Wilhelm Wienpahl – Kamener Erfinder und Unternehmer,

von Klaus Holzer

Abb. 1 Wilhelm Wienpahl _0001

Wilhelm Wienpahl, 25.7.1850 – 8.11.1923 (Photo von Ernst Brass)

 Als am 18. Januar 1871, nach dem siegreichen Krieg gegen Frankreich, das Deutsche Reich im Spiegelsaal von Versailles gegründet wurde, ging nicht nur jahrhundertelange deutsche Kleinstaaterei zu Ende (zeitweise gab es über 350 unabhängige Kleinstaaten auf deutschem Territorium!), sondern die „verspätete Nation“ (Helmut Plessner) erlebte vor allem durch zwei damit einhergehende Ereignisse eine vorher nie dagewesene Wachstumseuphorie. Zum einen entfielen alle mit der Kleinstaaterei verbundenen (Binnen)zölle, zum anderen lösten die von Frankreich an das Deutsche Reich zu zahlenden Reparationen eine Geldschwemme aus, die die in der Mitte des Jahrhunderts in Gang gekommene Industrielle Revolution begleitete und antrieb. Die nächsten zwei Jahrzehnte heißen heute zu Recht die „Gründerjahre“. Und was sich im Reich und vor allem an der Ruhr im großen abspielte – es entwickelte sich hier Europas größter industrieller Ballungsraum – fand auch im ländlich–beschaulichen Kamen (bis 1903 mit C: Camen) seine Entsprechung.

Seit der Mitte des 19. Jh. hielt in Kamen die Industrialisierung Einzug, und mit ihr die moderne Zeit:

1847 – die Köln-Mindener Eisenbahn fährt durch Kamen

1865 – eine Gasanstalt wird eröffnet

1873 – Abteufung von Grillo I der Zeche Monopol

1887 – Beginn der zentralen Wasserversorgung

1891 – Kamen erhält eine Molkerei

1892 – Beginn des Baues der Kanalisation

1909 – die VKU verbindet Unna, Kamen und Werne

1921 – Kamen bekommt die erste elektrische Straßenlaterne

In den Jahren von 1847 bis 1913 hatte Kamen nur zwei Bürgermeister, Julius von Basse (BM von 1847 – 1877) und seinen Sohn Adolf von Basse (BM von 1877 – 1913). Es ist deutlich, was für einen Modernisierungsschub Kamen während ihrer Amtszeit erlebte. Friedrich Pröbsting schreibt denn auch bewundernd: „Während der Amtszeit der beiden [ … ] Bürgermeister Julius von Basse und Adolf von Basse, also seit 1847, hat unsere Stadt einen Aufschwung genommen, wie nie zuvor.“

Nachdem Kamen „einen Hafen an einem der bedeutsamsten Ströme Europas“ (der Stadtchronist Friedrich Pröbsting über die Eisenbahn 1901) bekommen hatte, siedelte sich auch in unserer kleinen Stadt (1875 hatte Kamen 4157 Einwohner, im Dezember 1900 schon 9888) Industrie an:

Papierfabrik Friedrich, 1850

Gießerei und Metalldreherei Theodor Jellinghaus, 1868

Gußstahlfabrik Vohwinkel, 1870

Cigarrenfabrik Möllenhof, Anf. 1850er Jahre

Maschinenbau & Tiefbohrungen Winter, 1870

Eiserne Kleinwagen Wönkhaus, 1872

Schuhfabriken von der Heide, Betzler, Henter

Schlossereien Klein, 1874

Bohde, Wienpahl, 1874

Herde Fischer, 1888

Am 22. Januar 1875 erschien im Volksfreund, der damaligen Camener Zeitung, die folgende Annonce:

Annonce 1

Die junge Firma bot ein reiches Spektrum an Waren und Reparaturleistungen. Und offenbar weitete sie ihr Angebot sehr schnell aus. Schon im Sommer bot sie an:

Annonce 2

Neben den landwirtschaftlichen Geräten scheinen vor allem Bierpumpen gefragt gewesen zu sein, gab es doch in Kamen traditionell viele „Herren Bierwirthe“. Die aufstrebende Firma machte sich schnell einen Namen und wurde erfolgreich, da die beiden Eigentümer erkannten, daß Diversifizierung der Schlüssel zum Erfolg war. Man handelte, stellte her und reparierte. Aber vielleicht war es doch nicht so einfach, ein so breites Angebot wirtschaftlich zu betreiben. Schon am 1.5.1877 trat Julius („Jülle“) Bohde wieder aus der Firma aus und machte sich am heutigen Standort selbständig. Er konzentrierte sich mehr auf den Handel, WW hingegen auf Produktion und Reparatur.

Von allen diesen Namen ist nur Bohde heute noch vertreten. Fast ganz in Vergessenheit geraten ist der Mann, der zuerst mit Julius Bohde zusammen eine Schlosserei gründete, Wilhelm Wienpahl (WW) (geb. 25.7.1850, gest. 8.11.1923). Die beiden erwarben direkt vor dem Ostenthor ein Grundstück, das nach hinten an den damals noch offenen Goldbach grenzte und nach vorn an die „Chaussee von Camen nach Hamm“, gegenüber dem 1866 stillgelegten, 1891 in den heutigen Stadtpark umgewandelten Friedhof, und bauten sich 1874 ein stattliches Gebäude. Am 1.1.1875 eröffneten sie ihre gemeinsame „Gelbgießerei und mechanische Werkstatt“. Adresse: Ostenstraße o.Nr. (Die Adresse im Jahre 1902 ist: Ostenfeldmark 12; danach auch: Ostraße; 1914 aber: Hammer Straße 200; später dann: Hammer Straße 1).

Abb. 2 Wilhelm Wienpahl Fabrik 1_NEWWilhelm Wienpahl vor seiner Fabrik nach der ersten Erweiterung in den 1880er Jahren

Wilhelm Wienpahl machte so erfolgreich weiter, daß er seinen Betrieb schon nach wenigen Jahren durch einen Anbau erweitern mußte, auf den er gleich danach auch noch ein Obergeschoß setzte, da er sein Angebot an Leistungen bedeutend erweiterte. Es hieß jetzt:

Wilhelm Wienpahl

Mechanische Werkstatt

Schlosserei & Dreherei

Grubenlampen– & Metallwarenfabrik

Thore, Gitter, Ventile, Hähne

Nähmaschinen, Fahrräder

Haushaltungsmaschinen

Reparaturen aller Art

Gruben-Bedarfsartikel

Gegründet 1874

Abb. 3 Wilhelm Wienpahl Fabrik 2_0001Die Fabrik nach der Zweiten Erweiterung

WW war ein findiger Kopf. Es reichte ihm nicht, einfache Sachen zu bauen und zu reparieren. Kurz bevor er seine Fabrik gegründet hatte, hatten die Unternehmer Grillo und Grimberg mit der Teufung ihrer Zeche Monopol begonnen. Ab 1878 wurde in Kamen Kohle gefördert. Die Arbeit unter Tage war schwer und gefährlich, viel hing von der Konzentration des Grubengases ab. Das Leben der Kumpel hing davon ab. Es gab Grubenlampen, deren Flamme, untergebracht in einem messingnen Drahtgeflecht, umso heller brannte, je höher die Gaskonzentration war. Doch ließen sich diese Modelle leicht öffnen, und wenn das geschah, entzündete die Flamme das Gas, und es gab eine Scghlagwetterexplosion. Sie durfte also nur Übertage geöffnet werden können.


Abb. 4Abb. 5Abb. 6 Patent 2_0001Die beiden Patente von 1884 und 1886 und die schematische Darstellung des Sicherheitsverschlusses

WW entwickelte nun einen, wie er meinte, sicheren Verschluß. Er gab die Lampe einem Steiger, um seinen neuartigen Verschluß auszuprobieren und erwartete gespannt, daß dieser scheitern würde.  Der aber öffnete ihn gleich beim ersten Versuch. WW war enttäuscht, tüftelte weiter. Schließlich gelang ihm ein Sicherheitsverschluß, den er sich patentieren ließ (Patent Nr. 31694 vom 17. Juli 1884). 1886 erhielt er noch ein zweites Patent (Nr. 38267 vom 27. März 1886). In der Camener Zeitung vom 15. Dezember 1895 gibt es eine Notiz über ein Patent an WW, doch ist nicht mehr feststellbar, ob es sich um ein drittes Patent handelt oder ob in der Nachricht auf eins der früheren zurückgegriffen wurde. Die Nachkommen WWs wissen jedenfalls nichts von einem dritten Patent.

