt? Oder sollte doch noch ein anderer, besserer Ort gefunden werden, wo er, so wie seinerzeit von LK im Postpark selber, auf einem senkrechten Pfosten, besser für die Allgemeinheit sichtbar würde?

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„Kömscher Bleier“, 1968 (links) und 2013 (rechts)

Aber natürlich hat LK nicht nur den Bleier geschaffen, viel breiter ist sein Werk angelegt. Ein wenig davon soll hier vorgestellt werden.

Vielleicht sagt es etwas über uns Kamener aus, daß uns sein Werk so ans Herz gewachsen ist, daß wir uns erst jetzt, 20 Jahre nach seinem Tode, über die richtige Präsentation seines künstlerischen Erbes streiten. Zu seinen Lebzeiten überwog die Freude an seinen Skulpturen und Plastiken, waren sie doch immer auf eine Weise modern, ohne jedoch die von uns allen so vertraute Figürlichkeit aufzugeben.

Exemplarisch läßt sich das an den 16 Plastiken seines „Figurenparks“ in Bergkamen studieren: ihre Größe reicht von unter– bis überlebensgroß; die Übergänge zwischen den Körperteilen sind nicht organisch fließend, sondern deutlich abgesetzt; die Körper sind eckig, nur die Köpfe weisen Rundungen auf. Dennoch erkennt der Betrachter sofort, daß die Figuren lebendig wirken, nicht steif und leblos, auch wenn sie keine Hände und Füße haben.

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Großplastik „Trauernde“ 1960er Jahre

 

Ganz anders wirkt sein Bronzeenvironment „Bergmannsleben“ in Methler. Diese Figurengruppe erzählt eine Geschichte, ganz in der Tradition der „alten“ Kunst: ein Bergmann wendet sich, als er sein Haus verläßt auf dem Weg zur Arbeit, noch einmal um und winkt seiner Familie zum Abschied zu (oder kommt er gerade zurück von dort und begrüßt er die Seinen?). Das Idyll wird vervollständigt durch seine Eltern, die auf einer Bank am Haus sitzen und ihren Lebensabend genießen. Im Garten steht eine „Bergmannskuh“, auf dem Dach des Hauses sitzen drei Tauben, die Rennpferde des Kumpels. Alle Elemente des Lebens einer Bergmannsfamilie vor 100 Jahren sind hier versammelt.

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„Bergmannsleben“, 1981

Hier und in seinen Gitterreliefs erweist sich LK als ein Sammler und

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Gitterrelief „Vergangenheit“, 1969

Bewahrer dessen, was die heimatliche Region einmal auszeichnete. Ist es in Methler das überkommene Bild der Bergmannsfamilie, das er bewahrt, so zeigt Südkamen, was LK an Geräten auf Bauernhöfen und in Werkstätten der Heimat gesammelt hat: Hufeisen, Schloß und Schlüssel lange vergangener Türen, Pumpenschwengel, Fuchsfalle, Waffeleisen, Kneifzange, Flachshechel und Pflugschar fügte er zu einem dekorativen Gitter zusammen, das den Betrachter gleich gefangennimmt und in vergangene Zeiten zurückversetzt. Mit seinen öffentlichen Kunstwerken wollte LK bewußt auch das „kulturlose Ruhrgebiet“ aufwerten. So schrieb er anläßlich des 5. Bergkamener Bilderbasars an Dieter Treeck, dessen Idee die bbb waren und der damit, wenn schon der Arbeiter nicht zur Kunst komme, die Kunst zum Arbeiter bringen wollte: „Die Kunst ging zum Betrachter. Das war doch die einfache Grundformel. … „Er (Anm.: der bbb) sollte ein Ort der Grundbildung im Sinne des Wortes sein. Auch eine Stätte der Weiterbildung, Bekanntmachung mit dem neuen Gedanken– und Formengut. Aber er hat sich zur Weiterbildung des Bildungsbürgertums gemausert, mit aller geistig hochmütigen Lukullhaftigkeit. … Lieber Herr Treeck, Ihre Idee vom bbb ist gut wie eh und je. Aber die Künstler haben sich nicht geändert. In zwölf Jahren nichts dazugelernt. … Die Künstler, ich eingeschlossen, haben entscheidend versagt und Sie damit im Stich gelassen.“ LK, der umgängliche Mensch, ein scharfer Beobachter und ein unerbittlicher Kritiker.

LK war unendlich großzügig, wovon seine Freunde und Bekannten mehr als ein Lied singen können. Wo immer er war, zu Hause, zu Besuch, an der Universität, immer hatte er einen Stift, eine Feder, Modelliermasse dabei. Immer zeichnete oder modellierte er, und für gewöhnlich ließ er diese spontan entstandenen Kunstwerke dort als Geschenk zurück, wo er sie gerade angefertigt hatte. Und zu Hause passierte es ihm einmal, daß er gedankenverloren sein Material knetete und formte und plötzlich feststellte: „Mann! Jetzt habe ich die Venus von Milo gemacht! Das geht ja überhaupt nicht!“ Und schuf etwas Neues.

Einmal machte LK sich nach Süddeutschland auf, im Auto eine Mappe mit Arbeiten, die in einer Ausstellung gezeigt werden sollten. Auf halber Strecke machte er bei einem Freund Rast, um dort zu übernachten. Der Freund war neugierig und bat darum, die Zeichnungen sehen zu dürfen. Voller Schreck stellte LK fest, daß er eine Mappe mit leeren Blättern mitgenommen hatte. Die Ausstellung konnte am nächsten Tag dennoch pünktlich eröffnet werden: LK hatte die ganze Nacht gezeichnet und genügend Blätter fertig bekommen. Als sein Freund ihn fragte, wieso er das so schnell könne, war die lapidare Antwort: „Dafür habe ich jahrelang geübt.“

Weitere künstlerische Betätigungsfelder, die aber nicht im öffentlichen Raum zu finden sind, sind seine Ölbilder

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Ölgemälde mit Applikationen, 1983

und seine Kleinplastiken, die seine Meisterschaft auch auf diesen Gebieten belegen. Ein immer wiederkehrendes Thema ist der weibliche Körper, nackt oder halbnackt. Seine Kleinplastiken zeigen sie sitzend, kniend, immer anmutig, wohlgestalt und ausbalanciert.