Abb. 6a Annonce Wienpahl 15.12.1895

Abb. 7a Annonce Wienpahl 19.11.1882

Und mehrfach erhielt er Gebrauchsmusterschutz auf seine Grubenlampe. Diese Lampe wurde Standardmodell auf vielen Zechen, und WW ließ 1906 sechs Schmucklampen herstellen und verchromen. Eine Lampe ist heute noch im Besitz der Familie, eine stand vor noch nicht allzu langer Zeit in der Altdeutschen Bier– & Weinstube Kümper in der Bahnhofstraße auf einem Brett über der Tür. Eine Lampe erhielt der langjährige Zechendirektor Friedrich Funcke, der auf der „Funckenburg“ wohnte (heute Zollpost). Wo die anderen drei geblieben sind, läßt sich nicht mehr feststellen.

Abb. 7 Grubenlampe WienpahlDie Schmucklampe von 1906

Hier war also ein Kamener, der sich aktiv um die Sicherheit der Bergleute verdient machte. 1874 oder 1875 heiratete er die aus Dortmund stammende, drei Jahre ältere Luise Rühl (2.7.1847 – 15.10.1915). Sie hatten fünf Kinder, drei Jungen und zwei Mädchen. Dieses Familienphoto stammt von 1889 oder 1890.

Abb. 8 Familie Wienpahl

Wilhelm Wienpahl und seine Familie

Abb. 8a Wienpahl Artikel 1877

Aber die Produktpalette war größer. Am 11.9.1877 stellte WW beim landwirtschaftlichen Fest des Kreisvereins Hamm in Kamen seine Rübenschneide– und Handdreschmaschinen aus. Sicher weiß sein Nachkomme heute nur noch, daß er drei Altgesellen hatte, jedoch nicht mehr, wieviele Arbeiter in der Fabrik arbeiteten. Wenn man aber die Stellung eines Altgesellen betrachtet, so ist er einem Werkstattmeister von heute gleichzusetzen. Es darf also angenommen werden, daß die Belegschaft vielleicht 20 bis 30 Leute betragen haben mag.

Abb. 9 Turnerfeuerwehr 1896 2 Kopie 2Die Kamener Turner-Feuerwehr; Wilhelm Wienpahl vorn links im Oval

Abb. 10

Wilhelm Wienpahls Belobigung durch den Kaiser

WW hatte gehofft, daß einer seiner Söhne eines Tages die väterliche Fabrik übernehmen würde. Aber wie es dann so geht in bürgerlichen Familien, die aufwärts streben, sich für ihre Kinder einsetzen, damit diese „es einmal besser haben“ werden und den Wert einer guten Erziehung und Bildung erkannt haben und daher ihre Kinder – damals wohl fast ausschließlich ihre Söhne; für seine Töchter baute WW ein großes Doppelhaus als Sicherheit  – auf die höhere Schule schicken, das Interesse ihrer nunmehr gebildeten Söhne am Betrieb zu Hause schwindet, soziale und berufliche Distanz wachsen. Keiner der drei Wienpahl-Söhne wollte die Fabrik übernehmen, eine Enttäuschung für den Vater. Zwei wurden Lehrer (einer wird vom Stadtchronisten Friedrich Pröbsting im letzten Absatz des Kapitels „Die Schule der größeren evangelischen Gemeinde”  seiner „Geschichte der Stadt Camen” erwähnt), einer Uhrmacher und Goldschmied und emigrierte in die USA. Als WW 1923 starb, wurde er an der Seite seiner schon acht Jahre zuvor gestorbenen Frau in der Familiengruft beigesetzt. Gemäß ihrem sozialen Anspruch hatten die Wienpahls sich auf dem (damals neuen, heute) alten Friedhof an der Friedhofstraße eine Gruft mit neun Feldern und einem repräsentativen Grabstein gekauft. Inzwischen ist die Gruft längst eingeebnet.

1923 wurde das Fabrikgebäude an einen Kamener Tabak– und Zigarrenhändler verkauft. Das stellte sich als großer Fehler heraus, verlor doch Bargeld, ein sechsstelliger Verkaufspreis, durch die Inflation binnen Wochen jeglichen Wert. Der Käufer hatte das große Geschäft gemacht.

Dieser verkaufte die Liegenschaft aber schon nach wenigen Jahren an die Stadt Kamen, die es mit einem neuen Vorbau versah, mit Seitenrisaliten, einem repräsentativen Zentraleingang, auf dem eine Terrasse die Möglichkeit zu öffentlichen Auftritten bot. Hier war einige Zeit die städtische Bücherei untergebracht. Eine weitere Nutzung erfuhr das Haus, als am 1.10.1954 das Bergamt einzog (unter der Adresse Hammer Straße 13), bis dieses in die Poststraße umzog. Das Gebäude wurde im Zuge des Neubaues des Gymnasiums abgerissen.

Abb. 11 Wilhelm Wienpahl NachfolgebauWilhelm Wienpahls ehemalige Fabrik nach dem Umbau durch die Stadt Kamen Ende der 1930er Jahre

Übrigens wohnte in den 1950er Jahren der Komponist Gerard Bunk, gebürtig aus Rotterdam, Organist an der Reinoldikirche in Dortmund, in der ehemaligen Wienpahlschen Fabrik, im ersten Stock rechts. Er mußte aus Dortmund wegziehen, da seine Wohnung mit all seinem Besitz bei einem der vielen Angriffe auf Dortmund von einer Bombe zerstört worden war. Seine Nachbarn freuten sich über die vielen Privatkonzerte, mit denen Bunk sie bei geöffneten Fenstern unterhielt. Hier wohnte er bis zu seinem Tode 1958.

Als die Nationalsozialisten ab 1933 die Macht auch in Kamen übernahmen, sah man das dem alten Fabrikgebäude an, überall hingen Hakenkreuzfahnen. Ca. 1974 wurde das Gebäude abgerissen. Auf dem Gelände entstand der heutige Parkplatz, der hintere Teil des Grundstücks wurde mit dem Gymnasium und danach einem Kindergarten bebaut. Das war besonders in den 1960er und 70er Jahren der Geist der Zeit. Auch Kamen riß in diesen Jahren viel von seiner alten Bausubstanz ab. Altes mußte Neuem Platz machen, Parkplätze gab es plötzlich überall. Die autogerechte Stadt war das Ideal. Man wollte nicht der Moderne im Weg stehen, sie sogar befördern. Kamen nannte sich „die schnelle Stadt”. Heute wünschen sich viele das Alte zurück.

Auch der Bergbau ist aus Kamen verschwunden, nur wenig erinnert noch an ihn. WW und seine Fabrik sind verschwunden, seine Grubenlampe hat nur noch nostalgischen Wert, nichts erinnert mehr an diesen tatkräftigen und erfinderischen Unternehmer und engagierten Feuerwehrmann. Bloß in der „Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden von Camen“ von Friedrich Pröbsting wird er auf S. 65 erwähnt. Doch seine Stadtgeschichte ist ebenfalls nicht mehr erhältlich. Nur Bohde gibt es noch. Hoffentlich noch lange.

KH

Otto Holz’ Mahnmal am Sesekedamm

von Klaus Holzer

Seit geraumer Zeit läuft die öffentliche Diskussion, wie das Sesekeufer in der Innenstadt in Zukunft aussehen soll. Es gibt die Gegner, die darin nur Geldverschwendung sehen können, und es gibt die vehementen Befürworter, die darin die Chance erkennen, Kamen zukunftsfähig zu machen, was angesichts der Herausforderungen durch die demographische Entwicklung dringend nötig erscheint.

Was bisher noch gar nicht zur Sprache gekommen ist, betrifft alles das, was sich in dem Bereich bereits befindet: der Baum, den „DIE KAMENER JUGENDLICHEN [alle?] FÜR FRIEDEN UND VÖLKERVERSTÄNDIGUNG – NIE WIEDER KRIEG“ am 1. September 1989 gepflanzt haben, der Kampmannsche Bleier und das Mahnmal von Otto Holz. Was kann, was soll, was wird mit ihnen geschehen?

Am leichtesten fällt die Entscheidung über den Baum. Der läßt sich integrieren, gleichgültig, wie die Gestaltung im einzelnen aussehen wird. Einen gewissen Aufwand wird Kampmanns Bleier erfordern. Er wird wohl einen neuen Standort finden müssen, kann dann aber wieder in ihm angemessener Weise auf einen senkrechten Pfosten zu stehen kommen, wodurch die gegenwärtig unbefriedigende Präsentation korrigiert werden kann.