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Kleinplastik „Kniende Frauenfigur“, o.J.

Besonders entzücken aber immer wieder seine Rohrfederzeichnungen, auf denen er in wenigen genialen Strichen, stark reduziert, Figuren und Bewegungen erstehen läßt. Wie von magischer Kraft wird der Betrachter hineingezogen in das Bild und sieht plötzlich eine Dynamik, die beim ersten Blick verborgen war.  Und die dazu nötigen Rohrfedern schnitt er sich selber aus Schilf oder Bambus.

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Rohrfederzeichnung, ohne Titel, 1964

Und dann gab es noch den großen Didaktiker LK, der Dutzende Bände mit „Anleitungen für bildnerisches Gestalten“ veröffentlichte. Diese wurden in Kindergärten, Schulen und Familien so populär, daß einzelne Bände mehrfach aufgelegt wurden. In einem weiteren Werk faßte LK seine gesamten, umfangreichen Kenntnisse in Technik und Materialkunde zusammen. „Alles will gelernt sein, die Technik des Gehens und Bewegens wie die Technik des Sprechens.“ Und seine Lust zu experimentieren legte er in dem Buch „Aufforderung zum Experiment“ nieder, in dem er beschreibt, wie man neue, unkonventionelle Materialien für künstlerisches Schaffen nutzbar machen kann. Die meisten seiner Bücher wurden in viele Fremdsprachen übersetzt.

Allerdings liegt in seiner Experimentierfreude mit Materialien auch die Ursache für ein Problem, das wir heute mit manchen seiner Kunstwerke haben, da sich erst viel später gezeigt hat, daß seine Materialmischungen nicht immer zeitüberdauernd sind.

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Großplastik, ohne Titel, 1960er Jahre

Als LK den Entwurf für die Plastik „Mit anderen Teilen – Weiterführung des St. Martin-Themas“ anfertigte, war es so heiß, daß das Wachs weich wurde, zusammenfiel und seine Form verlor. LK war schon krank und konnte selber kaum noch Hand anlegen. Aber er ordnete sofort an: „Schafft die Plastik aufs Klo! Da ist es kühler.“ Danach mußte sie in die Gießerei nach Gescher geschafft werden und dort wieder aufgebaut werden. Schließlich wurde sie doch  fertig, und so steht sie seit 1992 in Selm-Bork.

Im Rückblick erweist LK sich als ein Künstler, der den Spagat zwischen Bewahrung der Tradition und Vision der Moderne schaffte. Er war ein Künstler, der in seiner Heimat fest verwurzelt war und von daher der Welt aufgeschlossen gegenübertreten konnte, ein Künstler, der die Welt der Kinder erweiterte und die der Erwachsenen bereicherte, denn

„Menschen sind für mich die absolute Wirklichkeit, nie Staffage.“

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Portätbüste, Bronze, ohne Jahr

Weitere Kunstwerke, die die künstlerische Bandbreite des Werkes Lothar Kampmanns zeigen:

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Holzschnitt, 1971, Weiblicher Torso, Weiblicher Akt (v.l.n.r.)

Frühe Malerei, 1959 (links)

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Lothar Kampmann, 1980

Text und Photos: KH

Einige der Informationen wurden der Schrift „1 Bildhauer, ein gewisser Kampmann“ von Georg Eggenstein entnommen, die er anläßlich des 80. Geburtstages von Prof. Lothar Kampmann im Jahre 2005 veröffentlichte.

Die zwei Porträtphotos von LK wurden von Frau Susanna Kampmann zur Verfügung gestellt. Die abgebildeten Kunstwerke (außer den Großplastiken, dem Relief, dem Bergmannsleben und der Porträtbüste) befinden sich in Privatsammlungen.

Helmut Meschonat

Helmut Meschonat

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In die Wiege gelegt war es ihm nicht, als Helmut Meschonat (HM) 1943 in Werries bei Hamm geboren wurde. Und auch als seine Familie 1954 nach Kamen zog, war es nicht absehbar. Zwar malte seine Mutter ein wenig, und beide Eltern hatte Verständnis dafür, daß es ihren Sohn Helmut immer wieder zu Papier und Zeichenstift zog, doch das war so, wie es eben immer ist: Kinder kritzeln gern, nennen es malen.  Augen und Ohren öffnete dem Jungen, der mittlerweile gar nicht schlecht zeichnete, erst sein Großonkel Fritz Heitsch (FH), der zu der Zeit Stadtdirektor in Kamen war. FH (vgl. Artikel über FH unter „Kamener Köpfe“) machte ihn mit Klassik, und seine beiden Söhne Werner und Klaus mit Jazz bekannt. FH zeigte und erklärte ihm Gemälde und Skulpturen bekannter heimischer Künstler – vor allem an Viegener konnte der Junge sich nicht satt sehen – kurz, er öffnete ihm die Welt. Die Welt, die HM für den Rest seines Lebens faszinieren sollte: er wurde musizierender Maler, die Kunst wurde sein Leben.

In dieser Zeit, in den 1950er Jahren, traf er Ulrich Kett und Heinrich Kemmer, beide künstlerisch interessiert, beide schon, wie HM, als Maler aktiv, und tat sich mit ihnen zusammen zur Gruppe „Schierferturm“, in einem Wort geschrieben, weil der Turm der Pauluskirche nicht nur schief war (und ist), sondern zu jener Zeit auch mit Schiefer gedeckt war. Weil die Jungs aber keinen Raum hatten, wo sie malen konnten, geschweige denn ein Atelier, vermittelte ihnen Stadtdirektor FH den Dachboden des damaligen Amtsgerichts (heute Haus der Stadtgeschichte) als Arbeitsraum, den die Gruppe selbst gestaltete.

Aber natürlich gab es nebenher auch ein „bürgerliches“ Leben. HM war 15 Jahre alt und wurde in die Lehre gegeben, wie das damals eben so üblich war. Doch wies die Lehre als Schaufenstergestalter im Kaufhaus Küster (heute Vögele) einen starken Bezug zum Künstlerischen auf, gab es doch keine Firmen, die komplette Schaufenstergestaltungen aus industriell gefertigten Teilen angeliefert hätten. Jedes Schaufenster mußte nach eigenen Entwürfen und mit selbst hergestellten Elementen gestaltet werden. Drei Jahre, von 1958 bis 1960, lernte er das Handwerk und schloß die Lehre erfolgreich ab, ein Jahr später als Uli Kett, der ebenfalls bei Küster gelernt hatte. Und der war es auch, der HM überzeugte, daß sie mehr aus ihrem Talent machen sollten. Sie bestanden, zeitversetzt um ein Jahr, die Aufnahmeprüfung an der Werkkunstschule Dortmund und schrieben sich dort ein. Zur Beruhigung der Eltern gab HM zu Hause an: Ich will Graphiker werden. Sie waren es zufrieden. Das schien ihnen ein Beruf zu sein, von dem man leben konnte.

Also gingen die zwei nacheinander zur Werkkunstschule nach Dortmund, wo sie sich in zwei Semestern die handwerklichen Grundlagen der Kunst aneigneten, die so wichtig sind, will man sich einmal in der Kunst frei bewegen, in der Freiheit von sich selbst auferlegten, selber formulierten Regeln, nicht in der Regellosigkeit, die heute oft mit Freiheit verwechselt wird.

Schon am 4. September 1960 gab es die erste Ausstellung in Kamen in der Pausenhalle der Martin-Luther-Schule. In den Ruhrnachrichten äußerte der Journalist Ulrich Schwarz seine Skepsis, daß die Ausstellung überhaupt Besucher anzuziehen vermöge, weil es moderne, d.h. wohl abstrakte, Kunst zu sehen gebe. Und auf seine Frage, ob HM und seine Freunde erwarten, Gemälde zu verkaufen, bejahen diese natürlich: „Aber nicht, weil es uns um Geld geht, sondern weil das heißt, daß Menschen das, was wir geschaffen haben, so sehr gefällt, daß sie es besitzen möchten.“

In Dortmund entdeckte der Junge, noch nicht einmal zwanzigjährig, endgültig seine Neigung und Begabung für die Malerei. Folgerichtig schloß sich ein zehnsemestriges Kunststudium an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin an, in der Klasse Professor Kuhn. Nach bestandener Abschlußprüfung folgte die Ernennung zum Meisterschüler und zwei Semester Meisterklasse bei Professor Jaenisch. Danach – Glückseligkeit. Ich bin Künstler!

Aber dann das Vakuum: was mache ich jetzt?

Jetzt war HM „fertiger Künstler“. Aber Malen ist, wie alle Kunst, nicht ein Ergebnis, sondern ein ständiger Prozeß, sonst wäre jedes folgende Bild nur ein Abklatsch eines vorhergehenden. Eigentlich beginnt jetzt erst die Suche nach dem persönlichen Stil. HM wollte „modern malen. Aber das ist schwer, und es kostet Anstrengung und Zeit, seinen eigenen Stil zu finden“, wie er selber es einmal zum Ausdruck brachte.

Nach Beendigung eines solchen Studiums kann man dann als freier Künstler arbeiten, doch ist es extrem hart, zu leben, zu überleben. Wer Puccinis „La Bohème“ kennt, weiß, daß es auf Dauer nicht geht, von Luft und Liebe zu leben, es will auch gewohnt und gegessen werden. Ein Brot– und Butterberuf mußte her.

Da traf es sich gut, daß zu der Zeit, nach 68, in allen Kultusministerien Aufbruchstimmung herrschte. Überall wurden neue Schulen gegründet, mehr Lehrer gebraucht, wurde der Fächerkanon erweitert. Wie viele andere zu jener Zeit auch – erinnert sich noch jemand an die „Mikätzchen“? – fand HM, ohne pädagogische Ausbildung, eine Stelle als Kunstlehrer an einer Bochumer Realschule. Inzwischen hatte er Gabi Elger geheiratet, die ebenfalls aus Kamen stammte und in Berlin bei Prof. Kuhn studiert hatte. Beide zogen wegen der neuen Stelle nach Bochum.

Das Dasein als Lehrer für Kunst läßt glücklicherweise Zeit für schöpferische Tätigkeit. Das eigene Malen kam also nicht zu kurz.

Schon als Student (wenn man einmal von der Kamener Zeit absieht) stellte HM aus, sogar noch einmal mit seinen Jugendfreunden aus Kamener Zeit, Uli Kett und Heine Kemmer, in der Galerie Pater in Mailand.

Man stelle sich das einmal vor: drei Kamener Jungs, noch Studenten, stellen ihre Werke in Mailand aus und werden international zur Kenntnis genommen! Ein italienischer Kunstkritiker schrieb damals über HM: „Helmut Meschonat kommt offensichtlich aus dem ersten russischen Futurismus und folgt präzis und ohne Zweideutigkeit einer Tradition. Seine Kompositionen, oft von echten Diagrammen und streng technischen Zeichnungen begleitet, sind enge Verwandte einer Funktionalität, die auf keinen Fall mit der Poesie befreundet ist, so wie wir sonst gewohnt sind, sie zu empfinden, haben auch – was koloristische Durcharbeitung betrifft, fast immer ins Schwarze getroffen. Seine Bilder haben eine vitale Kraft, welche auf jeden Fall den Autor charakterisieren.“

Und der künstlerische Werdegang von HM begann, Gestalt anzunehmen. Als Jugendlicher hatte er, wie seine beiden Freunde auch, alles gezeichnet, was ihm vor die Augen kam, mehr oder weniger realistisch, um Genauigkeit im Detail bemüht. „Wir malten uns durch die Kunstgeschichte.“ Während des Studiums machte die naive  einer reflektierten Herangehensweise Platz. Die Moderne brach auch über HM herein. Abstrakte Malerei war der Ausdruck der Zeit. Wer nicht abstrakt malte, galt als veraltet. HM malte abstrakt. Dann kam skulpturale Malerei auf, mit vielen obskuren Schriftzeichen verziert, etwas bombastisch „skripturale Elemente“ genannt.