Aus der Zwischenablage

Lothar Kampmann, Kömscher Bleier (1968/2013)

Photo: Klaus Holzer

Otto Holz‘ Mahnmal von 1953 stellt ein größeres Problem dar. Das fängt schon damit an, daß offenbar viele, vor allem jüngere, Kamener gar nicht wissen, woran es erinnern soll. Auch wenn für manche der Gedanke naheliegt – es steht nicht für die Opfer des Aufstandes vom 17. Juni 1953 in Ostberlin, sondern erinnert an diejenigen Deutschen, die zu jener Zeit noch in Kriegsgefangenschaft waren. Im Verlaufe des Jahres 1953 entwickelte sich in der bundesdeutschen Bevölkerung immer stärker das Gefühl, daß es im neunten Jahr nach Kriegsende nicht immer noch Kriegs– und Zivilgefangene in Ländern der Alliierten geben dürfe, vor allem in der UdSSR, wo, wie der SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer am 2. Oktober erklärte, Männer und Frauen „immer noch der Stacheldraht umschließe und die sowjetische Posten bewachen“. „Die meisten von ihnen waren unter den groteskesten Vorwänden in den Jahren 1950 und 1951 zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt und zu Kriegsverbrechern gestempelt worden.“ (WR, 2.10.1953)

Daher fand vom 17. – 25. Oktober 1953 eine bundesweit begangene Kriegsgefangenen-Gedenkwoche statt, die offenbar im ganzen Land große Zustimmung erfuhr. In dem bundesweit veröffentlichten Appell hieß es: „Wir selber wollen aus dieser Hoffnung heraus nicht müde werden, vor der Weltöffentlichkeit zu mahnen, zu bitten und zu flehen und zum Herrgott zu beten, daß, wenn manche Machthaber der Welt nicht helfen können und andere gar wider uns und unsere Gefangenen sind, er sich unser erbarmt.“

Schon im Sommer 1953 hatte der Rat der Stadt Kamen auf Antrag des Heimkehrer-Ortsverbandes den Beschluß gefaßt, „für alle noch in den alliierten Gewahrsamsländern zurückgehaltenen Kriegs– und Zivilgefangenen“ ein Mahnmal zu bauen und auch gleich den Auftrag dazu erteilt. Der erste Spatenstich erfolgte am 2. Oktober durch Erich Reichert, einen Kamener, der gerade erst, im September 53, aus sowjetischer Gefangenschaft heimgekehrt war. Wenige Tage später, am 13. Oktober, kam auch der Südkamener Paul Kollin zurück, Bruder des bekannten Kamener CDU-Politikers Ewald Kollin. Zur gleichen Zeit verkündete die Stadt Kamen, daß alle Spätheimkehrer zusätzlich zu der von der Bundesrepublik gezahlten Wiedereingliederungshilfe auch von ihrer Heimatstadt DM 250,– in bar erhalten sollten.

Mit dem Entwurf für dieses Mahnmal wurde Otto Holz beauftragt, Kunstlehrer am Städtischen Neusprachlichen Gymnasium Kamen. Dieser war ein Künstler, der radikal mit der traditionellen Kunst gebrochen hatte. Pathos und die Glorifizierung von Heldentum waren ihm fremd. Daher entsetzte sein Kunstwerk (ja, in diese Kategorie gehört das Mahnmal) viele Kamener, die etwas Traditionelles erwartet hatten, etwa im Stile des Denkmals an der Waldstraße neben Grundhöfer in Overberge.

Ohne Titel

 

Otto Holz, 11. Juni 1907 – 15. April 1988

  Photo: Archiv Klaus Holzer

Die Einweihung des Mahnmals am 25. Oktober 1953 zeigte, in welchem Maße ganz Kamen Anteil nahm. „Rund 4000 Teilnehmer bevölkerten den Sesekedamm und die Bahnhofstraße zur Zeit der Feierstunde“, schreibt die WR am einen Tag später. Der Posaunenchor spielte, Sprecher verschiedener Vereine und Verbände appellierten an die „Gewahrsamsmächte“ und das „Weltgewissen“, die Gefangenen aus ihrer Rolle als „politisches Wechselgeld“ zu entlassen.

Pfarrer Busch und Pfarrer Rawe schlossen sich an, Erich Reichelt rief dazu auf, „die Brücke zwischen Heimat und Gefangenen nicht zusammenbrechen zu lassen“. Dann nahm Bürgermeister Rissel „das Mahnmal mit einem Appell an die Friedensbereitschaft der Welt in die Obhut der Stadt“. (WR, 26.Okt.1953)

Mahnmal Holz Front Jan 2013

 

Otto Holz, Mahnmal „Vergesst uns nicht”, 1953

Photo: Klaus Holzer

Einweihung Mahnmal Holz 53

 

Einweihung des Mahnmals von Otto Holz am 25. Oktober 1953

Photo: Stadtarchiv Kamen

Denk– und Mahnmale haben die Funktion, die Menschen an Dinge zu erinnern, die einschneidende Ereignisse in ihrer und der Geschichte ihrer Nation darstellen, sie vor dem Vergessen zu bewahren. Ihre Form verrät viel über den Geist ihrer jeweiligen Entstehungszeit und bewahrt so, über den historischen Anlaß hinaus, auch  das künstlerische Ausdrucksvermögen ihrer Epoche. Das gilt in ganz besonderem Maße für Otto Holz‘ Mahnmal am Sesekedamm. Es verdient einen besonderen, einen würdigen Platz am neugestalteten Sesekeufer. Aber vielleicht ist alles auch ganz einfach, scheint es doch so, als ob Baum und Mahnmal eine Einheit bilden. Hoffen wir, daß Kamens Rat eine weise Entscheidung fällt.

2015-05-24 11.00.51 Kopie

 

Das Ensemble aus Mahnmal und Friedenslinde

Photo: Klaus Holzer

KH

Anregungen zur Umgestaltung des Seseke-Ufers

Anregungen des Kultur Kreises Kamen zur  Umgestaltung des innerstädtischen Seseke – Ufers

von Thea Holzer

Die Stadtgesellschaft ändert sich: In den kommenden Jahren wird Kamens Einwohnerzahl sinken und das Durchschnittsalter steigen. Diese Veränderung ebenso wie die Einsicht, dass die „öffentliche Stadt“ nachhaltig gestaltet werden muss, wird von Fachleuten (vgl. Quellen) vielerorts beschrieben. Nicht als Luxus, sondern als Daseinsvorsorge für Stadtbewohner, die auf grünen Freiflächen Ausgleich für Stadtlärm, stetig zunehmenden Verkehr und fehlende Natur suchen, wird nach passenden Lösungen gesucht.

Bürger-Umfragen zu deren Grundbedürfnissen haben gezeigt:

Es sind im Wesentlichen

1) Regeneration und Erholung,

2) Kontakt und Kommunikation,

3) Bewegung an frischer Luft,

4) Natur erleben.

In der heutigen „Erlebnisgesellschaft“ muss eine bedürfnisgerechte „grüne Oase in der Stadtmitte“  darin bestehen, dass man sich spontan entscheiden kann, wie man sich betätigen will; nachhaltiger Erlebnisraum muss also Vielfalt anbieten.

Wenn man das zu gestaltende Sesekeufer und seine Umgebung betrachtet, dann ist Punkt  3) „Bewegung an frischer Luft“ für alle Altersgruppen bereits bestens gelöst:

Wir haben einen Beachvolleyball-Platz am Eilater Weg, einen Bolzplatz neben der Hochstraße, einen großen Kinder-Spielplatz zwischen den beiden Kirchen und im Postpark eine gut besuchte Half Pipe und einen weiteren Kinder-Spielplatz. Im Postpark finden wir für ältere Kamener auch einen längst nicht ausgelasteten Boule-Platz und nebenan den Minigolf-Platz, einen Freizeit-Spaß für die ganze Familie. Sollte das Freibad weiterhin bestehen bleiben, hat Kamen auch ein zentrales Schwimmbad.

Deutliche Wegmarkierungen sollten von Ort zu Ort leiten, und man müsste an mehreren Stellen sichere Straßen-Übergänge schaffen.

Zum Erfüllen der weiteren Bedürfnisse  müsste der Fuß/-Radweg zum Stillen Weg bis zum „Unort“ unter der Hochstraße schon ab dem Kreisel an der Maibrücke durch eine Hecke von der Hochstraßen-Auffahrt getrennt werden, so dass der gesamte Bereich Maibrücke /Stiller Weg geschützt und sicher begehbar ist.

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Der gesamte Weg „Reeperbahn“(  Sonnenseite) müsste durch Anpflanzungen und Verschönerungen der Haus-/Garagenseiten (Stauden/ Baumgruppen) aufgewertet werden, die Sitzgruppe dort müsste man durch weitere Bänke und/oder  Stühle vergrößern, und mit einer ansprechenden Wegführung entlang der Seseke und über die Vinckebrücke  hätte man bereits einen schönen kleinen Rundweg.

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Die Hecken an der „Reeperbahn“, jetzt schon Zuhause für viele Vögel, müssten gründlich gepflegt und mit Nistkästen bestückt werden.

Ein Insektenhotel an passender Stelle könnte für den nahen Kindergarten und die Grundschule nebenan lehrreich sein, und ganz einfach lassen sich ein paar Findlinge mit in die Landschaft legen zum darauf Herumklettern .

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Im Ruhrgebiet werden immer mehr „urbane Oasen“ gefördert. So könnte auch hier ein Teil der Schrebergärten am Stillen Weg umgewandelt werden zu einem größeren Gemeinschaftsgarten, in dem Kamener gemeinsam gärtnern und ihre Erfahrungen austauschen könnten . Denkbar wäre auch die Anregung zur Patenschaft für einzelne Park-Abschnitte durch das Jugendheim (Postpark), die Josefschule (Schrebergarten) und den Kindergarten (Insektenhotel).

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Der gesamte Grün-Bereich im Postpark über das Amtsgericht, ebenso das Sesekeufer am Sesekedamm, bis jetzt allesamt kahle Rasenflächen und die gesamte neu zu gestaltende Seseke-Umgebung an der Vinckbrücke müssten mit Stauden- und Wildblumen-Rabatten sowie einzelnen früh- und spätblühenden heimischen Bäumen bepflanzt und dadurch lebendig gestaltet werden,  so dass sich Besucher dort wohlfühlen können.

Bei der Planung des Seseke-Geländes ist bisher nirgendwo eine öffentliche Toilette vorgesehen.  Vielleicht ließe sich tatsächlich ein kleines Café verwirklichen (Pavillon Maibrücke?), das zusätzlich zu Entspannung und Kommunikation beitragen würde.

Der Bereich  zwischen Partnerschaftsbrücke und Maibrücke ist relativ klein , es müsste also die großzügige und abwechslungsreiche Parkplanung ab Maibrücke bis zur Hochstraßenquerung am Stillen Weg besondere Beachtung finden.

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Da im weiteren Verlauf des Seseke-Ufers von der Maibrücke bis zur 5-Bogen-Brücke an der Uferpromenade nicht viel verändert werden kann, erinnern wir noch einmal an die Literaturpromenade, die wir an anderer Stelle schon einmal vorgeschlagen haben. Zusätzlich könnte aber auch an der Promenade mit Büschen, Stauden und Blumen für mehr Abwechslung gesorgt werden .

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Dass es in der „öffentlichen Stadt“ immer wieder zu Beschädigungen, Vandalismus, Müll, Verunreinigung durch Hunde, Drogen- und Trinkerecken kommt, führt leider dazu, dass die Anlagen gemieden werden. Wo sie aber lieblos oder vernachlässigt angelegt sind, wo nichts anspricht, wird erst recht verschmutzt und zerstört.

Zu einem erfolgversprechenden, nachhaltigen Sesekeufer-Konzept müsste deshalb auf jeden Fall gehören:

Statt langweiliger Grünflächen möglichst viel Abwechslung.

Ansprechende, sichere Flächen und Wege (Wege einsehbar, gute Beleuchtung).

Leinenpflicht für Hunde.

Aufstellen von Parkregeln zur Beachtung.

Ständige Parkpflege.

Der Kultur Kreis Kamen bittet, die Möglichkeit der Umsetzung seiner Anregungen zu prüfen.

April 2015

Quellen:

„Urbane Oasen im Ruhrgebiet“ – Artikel in der WR vom 25.3. 2015

„Nachhaltige Stadtparks mit neuen Erlebnisqualitäten“, Konzepte und Wirkungen,

(Antje Flade – Institut Wohnen und Umwelt), Darmstadt, September 2004

„Nachhaltige Stadtparks“ – Konzept und Praxisbeispiele,

Lein-Kottmeier/Ostmann/Vogt (Hrsg.), RWFV Fachverlag, 2008

Leitfaden zur naturnahen Pflege und Entwicklung öffentlicher Grünanlagen,

FHH – Umweltbehörde, Hamburg, 25.1.2000

Alle Fotos: TH

TH

 

 

Das Kriegsende in Kamen

von Klaus Holzer

Am 8. Mai 2015 jährt sich die Kapitulation Nazi-Deutschlands zum 70 Mal. Für Kamen war der Krieg aber schon einen Monat früher vorbei. Am 10. April 1945, um 13.10 Uhr, übergab der Kamener Journalist Otto Birkefeld die Stadt Kamen den Amerikanern, am 11. April begann für Kamen die Nachkriegszeit.

Birkefeld befand sich zu dem Zeitpunkt zusammen mit einem Polizeileutnant und zehn Mann im (alten) Rathaus. Bei ihnen befand sich noch eine Angestellte des Standesamtes, die immer wieder die Luftalarmsirene bediente. Als die Besatzung des Rathauses die amerikanischen Panzer, aus der Weißen Straße kommend, langsam auf den Markt vorrücken sah, wußte zuerst keiner, was nun zu tun war. Dann sagte der Polizeioffizier zu Birkefeld: „Sie sprechen doch Englisch. Gehen Sie mal dahin und sprechen Sie mit den Amerikanern.“ Die standen inzwischen relativ locker vor ihren Panzern und hatten sich Zigaretten angesteckt. Als Birkefeld das sah, steckte er sich seine Pfeife an und ging dann langsam auf die Eroberer zu. Sein spontaner Entschluß brach das Eis und rettete Kamen womöglich vor weiterer Zerstörung. Er übergab die Stadt bedingungslos an den Sieger.

Vorausgegangen waren schwere letzte Gefechte. Nach den verheerenden Luftangriffen von Ende Februar und dem absehbaren Ende, nämlich der Niederlage Nazi-Deutschlands, errichtete der Kamener Volkssturm dennoch an allen großen Einfallstraßen mächtige Panzersperren, am Bahnübergang in der Nähe des damaligen Cafés Schneider, bei Jackenkroll an der Hammer Straße und auch auf der Lünener Straße. Besetzt wurden diese Sperren von alten Volkssturmmännern und Hitlerjungen, die in Schnellkursen notdürftig im Gebrauch von Panzerfäusten unterrichtet worden waren.

Viele Kamener fanden noch Anfang April anonyme Flugblätter in ihren Briefkästen und Vorgärten, in denen Nazis denen Tod und Vergeltung androhten, die vor den anrückenden Feinden den „weißen Fetzen“ zum Fenster heraushängen würden. SS-Streifen rasten in ihren Autos durch die Straßen Kamens und suchten Fahnenflüchtige, mit denen sie im Trichter hinter der ehemaligen VfL-Turnhalle „kurzen Prozeß machten“, d.h., sie erschossen sie kurzerhand, ohne jedes Gerichtsurteil. Kriegstote mußten in der Morgendämmerung beerdigt werden, weil Tiefflieger während des Tages auf alles schossen, was sich bewegte.

Besonders schrecklich war der „Heerwurm“, der sich am Karfreitag von Lünen her durch Kamen bewegte, über die Koppelstraße und den Bahnübergang nach Heeren, 20000 Gefangene und Flüchtlinge. Sie waren total zerlumpt, heruntergekommen und ausgehungert, oft nur mit Lappen an den Füßen. Über dem Zug hing bedrückend der Geruch von Karbol und Desinfektionsmitteln. Eskortiert wurde der schnell so genannte „Russenzug“ von ein paar Dutzend klappriger deutscher Landesschützen, erinnert sich Otto Birkefeld später.

Als Kamen eingenommen war, wurden zuerst zwei Englischlehrerinnen des Gymnasiums, Maria Ahmer und Eleonore Friedrichs, als Dolmetscherinnen ins Rathaus zitiert. Der erste Stadtkommandant erwies sich als großzügig und weitherzig. Er ernannte umgehend ein kleines Ratsherrenkollegium, da an Wahlen nicht zu denken war. Valentin Schürhoff wurde nach der Besichtigung als Obmann von Grillo berufen. Gustav Adolf Berensmann mußte als kommissarischer Bürgermeister den Sonderauftrag umsetzen, alle ehemaligen Nazis unter dem Schiefen Turm zum Schippen und Füllen der Bombentrichter in Kamen einzubestellen, wo sie dann für jedermann sichtbar mit Hacke, Schaufel und Schubkarre malochen mußten.