2. 1964, Bild 6, Öl auf Lwd., aus der gleichen Serie wie die Skandalbilder in Unna

Abstrakte Malerei von 1964 mit skripturalen Elementen. HM ist auf Formensuche. In Kamen gemalt (HM)

Daraus resultierte der „Gemäldeskandal von Unna“. Der Kreis Unna hatte sich ein „hypermodernes Kreishaus“ (Hellweger Anzeiger) zugelegt und plante, DM 50.000 für Kunst auszugeben (das gab es damals: es sollte 1% der Bausumme für „Kunst am Bau“ ausgegeben werden!), damit die Büros der Mitarbeiter ansehnlich ausgestattet werden konnten, aber er wollte auch „Geld in Kunstwerken anlegen“ (HA, 23.9.1964), bevorzugt von heimischen Künstlern, um sie „ideell und materiell zu unterstützen“ (HA, a.a.O). Unter den angekauften Werken befanden sich auch zwei von HM, die für die Dienstzimmer der Dezernenten bestimmt waren: „Bemaltes Quadrat“ und „Erzählendes Weiß“. Und wie das so geht mit Bildern an der Wand: Betrachter betrachten sie. Und da glaubte plötzlich jemand mit dechiffrierendem Blick und hintergründiger Phantasie Wortgruppen zu erkennen: „Sie A … loch“, „doof“ und „Sie Mistvieh“. Und der Skandal war da! Verstärkt durch das allgemeine Unverständnis für abstrakte Kunst.

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Über diesen beiden Gemälde stritt man sich 1964 wochenlang in der Öffentlichkeit, in den Zeitungen und im Fernsehen (Photos: KH)

Daraufhin stritten Bürger und Politiker, Kreisverwaltung und Öffentlichkeit, Presse und Künstler wochenlang über Kunst, in Rede und Gegenrede, mit Kommentaren und Leserbriefen und in Interviews auch im Fernsehen. Was ist Kunst? Was soll sie? Was kann sie? Ist Kunst wichtig? Ist abstrakte Kunst überhaupt Kunst? Oder muß Kunst figürlich sein? Es wurde erbittert gestritten. Es war wunderbar. Ist das heute noch vorstellbar? Oder eher nicht mehr, weil wir dazu „erzogen“ wurden, daß sowieso „alles geht“? Daß Regellosigkeit zur Regel geworden ist?

Auf die Nachfrage des Autors bestätigt Thomas Hengstenberg, Kulturreferent des Kreises Unna, daß die fraglichen Gemälde noch im Besitz des Kreises Unna sind, jedoch z.Zt. nicht die Büros von Dezernenten schmücken, sondern im Magazin in Cappenberg lagern.

5. 1965, Safe für G., Dispersionsfarbe auf Lwd.

„Safe für G.“ & Photo Safebild X 1965 

6a. 1965, Safebild X, Dispersionsfarbe auf Nessel

1965, Dispersionsfarbe auf Leinwand, HM hat seine Form gefunden: monumental, symmetrisch, frontale Ausrichtung, der individuelle Farbauftrag, das Malerische ist verschwunden. Der Farbauftrag ist jetzt radikal glatt, unpersönlich. In Kamen gemalt. (HM)

6. 1966, Neomat, Dispersionsfarbe auf Lwd.

„Neomat“, 1966, Dispersionsfarbe auf Lwd., Maschinenformen als Bildmotiv, Geräte, das Funktionale unter anderen Aspekten gesehen, modifiziert; wichtig: keine erkennbare Funktion, Querschnitte, „Neomat“ ­- typischer Titel für diese Zeit, in Berlin gemalt. Stilistisch sind die Bilder nicht so direkt einzuordnen. Wenn man so will, auch eine gegenständliche Hard-Edge- Malerei mit kräftigen Farben. (HM)

In diesen abstrakten Gemälden deutet sich aber auch schon der nächste Entwicklungsschritt HMs an. Es sind bereits Formen zu erkennen, die in den folgenden Jahren große Bedeutung gewinnen sollten: seine Serie „Safebilder“ beginnt. In ständig variierten Darstellungen wurde der Safe in den Folgejahren zum zentralen bildgebenden Element in HMs Werken. Und Form wurde HM mit den Jahren immer wichtiger. Der Safe wurde von Maschinenquerschnitten abgelöst; es gab Lackbilder, in denen die dritte Dimension angedeutet wurde; die Darstellungsweise veränderte sich: in die Gestaltung des Himmels und der Wolken zogen Barockelemente ein. Diese Bilder kamen so gut an, daß die Bundesanstalt für Arbeitsschutz in Dortmund sieben von ihnen ankaufte.

7. 1968, Made in W. Berlin, Acryl auf Hartfaser

„Made in W. Berlin“  1968 Acryl auf Hartfaser, Darstellung von Maschinenquerschnitten wieder in der Frontalansicht, Schautafeln, Signalfarben. Ich glaube nicht, dass es sich um Pop-Art handelt. Mit diesen „Made-in …- Bildern“ wurde ich Meisterschüler. (HM)

Die späten 1970er Jahre waren für HM sehr erfolgreich: der damalige Bundespräsident Walter Scheel kaufte eins seiner Gemälde an, zwei wanderten ins Arbeitsministerium nach Bonn, wo sie für Norbert Blüm und Walter Riester bei ihren Interviews mit dem Fernsehen, dem „Spiegel“ und allen anderen den Hintergrund bildeten und so bundesweit bekannt wurden. „HM“ war immer dabei!

8. 1970, Abbildung 8, Lack auf Hartfaser, dieses Bild war u.a. i.d. Villa Hammerschm. ausgest.

„Abb. 8“  1970 Lack auf Hartfaser, Ansicht von Maschinen und Geräten, räumliche Darstellung, keine Schnitte mehr. Wenn man so will, eine Variante der Pop-Art. Eine etwas aufwändige Schabloniertechnik. Kühl und unromantisch. Gemalt in Bochum. Dieses u. andere Lackbilder waren in der Villa Hammerschmidt zu sehen. Begonnen habe ich mit diesen Bildern aber noch in Berlin, 1969. Sie haben immer den Titel „Abbildung …“ Also: die Dinge sind nicht die Dinge selbst, sondern nur Abbildungen. (HM)

1971 wurde seine Frau Gabi Elger (GE) von Frau Heinemann, der Frau des Bundespräsidenten Gustav Heinemann, zu einer Ausstellung in die Villa Hammerschmidt eingeladen. Das Präsidentenehepaar wollte junge Künstlerinnen fördern. Als man aber sah, was GEs Ehemann HM malte, wurde er ebenfalls eingeladen auszustellen. Dahinter stand die Empfehlung des Direktors des Bonner Kunstmuseums.

9. 1972, Siebdruck

„Siebdruck“ 1972 Nr.3.  Die Darstellungsweise der Lackbilder eignete sich besonders für den Siebdruck. 1972 entstanden mehrere Druckauflagen. Eine davon ging später an den Bochumer Kunstverein. Es sind eher Innenräume mit Bildschirmen, Cockpits vielleicht, jedenfalls technische Motive. (HM)

10. 1979, Bild 3, Acryl auf Lwd.

 „Bild 3“  1979 Acryl auf Lwd. Ab 1973 suche ich nach neuen oder anderen Möglichkeiten. Die unpersönliche, präzise Malweise muss beendet werden. Ich will jetzt Maschinen (natürlich!) in der Landschaft malen, romantische Ausschnitte von Landschaft, romantische Lichtführung, oft barocke Himmel und Farbgebungen, davor großen Platz in Anspruch nehmend Maschinen. Die Landschaft wird immer mehr verdrängt. Aus den Maschinen werden dann allmählich Maschinenarchitekturen, Industriearchitektur, immer anonym. (HM)

 Ein Kritiker schreibt dazu 1981: „Bedrohlich, monolithisch, unzerstörbar – so erscheinen die Bilder das Bochumer Künstlers Helmut Meschonat. … Doch die Natur bleibt in den Bildern Meschonats außen vor. Ein Stück düsteren Himmels bleibt sichtbar, die übrige Bildfläche nehmen die festungsartigen Industriebauten ein. Licht, Schatten und die reduzierte Verwendung von Farben verstärken den angsteinflößenden Charakter der Bilder. Dennoch: Keine direkte Aktion geht aus von den Werken, die gemalten Bauten wirken in ihrer versteinerten Ruhe eher archaisch, urzeitlich. Ihre Bedrohlichkeit liegt in ihrer raumgreifenden Kraft, ihrer machtvollen Präsenz. Pyramiden der Neuzeit. Geometrische Burgen der Technik, die verborgen bleibt. Als Industriebauten nur erkennbar an wenigen Attributen: Leitungen, Rohre, fehlende Fenster. … In der Beschränkung auf ein Thema liegt die gesammelte Stoßkraft seines Werkes, das unsere Lebenswelt auf individuelle Art reflektiert und sich aktuellen Kunsttendenzen nicht unterwirft.“

HM war inzwischen so erfolgreich, daß er mehrfach in Münster in den Ausstellungen „Westfälische Künstler“  vertreten war. Daher kannte man seine Arbeit dort. Das führte dazu, daß er eine Gastdozentur an der FH MÜnster erhielt und von 1983 bis 1986 Graphiker und Objektdesigner im Fach „Zeichnerische Darstellung“ unterrichtete.

11. 2005, Bild 2, Acryl auf Lwd.

„2005 Bild 2“  Acryl auf Lwd., immer wieder die gleiche oder ähnliche Thematik. Das Pfeilerelement taucht häufiger auf, auch durch die Perspektive mit drei Fluchtpunkten wirken die Bauwerke teilweise nicht mehr so stabil. Stark reduzierte Farben. Für die Stilrichtung dieser Bilder ab 1975 weiß ich keine Bezeichnung. (HM)

12. 1993, Bild 6, Acryl auf Lwd.

„Bild 6“ 1993  Acryl auf Lwd. Wie Bild 3, 1979. Licht und Schatten. Rätselhaftes Bauwerk, kleiner Naturausschnitt. (HM)

13. 2010, Bild 1, Acryl auf Lwd.

„Bild 1“ 2010 Acryl auf Lwd. Ab 2003 änderte sich teilweise die Sicht. Es sind eher Konstruktionen mit einer Draufsicht. Gebilde, die man nicht einordnen kann. Ab 2010 wird die Konstruktionsordnung aufgelöst und die Pfeiler u. Balken erscheinen eher ungeordnet, teilweise in kräftigen Farben. Es sind keine Bauwerke mehr. Symbole für das von Menschen Geschaffene und Zerstörte. Wie immer Licht und Schatten. (HM)

Danach fand er zu „seinem“ Thema: dreidimensional wirkende, sich selbst tragende „architektonische“ Bilder, auf seltsame Art abstrakt und figürlich-konkret zugleich. Dem Betrachter drängt sich der Eindruck auf, daß ein modernes Bild von HM genau so gut die Darstellung der Balkenkonstruktion des mittelalterlichen Turmhelms der Kamener Pauluskirche sein könnte.

14. 2011, Bild 4, Acryl auf Lwd.