Und es war viel zerstört worden: 125 Gebäude vollständig, 111 sehr schwer, 350 leicht. Der Schiefe Turm war demoliert, die Kirche Hl. Familie wies an der Ostseite ein großes Loch auf, Krankenhaus, Bahnhof, Altersheim, die Druckerei der „Kamener Zeitung“, die VfL-Turnhalle, das damalige Realgymnasium zu einem großen Teil und der Kindergarten der evangelischen Gemeinde. Und, schlimmer, es gab 245 Tote.

Kamen, wie ganz Deutschland, mußte ganz von vorn anfangen, neu aufgebaut werden. Die Narben kann man heute noch im Stadtbild erkennen.

Pauluskirche kriegsbeschädigtHl. Familie kriegsbeschädigt 3

Der schiefe Turm                           Hl. Familie

 

Für den Raum der Erinnerung:

Der KKK fragt, die Kamener antworten.

Die erste Frage:

Blindgänger

Wer weiß, wo und wann genau sich diese Szene abgespielt hat? Wer sind die beteiligten Männer?

Westfalen – 200 Jahre alt

von Klaus Holzer

Ab Ende der 1790er Jahre überzog Napoleon Bonaparte ganz Europa mit Krieg, eroberte es, besetzte es, setzte Verwandte und Vertraute ein, es zu regieren, brachte unfaßbares Leid über die Menschen, jedoch auch den aus der französischen Revolution hervorgegangenen republikanischen Weckruf der Moderne, Liberté, Egalité, Fraternité ins noch feudale Europa. Nachdem er in der Völkerschlacht bei Leipzig endgültig besiegt worden war und er schließlich am 17. Juni 1815 sein Waterloo erlebt hatte, wurde daher eine territoriale Neuordnung des Kontinents notwendig. Dieses geschah zwischen 1814 und 1815 auf dem Wiener Kongreß. Als am 9. Juni 1815 die Schlußakte des Kongresses unterzeichnet wurde, wurde damit ein vorher nicht genau umrissenes Territorium namens Westfalen auf die Landkarte gesetzt, als preußische Provinz. In diesem Sommer wird das moderne Westfalen 200 Jahre alt.

Abb. 1 260px-Karte_Stammesherzogtum_Sachsen_um_1000  Stammesherzogtum Sachsen um 1000

Aber natürlich ist Westfalen viel älter. Das alte Stammesherzogtum Sachsen bestand aus drei Teilen, dem westlichen Teil Westfalen, das sich von Friesland bis zum Rothaargebirge erstreckte, dem östlichen Teil Ostfalen, das von Lüneburg im Norden bis Merseburg im Süden reichte, dazwischen lag das Herzogtum Engern, das sich von Kassel im Süden bis nach Dänemark hin zog. Und wer hat nicht schon von dem Westfalen Widukind/Wittekind, dem Herzog Sachsens, gehört, der anno 777 erstmalig anläßlich des Reichstages von Paderborn erwähnt wird? Er war der Anführer der Sachsen (die Westfalen sind ein sächsischer Stamm, woher auch heute noch das Sachsenroß im niedersächsischen und das Westfalenroß im nordrhein-westfälischen Landeswappen herrühren) im Aufstand gegen Karl den Großen, wurde von diesem geschlagen und 785 getauft.

Abb. 2 80px-Coat_of_arms_of_Lower_Saxony.svgAbb. 3 90px-Wappen_der_Provinz_Westfalen_1929

Sachsenroß   &   Westfalenroß

Nach Jahrhunderten als Flickenteppich disparater Gegenden, ohne staatliche oder territoriale Integrität, betrat Westfalen die politische Bühne, als Napoleon sich nach der Schlacht bei Jena und Auerstädt 1806/07 alle preußischen Gebiete westlich der Elbe einverleibte und 1807 das Königreich Westfalen mit Kassel als Hauptstadt gründete. Hier machte er seinen jüngsten Bruder Jérome zum König, der von seinen Untertanen nur König Lustik genannt wurde, weil sein deutscher Wortschatz angeblich nur aus „Guten Morgen, wieder lustig“ bestand. Das benachbarte Gebiet wurde zum Großherzogtum Berg erklärt, wozu auch Kamen gehörte.

Diese beiden Territorien sollten Modellstaaten nach französischem Vorbild werden. Alles wurde zentralisiert; der Code Civil (Code Napoleon) wurde einheitliche Rechtsgrundlage, alle Steuerprivilegien wurden abgeschafft, das französische Steuersystem eingeführt; die Bauern wurden aus der Leibeigenschaft befreit; es wurde eine Agrarverfassung eingeführt und das Gegenstück, gewerbliche Regulierungen; das Zunftwesen wurde abgeschafft; ein Toleranzgebot mit der Gleichberechtigung der Religionen entstand. Jedoch wurde auch die Wehrpflicht eingeführt, die strenge polizeiliche Überwachung der Bürger, und ein dichtes Spitzelsystem überzog die Gesellschaft.

All dieses wurde in den sechs Jahren französischer Herrschaft angestoßen und hatte nachhaltige Konsequenzen, obgleich die Westfalen die Fremdherrschaft als große Belastung empfanden und mit dem Erwachen patriotischer Gefühle darauf reagierten. Die von den Franzosen angestoßene Modernisierung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft erwies sich als irreversibel.

Gleich nach der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 besetzte Preußen, das alle seine westlichen Territorien an Frankreich verloren hatte,  das Gebiet zwischen Rhein und Weser

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 Ludwig von Vincke 

und etablierte eine provisorische Verwaltungsorganisation unter dem späteren äußerst populären ersten Westfälischen Oberpräsidenten Ludwig Freiherrn von Vincke, nach dem in Kamen inoffiziell die Brücke zwischen der Hochstraße und der Josefschule benannt ist, und schuf so bereits Fakten, bevor der Wiener Kongreß sich überhaupt konstituiert hatte. Am 30. April 1815 erläßt Preußen eine „Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzialbehörden“ und überführt die provisorische Verwaltungsorganisation in eine dauerhafte.

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 Friedrich Wilhelm III. von Preußen

Dieses von Friedrich Wilhelm III. unterzeichnete Gesetz gilt als die „Geburtsurkunde“ Westfalens, auch wenn, oder vielleicht gerade weil es die Beschlüsse des Wiener Kongresses vorwegnahm. Damit erhält Westfalen zum ersten Mal in seiner Geschichte eindeutige politische Grenzen. Das war die Zeit, in der Preußen sich zum Modernisierungsmotor in Deutschland mauserte.

Abb. 6 350px-Congress_of_Vienna

Wiener Kongreß

Schon am 21. Juni 1815, knapp zwei Wochen nach der Unterzeichnung der Schlußakte des Wiener Kongresses, erklärte es, ein neues System in Staat und Gesellschaft einrichten zu wollen: von der Staatsspitze über die staatlichen und militärischen Einrichtungen bis hin zur städtischen Selbstverwaltung (!). Treibende Kräfte der preußischen Reformen, die auch für Westfalen gelten sollten, waren der Freiherr Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, der seinen Lebensabend auf Schloß Cappenberg verbrachte, und Karl August von Hardenberg. So steht die Gründung des politischen Westfalens am Beginn der Moderne.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hörte Preußen auf zu bestehen, und zwar durch das Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrats vom 25.2.1947. Schon vorher aber hatte die britische Militärregierung am 23.8.1946 aus der preußischen Provinz Westfalen und dem nördlichen Teil der preußischen Rheinprovinz das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen gebildet. Damit ging die Regierung für Westfalen von Münster auf Düsseldorf über. Und da das Fürstentum Lippe-Detmold den Wiener Kongress ohne territoriale Veränderungen überstanden und niemals zur Preußischen Provinz Westfalen gehört hatte, sondern immer selbständig geblieben war, am 21.1.1947 dann NRW statt Niedersachsen zugeschlagen wurde, hat NRW heute in seinem Landeswappen neben dem Rhein und dem Westfalenroß auch die Lippische Rose.

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 Wappen von NRW

Zu Preußen zu gehören, bot zu jener Zeit durchaus Vorteile, denn es schuf eine weitgehende Vereinheitlichung der Lebensumstände in seinen Provinzen, mit einer Ausnahme, dem Gerichtswesen, das erst am 1. Januar 1900 mit der Einführung des BGB diesen Stand erreichte.