„2011 Bild 4“  Acryl auf Lwd., wie 2010 (HM)

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 Dachstuhl im Helm der Pauluskirche, Kamen. Die Ähnlichkeit ist unübersehbar. (Photo: KH)

HM hat an Dutzenden von Ausstellungen teilgenommen, viele von ihnen juriert, mit hohen Ablehnungsquoten. Viele seiner Gemälde hängen in Privatsammlungen, aber auch in öffentlichen Sammlungen ist er gut vertreten: Stadt Kamen, Stadt Bochum, Senat West-Berlin, Schering AG. Berlin, Kreisverwaltung Unna, Kultusministerium NRW, Sparkasse Bochum, Stadt Düsseldorf, Industrie– und Handelskammer Bochum, Bundesministerium für Arbeit Bonn (jetzt Berlin), Bundesanstalt für Arbeitsschutz Dortmund.

16. 2012 Bild 4 Acryl auf Lwd.

„2012 Bild 4“  Acryl auf Lwd., Rückbesinnung auf Gebäudemotive. Kalte Farben, ab 2014 monochrom, Grau in Grau. Dadurch Konzentration auf die Form. Rätselhafte Bauwerke, deren Funktionen unklar bleiben. Menschen gibt es hier nicht. Stilrichtung? Realismus ist das ja auch nicht. (HM)

Wenn es wahr ist, daß alle guten Maler Bilder erzeugen, die im Gedächtnis bleiben, dann ist HM ein guter Maler. Seine zweckfreien „Bauwerke“ (1993 & 2005), monumental, bedrohlich, in kalten Farben gemalt, in eine unergründliche Tiefe weisend, sind solche Bilder. Bei aller grundsätzlichen Ähnlichkeit jedoch zeigen sie eine Entwicklung, auch wenn diese sich erst auf den zweiten Blick enthüllt. Im Hintergrund sind Grün, wenn auch nur als Silhouette und monochromes Blau, beide in starkem Kontrast zum Bauwerk. 12 Jahre später hat sich dieser Kontrast aufgelöst. Die hellen Farbtöne sind ausschließlich düsteren Farben gewichen, das Grün ist verschwunden, der Himmel nicht mehr monochrom, sondern in dem Gebäude angepaßten Farbtönen wolkenreich–drohend, deutlich barocke Himmelsdarstellungen evozierend.

Bis 2008, bis zum Alter von 65 Jahren, hat HM im Schuldienst gearbeitet. Nie hat er aufgehört zu malen, weniger geworden ist es schon. Er stellt nicht mehr so viel aus, auch geht er nicht mehr in so viele in Ausstellungen.

Dafür hat er jetzt mehr Zeit für sein Hobby. Während all der Jahre hat er nicht vergessen, es zu pflegen: den Jazz. Aber es beschränkt sich nicht auf das Abspielen und Anhören von LPs und CDs. Er ist aktiv. In seinem Zimmer zu Hause in Bochum stehen ein Tenor–, ein Alt– und ein Sopransaxophon, die alle gespielt werden. Dazu kommen eine B– und eine C-Klarinette, die ebenfalls deutliche Gebrauchsspuren zeigen. Seit 40 Jahren spielt er in wechselnden Gruppierungen, erst Dixielandjazz – zusammen mit den beiden Jazzveteranen der „primitiven“ Pitt Fey (d) und Nelly Elger (bjo) in der neuen Formation „Six Town Seven“ – dann auch andere Formen des Jazz, auch hier ging er mit der Zeit. Und immer noch tritt er mit Freunden ein paar Mal im Jahr zu einer „Mucke“ an, zum Jazzen. Da muß er improvisieren, erfinden, genau wie in seiner Malerei. Aber hier ist er mit anderen schöpferisch zusammen, die Einsamkeit des Malers wird durch die Bindung an das Ensemble ersetzt.

 

17. HM Klarinette

HM als Klarinettist

Auf grundsätzliche Fragen, den Künstler und die Kunst, seine Kunst betreffend, reagiert HM eher unwirsch: „Ich habe jetzt so lange darüber nachgedacht, daß ich gestehen muß: Keine Ahnung. Weiß ich nicht. Interessiert mich auch nicht.“ Und zeigt ansatzweise die Problematik einer solchen grundsätzlichen Fragestellung auf: Die Rolle des Künstlers in dieser Welt? – Aus welcher Sicht? In welcher Welt? – Es gibt nicht DIE Welt. Es gibt auch nicht DEN Künstler. Warum gilt der eine als großer Künstler, der andere nicht? Wer wollte objektiv die Rolle des Künstlers bestimmen?

Aber der Blick auf HMs künstlerische Entwicklung, wie sie sich in seinen Bildern zeigt, läßt schon einen spezifischen Blick auf die Welt erkennen. Zur Zeit des Wirtschaftswunders, als der Lebenszweck vieler Menschen sich in der Anhäufung von Wohlstand oder gar Reichtum erschöpfte, zeigen seine Bilder unterschiedlich große Safes.

Er malt keine Blumen, Natur kommt in seinen Bildern nicht vor. In einer Zeit, die technikgläubig war, glaubte, daß der Mensch sich durch Technik die Welt untertan machen könne, malte er Maschinen, die seine Gemälde dominieren, so wie sie das Leben beherrschten. Der Mensch arbeitete in Schichten, wie eine Maschine, im Rhythmus der Maschine, damit diese ausgelastet war. Der Mensch hatte sich nach der Maschine zu richten.

Und als er sah, wie die Krake Bebauung aus den Städten ins Land hinübergriff, wie immer mehr landwirtschaftliche Fläche mit Industriebauten und Supermärkten zugebaut wurde, eroberten monumentale Gebäude seine Bilder, menschenleer, immer düsterer, hinter denen Landschaft verschwand. Natur war endgültig durch Konstruktion, d.h., Menschengemachtes ersetzt.

So entstand ganz von allein eine „Ästhetik des Trostlosen“. Die Realität hatte sich HM aufgezwungen. Selbst wenn er vielleicht viel lieber Blumen gemalt hätte – es ging nicht.