1823 wurden durch Gesetz in allen preußischen Provinzen Versammlungen der Stände – das waren nicht vom Reich abhängige („mediatisierte“) Grafen und Fürsten, Adelige mit Rittergut, Bürger als Vertreter der Städte und Grundbesitzer auf dem Lande als Vertreter der Bauern -– eingerichtet, als Vorläufer eines zu schaffenden gesamtstaatlichen Parlaments.1826 eröffnete Oberpräsident von Vincke den ersten Westfälischen Provinziallandtag. Friedrich Wilhelm III. ernannte den Freiherrn vom Stein zum Landtagsmarschall, d.h., zum Vorsitzenden. Dieser Landtag setzte einen gewaltigen Modernisierungsschub in Bewegung.

Abb. 7a VomStein

Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein

Preußen initiierte eine Reformpolitik, die auf die Durchsetzung einer „bürgerlichen Ordnung“ abzielte. Dazu zählte die Schaffung einer berechenbaren Verwaltung und Justiz, das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen, die Emanzipation der Juden, die Städte erhielten eine neue Ordnung ebenso wie die ländlichen Gebiete, die Rahmenbedingungen für die gewerbliche Wirtschaft wurden durch ihre Befreiung von markthemmenden Zunftordnungen verbessert, Straßenbau, Schiffahrt, Eisenbahn, Zölle, Kreditwirtschaft und Versicherungen – alles wurde auf eine neue Grundlage gestellt, was in weiten Kreisen der Bevölkerung zur Akzeptanz der preußischen Herrschaft führte. Provinzialverwaltung und Provinzialparlament bildeten zusammen den Provinzialverband Westfalen, der manche Aufgaben effektiver lösen konnte als eine staatliche Zentralverwaltung (heute nennt man so etwas „Subsidiaritätsprinzip“). Gleichzeitig entstand dadurch eine größere Identifikation weiter bürgerlicher Kreise mit ihrer Provinz, so auch eine größere Legitimation der zentralen Herrschaft.

Abb. 7b Provinz_Westfalen_1905

Preußische Provinz Westfalen

Am größten war der Widerstand gegen Veränderungen im Bereich des Adels, der Stände und des Bildungsbürgertums. Daneben bestanden von Anfang an Ressentiments zwischen dem protestantischen Westfalen, z.B. der Grafschaft Mark mit Kamen, Minden-Ravensberg und dem Siegerland, und den katholischen Gegenden, den Fürstbistümern Münster und Paderborn und dem Herzogtum Westfalen, d.h., dem Erzbistum Köln (die Kölner Erzbischöfe waren seit 1180 auch Herzöge von Westfalen). Hier wird deutlich, daß Westfalen zu Beginn des 19. Jh. ein Konglomerat aus disparaten wirtschaftlichen, sozialen, konfessionell-kulturellen und politischen Regionen war, was noch heute erkennbar ist, wenn man das Ruhrgebiet mit seiner früheren Industrie und der durch Zuwanderung aus Ost– und Südeuropa bedingten heterogenen Bevölkerung, z.B. mit dem immer noch stark ländlich geprägten Münsterland vergleicht.

Im Jahre 1840 war auch Kamen direkt von solchen Vereinheitlichungsbestrebungen betroffen. Seit 1744 gab es hier die „Kirche der größeren evangelischen Gemeinde“, die heutige Pauluskirche, und die der kleineren, die heutige Lutherkirche. Erstere war reformiert, d.h., calvinistisch, letztere lutherisch. Der preußische König, Friedrich Wilhelm III., gleichzeitig summus episcopus, der oberste Bischof der Kirche in Preußen, hatte 1817 verfügt, daß sich die verschiedenen protestantischen Landeskirchen zu einer Union zusammenschlössen, was die beiden Kamener Gemeinden auch unterschrieben, aber nicht in die Tat umsetzten, was jedoch durchaus nicht der königlichen Verfügung widersprach, da diese sich vor allem auf die organisatorische Seite bezog.  Die echte Union kam erst 1920, als beide Kirchen auch ihre heutigen Namen bekamen.

Die nächste Etappe wurde von der 48er Revolution geprägt. Nachdem Friedrich Wilhelm IV. die ihm von der Frankfurter Nationalversammlung angebotene Kaiserkrone abgelehnt hatte und damit für die „Herrschaft kraft monarchischem Recht“ demonstriert hatte, wollte die republikanische Seite die Anerkennung der Reichsverfassung erzwingen. Daher kam es im Mai 1849 in Westfalen zu Aufständen. Eine der spektakulärsten Aktionen ereignete sich in Iserlohn, wo es in einer Schießerei zwischen märkischer Landwehr und preußischem Militär über 100 Tote gab, überwiegend Aufständische und Zivilisten.

Der Beginn der Industrialisierung in Westfalen in der Mitte des 19. Jh. verschärfte zunächst die Gegensätze zwischen den sich industrialisierenden Städten und den oft rückständigen ländlichen Regionen. In der Mitte des Jahrhunderts war die Kohleproduktion im Ruhrgebiet durch den Einsatz der Dampfmaschine und den Bau von Eisenbahnlinien richtig in Gang gekommen, und die Montanindustrie verlagerte sich immer stärker aus Randregionen in die Nähe der Kohlegruben. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts war das Ruhrgebiet das wirtschaftliche Zentrum der gesamten Provinz geworden. Dadurch kamen auch immer mehr Menschen in diese Region, vor allen Dingen aus Süddeutschland und Deutschlands Osten.

Als im Jahre 1871 Kamens erster Schacht abgeteuft wurde, wohnten hier 3723 Menschen. Aber schon 1900 war ihre Zahl auf 9888 gewachsen. Die Zahl der Katholiken war von ca. 400 auf ca. 4500 gewachsen, eine Verelffachung in nur einer Generation! Und ähnlich stellte sich das in ganz Westfalen dar: 1871 lebten 1,78 Millionen Menschen hier, 1900 aber schon 3,2 Millionen.

So entstand in wenigen Jahrzehnten Europas größter Ballungsraum und das industrielle Herz des Kaiserreiches. Was lange Zeit der große Vorteil des Ruhrgebietes war, Bergbau, Eisen– und Stahl– und Textilindustrie, erwies sich seit den 1950er Jahren als Hemmschuh, weil diese sogenannten Altindustrien einen rapiden Niedergang erlebten – auch in Kamen gab es statt Berge– nun Kohlehalden – verschämt „nationale Kohlereserve“ genannt – jedoch die neuen Trägerbranchen des Wirtschaftswunders, Elektro–, Auto– und Chemieindustrie, sich vorwiegend in Süddeutschland befanden. Den Strukturwandel in NRW überstanden mit Abstand am besten die schon aus vorindustrieller Zeit herrührende diversifizierte Eisen–, Draht– und Werkzeugindustrie im Bergischen, Sauer– und Siegerland.

Und weil das Ruhrgebiet lange Zeit durch den Malocher geprägt war, konnte sich auch eine allenfalls rudimentäre bürgerlich-klassische Kultur entwickeln. Die Moderne in Kunst, Literatur, Musik und Architektur war nur schwach vertreten. Die einzige genuine Literaturströmung des Ruhrgebietes war die Gruppe „Literatur der Arbeitswelt“ mit ihrem prominentesten Vertreter Max von der Grün, der auch noch aus Franken zugezogen war. Wo es hervorragende Vertreter dieser Richtungen gab, gründeten sie doch keine Schulen, zogen aus dem Ruhrgebiet weg. Und ein zweiter Standortnachteil war das Fehlen von Universitäten und Fachhochschulen im Ruhrgebiet, die erst in den 1960er Jahren gegründet wurden, dann aber mit Macht und in großer Zahl, und die den notwendig gewordenen Strukturwandel anschoben, begleiteten und beschleunigten.

Abb. 8 essen-zeche-zollverein-spurensuche-im-kohlenpott-zv-09sw-606442a2-24f2-473a-b542-8594e2b94748Abb. 9 herbst-im-muensterland-9586d5b1-be43-4245-a4a1-0000ce14cea4

Ruhrgebiet   &   Münsterland   &   Sauerland

 

 

 

 

 

Und die ländlichen Regionen im Münsterland, im östlichen Sauerland und im Paderborner Raum erlebten vielfältige Gründungen inhabergeführter Kunststoff–, Chemie–, Möbel–, Elektro–, Maschinenbau– und Entsorgungsindustrien. Der ländliche Kreis Coesfeld ist z.B. die Region mit der niedrigsten Arbeitslosenquote in NRW. So wird sich wohl eine allmähliche Angleichung der Lebensumstände zwischen industriellen und ländlichen Regionen entwickeln.

Aufgrund der industriellen Entwicklung des Ruhrgebiets – jede Stadt mit eigener Zeche, Stahlwerk etc. – entwickelte sich ein Kirchturmdenken, das bis heute anhält und das gemeinsame Vorgehen aller Ruhrgebietsstädte zum gemeinsamen Wohl verhindert, auch wenn es in letzter Zeit nach dem Entstehen einer eigenen sozialen und politischen Trägerschicht mit regionalem Bewußtsein wiederholt Bestrebungen gegeben hat, eine gemeinsame Verwaltung zu etablieren, sei es die zum Kulturhauptstadtjahr Ruhr 2010 besonders lautstark propagierte Abb. 11 metropole ruhroder der Regionalverband Ruhr (rvr), der nach schon jahrelang

Aus der Zwischenablage

verfolgten Plänen als „Ruhrparlament“ von der Bevölkerung direkt gewählt werden soll, was ständig neue Diskussionen provoziert. Und auch wenn frühere Landesregierungen mit dem Slogan „Wir in NRW“ warben – ein richtiges NRW-Bewußtsein will sich nicht einstellen, zu stark ist immer noch die Rivalität zwischen Westfalen und dem Rheinland. Immer fühlt Westfalen sich gegenüber dem Rheinland benachteiligt: dort gibt es mehr Forschungsein-richtungen, wichtigere Institutionen, mehr Kulturförderung durch das Land usw. Und sicherlich liegt es immer noch daran, daß die industrialisierte Ruhr, früher im Bild dargestellt durch die Silhouetten von Zechen und Hochöfen und symbolisiert durch „Kumpel Anton“, heute durch den von Jürgen von Manger erfundenen Ruhrgebietsdialekt, und das ländliche Münsterland, seit Jahrhunderten durch den Kiepenkerl, Schinken und Pumpernickel repräsentiert, nur schwer gemeinsame Interessen haben können. Und ganz eigenständige Identitäten haben Ostwestfalen-Lippe, das Paderborner Land, Sauer– und Siegerland entwickelt.

Es ist noch unklar, wohin NRW, wohin Westfalen sich entwickeln wird, ob die eigenständigen Identitäten der Landesteile ein echtes Zusammenwachsen verhindern werden, ob zwischen Westfalen und dem Rheinland mit einem politisch und verwaltungstechnisch vereinigten Ruhrgebiet etwas Eigenständiges entstehen wird, oder ob tatsächlich das von vielen ersehnte Wir-Gefühl entstehen wird. Wie auch immer die Entwicklung verlaufen wird, die regionalen Besonderheiten jedes Landesteils werden für zumindest regionale Identitäten sorgen. Westfalen bleibt auf jeden Fall Westfalen.

Bildnachweis:

Wikipedia: Nr. 1 / 4 / 5 / 7a

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Presseamt Willingen: 10

KH

9. Zeitzeichen

von Klaus Holzer

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Photo: Jürgen Dupke

9. Zeitzeichen des Kultur Kreises Kamen am 23. April 2015 im Haus der Stadtgeschichte in Kamen:

Malte Hinz bei seinem Vortrag

9. Zeitzeichen des KKK zum Thema Pressefreiheit

Es war ein Novum bei den Zeitzeichen des Kultur Kreises Kamen, es waren keine Bilder, vom Beamer an die Wand projiziert, die das Interesse auf sich zogen, es war das reine Wort! Aber es bannte die Zuhörer und hielt sie auf ihren Plätzen fest!

Malte Hinz, bis Ende dieses Monats noch Chefredakteur der Westfälischen Rundschau, einer Zeitung ohne Redaktion – was er als falsche Entscheidung der Geschäftsleitung der Funke-Gruppe kritisierte – schlug am Donnerstagabend, 23. April 2015 im Haus der Stadtgeschichte in Kamen einen weiten Bogen vom Beginn der Pressefreiheit 1832 bis heute. Dazu konnte er auf reiche eigene Erfahrungen in 44 Jahren als Journalist zurückgreifen. Das tat er gekonnt und erhellte das vielleicht eher spröde Thema durch seinen fesselnden Vortrag.

Der Name Phillipp Jakob Siebenpfeiffer war wohl den wenigsten seiner Zuhörer jemals untergekommen, und doch steht er am Anfang der Pressefreiheit, die heute in Art. 5 des GG für Deutschland festgeschrieben steht. Dieser PhJS verteidigte das Recht, seine Meinung frei veröffentlichen zu dürfen gegen die damals herrschende Obrigkeit vehement und setzte sie, trotz aller Widrigkeiten, durch. Ihm folgten im Verlauf der letzten 180 Jahre immer wieder große Verleger und Journalisten, die, so MHs zentraler Begriff, „Haltung“ besaßen und das Wesen einer freien Presse begründeten und verfestigten: Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Rudolf Augstein, Henri Nannen, Axel Caesar Springer u.a.

Guter Journalismus, das ist sorgfältige Auswahl der Meldungen aus der täglichen Flut, gründliche Recherche, Bewahrung der Distanz zu den Mächtigen, Mut und Standfestigkeit, auch festes Auftreten der Lokaljournalisten gegenüber dem Rathaus – so verstanden, wird die Zeitung in ihrer alten Form auf Papier noch lange Bestand haben. Auch das Internet mit seiner Minuten-Aktualität könne einem solchen Qualitätsjournalismus nichts anhaben. Zwar sei die Bezeichnung „Journalist“ nicht geschützt, auch wer für die vereinseigene Angelzeitung schreibt, könne sich so nennen, doch betreffe das nicht die Bezeichnung „Redakteur“. Diese bezeichne einen Ausbildungsberuf, und das sei dann ein geschützter Begriff.

MH räumte ein, daß das Nebeneinander mehrerer Lokalredaktionen durch die Konkurrenzsituation im ganzen zu einer Verbesserung der journalistischen Arbeit führe und gab zu, das das Schließen der Redaktionen der Westfälischen Rundschau in den betreffenden Städten zu einer Verarmung der Presselandschaft geführt habe, was durch Anwesende bekräftigt wurde.

Mit Sorge blickte MH auf Tendenzen in der Politik, unter dem Deckmäntelchen der Sicherheit Journalisten (und Bürger) zu belauschen und auszuspähen, weil so Pressefreiheit unterwandert und ausgehöhlt werde, es ohne sie aber keine Demokratie gebe. Auch auf die Frage, was Satire darf, ging MH explizit ein: alles. Und der Karikierte, Entlarvte, muß alles ertragen. Und es kann keine Ausnahmen davon geben, weder für Einzelpersonen noch Gruppen noch für z.B. religiöse Gefühle, denn das würde ja eine Privilegierung bedeuten, und das wäre antidemokratisch. Da müssen die Angegriffenen jedweder Couleur jede Unverschämtheit und Geschmacklosigkeit über sich ergehen lassen, bis an die Grenze zur Volksverhetzung, die nicht überschritten werden darf. Freilich brauche nicht jedermann so etwas gut zu finden, aber das sei Geschmackssache, und Geschmack sei privat.

Anschließend gab es viele Fragen und eigene Ansichten zum Thema seitens des Publikums. Ein Teilnehmer beklagte die mangelhafte Vorberichterstattung über den Vortragsabend in der Lokalpresse. Für Schüler, meinte er, hätte der Abend Pflichtveranstaltung sein müssen. Ein Vertreter des KKK erläuterte daraufhin seine Bemühungen um angemessene, d.h., ausführlichere Berichterstattung. Er habe die Lokalredaktionen mehrfach angeschrieben und mit Informationen über den Vortrag versorgt, sie sogar persönlich aufgesucht und die Einladung wiederholt, sie ausdrücklich auch zur Berichtserstattung darüber eingeladen. Er müsse aber resigniert feststellen, daß Pressefreiheit auch das Recht der Presse beinhalte, über ein Ereignis nicht zu berichten. Vielleicht ist dieser Punkt schon das Ergebnis der verschwundenen Konkurrenz auf dem Kamener Pressemarkt?

Die Gefahr durch den islamistischen Terror wurden angesprochen, die allgemeine Situation in der Welt, wie die Schere im Kopf wirkt, wenn jemand, sobald er über Unliebsames berichtet, damit rechnen muß, beim nächsten Mal nicht mehr im Flugzeug der Kanzlerin zu sitzen, wenn es zu wichtigen Treffen geht, aber auch, wie sie wirkt, wenn Gefahr für Leib und Leben droht. Immer ist es eine Frage der Abwägung, die der einzelne Journalist vornehmen muß. Und damit kam MH auf seinen Anfang zurück: Dann ist „Haltung“ gefragt. Denn Pressefreiheit geht über alles.