Und den heutigen Künstlern, die alle Kunst nur als Kunst akzeptieren wollen, wenn sie politisch ist, entgegnet er brüsk: „Nein. Moderne Kunst muß nicht politisch sein.“ Vielleicht gehört HM damit in die länger werdende Reihe der Künstler, die einfach sagen: „Kunst ist da. Sie gehört zur Welt. Ist Teil der Welt. Ist Ausdruck der Welt.“

Aber vielleicht ist das ja dann doch wieder politisch?

KH

(Anm: Alle Photos von Kunstwerken, sofern nicht anders angegeben, stammen von HM selber. Die fett gedruckten Kommentare unter den Kunstwerken hat HM selber geschrieben. Das Porträtphoto und HM als Klarinettist hat HM selber zur Verfügung gestellt. Danke.)

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Die Kamener Künstlergruppe „gruppe schieferturm“

Das Wort „Gruppe“ war Ende der 1950er Jahre beileibe kein so modisches Wort wie heute, da alles und jedes eine „Gruppe“ ist, oft auch eine „Group“. Zuerst nannten sich die drei Kamener Jungs – Heinrich Kemmer (HK), Helmut Meschonat (HM) und Ullrich Kett (UK) – die sich der Kunst widmen wollten, „malkasten schieferturm“, was bestimmt auch damals schon nicht nach Avantgarde klang, eher nach den von allen Schulkindern malträtierten Malkästen, die vor allem von der Firma Pelikan stammten.

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Die Kamener Künstlergruppe „Gruppe Schieferturm“:
Heinrich Kemmer, Helmut Meschonat, Ullrich Kett, 1962

Das Wort „Gruppe“ war Ende der 1950er Jahre beileibe kein so modisches Wort wie heute, da alles und jedes eine „Gruppe“ ist, oft auch eine „Group“. Zuerst nannten sich die drei Kamener Jungs – Heinrich Kemmer (HK), Helmut Meschonat (HM) und Ulrich Kett (UK) – die sich der Kunst widmen wollten, „malkasten schieferturm“, was bestimmt auch damals schon nicht nach Avantgarde klang, eher nach den von allen Schulkindern malträtierten Malkästen, die vor allem von der Firma Pelikan stammten.

Mit „schieferturm“ verbanden die drei auch einen kleinen Scherz, war doch der schiefe Turm der Pauluskirche damals auch schiefergedeckt. Gemeint war der allerdings nicht, sondern eher das kleine, zufällig schiefergedeckte Türmchen am alten Amtsgericht, dem Domizil der Gruppe (s.a. weiter unten). Und weil sie sich eben nicht auf den „Schiefen Turm“ der Pauluskirche beziehen wollten, schrieben sie die beiden Worte in eins, und die Betonung wechselte von der zweiten auf die erste Silbe. Der Namenswechsel von „Malkasten“ nach „Gruppe“ kam dann, als die Ausstellungen anspruchsvoller wurden, die drei im Ausland bekannt wurden.

Diese Gruppe fing bald an, eigene Ausstellungen zu organisieren, und die erste Ausstellung 1959 ist wohl auch ihr Entstehungsdatum unter diesem Namen. UK erinnert sich und kommentiert heute: „Es war die prinzipielle Unbescheidenheit von Laien.“ Organisation verlangt Arbeit, Zeit, Verbindungen, Verhandlungen, für 18jährige eine große Herausforderung. Doch da gab es in ihrem Umfeld Emile Künsch, einen umtriebigen Luxemburger, den es nach Kamen verschlagen hatte.

4. EK Porträt

Emile Künsch, der Manager der Gruppe

Er organisierte gern und nahm sich ebenso gern der Künstlergruppe Schieferturm an. Er sorgte dafür, daß die drei ein Atelier fanden, was umso leichter fiel, als der damalige Stadtdirektor Fritz Heitsch selber künstlerisch tätig war und daher Verständnis für den Nachwuchs hegte.

4. Port. FH

Fritz Heitsch, Stadtdirektor, Künstler, Gönner

So kam die Gruppe dazu, sich den Dachboden des damaligen Amtsgerichts, des heutigen Hauses der Stadtgeschichte, herrichten zu dürfen und verfügte von da an über einen künstlerischen Treffpunkt, der wesentlich dazu beitrug, daß ihre Freundschaft sich festigte (vgl.a. Artikel über Fritz Heitsch).

Eine Ausstellung der Gruppe vom 19. bis 25. Oktober 1964 im Zeichensaal der Glückauf-Schule erregte in zweierlei Hinsicht besonderes Aufsehen.

6. LK Porträt

Lothar Kampmann, Künstler und Förderer

Zum einen kritisierte der Eröffnungsredner, Prof. Lothar Kampmann (LK), die Stadt Kamen heftig, weil sich kein Vertreter von Rat und Verwaltung sehen ließ: „Bei Rassehunde– und Angorakaninchenausstellungen, da glaubt man, die Verbundenheit mit den Arbeitern bekunden zu können. Auch Künstler sind Arbeiter, nur mit dem Unterschied, daß sie auch noch mit dem Kopf was tun.“ Und daß die Stadt die Gruppe mit Geld unterstützt hatte, entlockte ihm nur ein knurriges: „Geld ist das wenigste. Und ich sehe gar nicht ein, daß sich die Künstlergruppe kniefällig für Almosen bedanken muß.“ Und selbst für die großzügige Geste der Stadt durch Stadtdirektor Heitsch, der Gruppe den Dachboden des Amtsgerichts zur Verfügung zu stellen, hatte LK nur einen ätzenden Kommentar übrig: „Das ist ein makabrer Ort, das Dachgeschoß eines Amtsgerichtsgefängnisses. Damit zeigt man, daß die Künstler außerhalb gesellschaftlicher Rangordnungen stehen.“ Immerhin erschienen, wenngleich verspätet, zwei Vertreter der Stadt, Stellvertretender Bürgermeister Hans Achtabowski und Jugendpfleger Edgar Hirt. So nahm die Veranstaltung dann in dieser Hinsicht doch noch ein versöhnliches Ende. Und im Verlaufe der Ausstellungswoche kamen auch noch Bürgermeister Beckmann, Ratsmitglied Fritz Rethage und Oberamtmann Bäcker in die Glückaufschule.

Zum anderen trat Kampmann aber auch einer in der Öffentlichkeit verbreiteten Unkenntnis und einem Mißverständnis entgegen: „Aus allen Länderecken hört man, daß das Gegenständliche wiederkommt, die Befassung mit dem Gegenstand wieder modern wird. Dann ist diese Ausstellung ja unmodern. Dem liegt ein Denkfehler zugrunde. Wer ‚Gegenstand‘ gehört hat, soll ‚Gestalt’ denken, und wer ‚Natur‘ gehört hat, soll sie als Inbild und Abbild verstehen. In den ausgestellten Bildern kommt das Elementarische, das hinter dem hantierbaren Gegenstand steht, zum Ausdruck. Die Künstler wollen nicht den groben, klobigen Gipsabguß oder die Nachzeichnung, damit sind sie nicht zufrieden. Sie befassen sich vielmehr mit der neuen Wirklichkeit, was für den Künstler ebenso schwer ist wie für den Betrachter.“ Er wunderte sich, daß die ausstellenden Künstler überhaupt noch in Kamen zu sehen seien statt in Berlin oder Kassel. „Provinzler können hier nicht kaufen, sondern nur Menschen, die eine künstlerische Tat suchen.“ Kunst war wohl damals wichtig, verursachte sie doch wiederholt breite öffentliche Diskussionen (vgl.a. Artikel über Helmut Meschonat und den „Gemäldeskandal von Unna“)

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von links: Ulrich Kett, Helmut Meschonat; von rechts: Emile Künsch, Dr. Krabs, Kreisdirektor und Förderer der Gruppe, Heinrich Kemmer bei der Ausstellung in Esch, Luxemburg

Freundschaft war die Grundlage der Gruppe, denn es gab keine förmliche Mitgliedschaft. Die drei verbrachten viel Zeit miteinander, sofern sie nicht beruflich getrennt waren. Sie malten, um sich künstlerisch entwickeln zu können, doch vor allem UK war es, der sich auch praktisch nützlich machte. Er malte Plakate! Wo gab oder gibt es das? Seit Toulouse-Lautrec unerhört! Ein Künstler malte jedes der 10 Plakate einzeln, mit wechselnden Motiven und Farben, die in der Regel Konzerte oder Tanztees (so hieß das damals) der recht beliebten Kamener Dixielandband „die primitiven“ (so hießen die wirklich; einen englischen Namen, wie sie schon für Jazzbands in Mode waren, wollten sie nicht) bei Bergheim ankündigten. Ob wohl noch ein paar solcher Plakate existieren? In irgendeinem Partykeller in Kamen? Populär genug waren die Band und UK und seine Plakate.

Und natürlich verbrachten sie nicht nur die Tage miteinander. Kamen war zu der Zeit die Stadt im Ruhrgebiet mit der höchsten Kneipendichte (1 Kneipe auf 260 Einwohner!), und es gab auch etliche eher anrüchige Etablissements. Klar, daß die drei die Kneipenszene nutzten, um realistische Detailstudien zu treiben, aus denen dann abstrakte Gemälde wurden, eine Art neuer, künstlerischer Wirklichkeit. Schließlich malte damals jeder Künstler, der „modern“ sein wollte, abstrakt. Und bei HK geronnen diese zu Skulpturen, die sich „an die alten Wurzeln antiker Bäume anlehnen.“ (Galeriedirektor Kahn zur Eröffnung einer Ausstellung der Gruppe in Dallas, Texas, 1967)

Aber die reale Realität nagte auch an dieser Künstlergruppe. Etwas zeitversetzt begannen HK, UK und HM ihr Kunststudium, erst an der Werkkunstschule Dortmund, dann an der Hochschule, später Universität der Bildenden Künste in Berlin. Nur HK blieb in Dortmund. So konnten sie sich nur noch während der Semesterferien sehen, was natürlich kein kontinuierliches gemeinsames Arbeiten und Gestalten mehr erlaubte. Statt Gruppen– gab es nun vermehrt Einzelausstellungen. Und es kam eine Entfremdung von Emile Künsch hinzu, der dann zu „Emil“ wurde. Allerdings hat sich die Gruppe nie förmlich aufgelöst. Heinrich Kemmer starb am 2. April 2014 in Hamminkeln. Ullrich Kett und Helmut Meschonat sind also eigentlich noch immer die originale „Künstlergruppe Schieferturm“.

Die heutige Gruppe „Künstlerbund Schieferturm“ hat nichts mit der alten Gruppe zu tun, aber der Name ist für eine Kamener Gruppierung wohl zu naheliegend. Die heutige Gruppe „Schieferturm“ hat sich diesen Namen  zugelegt,  wußte vielleicht   nichts vom Original.

Künstler, die mit der alten „gruppe schieferturm“ ausstellten, einige von ihnen mehrmals:

Rolf Birkner, Dortmund
Gabriele Elger, Kamen
Jürgen Gramse, Dortmund
Fritz Heitsch, Kamen
Gerhard Hoberg, Heeren
Gerhard Knoblauch, Berlin
Karl-Heinz Krüger, Fröndenberg
Ludwig Loschek, Kamen
Jörg Poppe-Marquardt, Berlin
Heinz Potthast, Kamen

Frühe Ausstellungsorte waren:

Schulen in Kamen;

In der Burg, Unna;
Galerie Pater, Mailand;
Städt. Galerie Esch, Luxemburg;
Kunst im Turm, Uni Dortmund;
Contemporary Fine Arts Gallery, Dallas, Texas

Gönner „in schwerer Zeit“ (UK):

Dr. Carl Baenfer, Landesmuseum Münster
Prof. Lothar Kampmann, Kamen
Dr. Krabs, Kreisdirektor Unna (ganz besonderer Förderer)
Emile Künsch, Kamen
Fritz Heitsch, Stadtdirektor in Kamen
Horst Schulze Bramey, Stadtbaumeister Kamen

KH