KH

 

Malte Hinz, Die Presse ist frei – kein Aber! 

Pressefreiheit ist ein hohes Gut, das es unter allen Umständen zu bewahren gilt. Gilt das nur in Sonntagsreden oder auch, wenn es darauf ankommt?

Am 7.1.2015 ermordeten islamistische Terroristen 12 Journalisten in den Redaktionsräumen der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Mittlerweile bringen nicht wenige Zeitungen aus Angst vor weiteren Anschlägen keine Mohammed-Karikaturen mehr, sofern sie nicht durch die Androhung von Gewalt schon vorher eingeschüchtert waren. Wer die Sprachregelungen der Political Correctness nicht beachtet, wird umgehend im Internet niedergemacht. Wer hält solchem Druck stand? Ist, wer ihm nachgibt, Feigling oder Realist oder einfach Mensch?

Sind Situationen vorstellbar, in denen auf Pressefreiheit freiwillig verzichtet wird, z.B., wenn es um die Sicherheit einer Gesellschaft geht? Was darf, was muß Satire? Heißt Pressefreiheit, daß über alles berichtet werden muß? Wann setzt die Schere im Kopf an? Kann Pressefreiheit mißbräuchlich benutzt werden, z.B., zur Meinungsmache? Geben wir mit der Pressefreiheit Grundwerte unserer Zivilisation auf?

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Der Referent des Abends ist den Kamenern gut bekannt: Malte Hinz (Photo: WR), Chefredakteur der Westfälischen Rundschau, der lange in den heimischen Redaktionen in Kamen und Bergkamen gearbeitet hat. Angesichts der gegenwärtigen politischen Situation sind die Ausführungen eines Journalisten zum Thema Pressefreiheit sicherlich von besonderem Interesse, scheint doch Pressefreiheit derzeit von allen Seiten bedroht, sei es „embedded journalism“ oder die islamistische Bedrohung auch in unserem Land. Oder einfach durch zu große Nähe zu Regierenden. Die Frage nach dem Wert der Pressefreiheit stellt sich umso dringlicher. Für Malte Hinz gibt es „kein Aber“. Er tritt offensiv für die Freiheit der Presse ein. Eine Diskussion im Anschluß an seine Ausführungen ist erwünscht.

Zu dieser Veranstaltung am Do., 23. April 2015 um 19.30 Uhr lädt der KKK Sie ins Haus der Stadtgeschichte in Kamen, Bahnhofstraße 21, ein. Der Eintritt ist frei. Spenden für Projekte des KKK in Kamen sind willkommen.

KH

Die Neugestaltung des Seseke-Ufers

von Klaus Holzer

In Kamen steht eine wesentliche städtebauliche Veränderung der Innenstadt an. Nach der baulichen Veränderung des städtischen Nordpols (Vogelhof/Hertie) und des Südpols (Bahnhof) wird jetzt sozusagen auch der Äquator in Angriff genommen. Städtebaulich ist die Umgestaltung des Seseke-Ufers von großer Bedeutung, darf sich doch keine Stadt, die so glücklich, an einem Fluß zu liegen, diese Chance auf eine innerstädtische Promenade entgehen lassen.

Im April wird die Stadt die von einem Fachbüro entwickelten Umbaupläne der Öffentlichkeit vorlegen und sie über Einzelheiten der Neugestaltung informieren. Diese Pläne stützen sich auf Ideen, die in einem Wettbewerb im Jahre 2013 entstanden. Jetzt geht es also um die konkrete Umsetzung.

Schon 2013 brachte sich der KKK mit schriftlich formulierten Vorschlägen im Vorfeld des Wettbewerbs ein, u.a. mit der Idee einer Literaturpromenade. Jetzt hat der KKK diese Idee konkretisiert und am 23. Februar d.J. Bürgermeister Hermann Hupe mit der Bitte zur Kenntnis gebracht, sie ebenfalls im Rahmen der öffentlichen Präsentation als möglichen Bestandteil der Umgestaltung vorzustellen.

Hier ist unser Vorschlag (Design: Reimund Kasper):

Entwurf 1 a

Vorschlag 1: Einfache Tafel in kräftiger Farbe, einmal gefaltet, Höhe 180 cm, Breite 45 oder 50 cm

Entwurf 1 b

Vorschlag 2 (als Alternative gedacht): Die Tafel wird ergänzt durch ein „Fenster zur Welt”, das einen sich ständig ändernden Blick auf den Fluß und seine Umgebung erlaubt (vgl. auf das Kunstwerk „Jetzt und der Fluß” an der Braunebach-Mündung). Ansonsten gleiche Ausführung.

Das dahinter stehende Konzept:

Der Kultur Kreis Kamen schlägt vor, bei der Neugestaltung des Sesekeufers in der Kamener Innenstadt in die Planung folgenden Vorschlag aufzunehmen:

A. Anlegen einer Literaturpromenade:

  1. Es werden zwischen der Fünfbogenbrücke und der Vinckebrücke (Eilater Weg) acht Stelen aufgestellt. Die Maße der Stelen: Höhe 180 cm, Breite 45 cm.
  2. Auf den acht Stelen werden Folien/AluDibond-Tafeln für wechselnde Exponate befestigt. Die werden mit einer auswechselbaren Folie gegen Vandalismusschaden überzogen.
  3. Unter „Exponate“ verstehen wir ausgesuchte Texte zu Dichter–, Philosophen– und anderen Jubiläen oder thematisch orientierte Texte. Mögliche Themen: Freude, Glück, Frieden, Wasser, Jugend, Alter usw. Hier kommen Aussagen bekannter Personen der Weltgeschichte wie auch von Schriftstellern usw. in Frage.
  4. Die Zahl der Stelen orientiert sich an der Zahl der Kamener Partnerstädte, die so in Aktionen mit je einem Inhalt in der jeweiligen Landessprache eingebunden werden könnten.
  5. Die Auswahl der Inhalte kann in Kooperation z.B. mit den weiterführenden Schulen in Kamen vorgenommen werden.

B. Wirkung:

  1. Die durch ihre Größe und Farbgebung auffallenden Stelen geben dem Flußufer ein gestalterisches Element.
  2. Sie betonen den Promenadencharakter des Flußufers und laden dazu ein, zu „promenieren“.
  3. Die Spaziergänger werden stehenbleiben und sich unterhalten und gleichzeitig angeregt fühlen.
  4. Ein relativ häufiger Wechsel der Inhalte vermeidet Langeweile. An kommenden Inhalten kann Interesse geweckt werden, das durch entsprechende Presseberichterstattung gefüttert werden kann.
  5. Durch die Orientierung der Zahl der Stelen an der Zahl der Kamener Partnerstädte können gemeinsame Aktionen mit hohem Symbolcharakter vorgenommen werden (s.a.o., A 4).
  6. Durch die Beteiligung der Schulen und einer möglichst großen Zahl von Schülern wird eine Vielzahl von Mitwirkenden eingebunden.
  7. Daraus wird ein Gefühl der Mitverantwortung für diese Stelen geweckt werden, was im günstigsten Fall mithilft, Vandalismus zu begrenzen oder sogar zu vermeiden.
  8. Die mitwirkenden Schüler und ihre Familien werden vielleicht ein stärkeres Gefühl für Kamen, ihre Heimatstadt, erfahren.
  9. Nach der Umgestaltung des Bahnhofsumfeldes im Süden der Stadt (Verkehr) und des ehemaligen Vogelhofs (Hertiegelände/Handel) im Norden entwickelt Kamen in der Stadtmitte einen Anziehungspunkt mit Unterhaltungs– und Bildungswert. Die attraktiv gestalteten Stelen werden ein Schmuck für die Promenade werden.
  10. Es wird sich eine attraktive Flußpromenade entwickeln, die möglicherweise Besucher aus der näheren Umgebung anziehen wird. (Touristik)
  11. Es ist zu empfehlen, die Tafeln bei Dunkelheit anzuleuchten, so würde das auch bei Nacht den Promenadencharakter verstärken bei gleichzeitiger Erhöhung der Sicherheit. Durch raffinierte Beleuchtung würde eine völlig neue künstlerische Dimension eröffnet.
  12. Solche Stelen könnten sukzessive auch auf anderen Flächen im Stadtgebiet, z.B. in Parks, aufgestellt werden.

C. Kosten und laufende Maßnahmen:

Die Kosten pro Stele belaufen sich auf ca. € 500,00 für die einfachere Version, ca. 650,00 für die Version mit dem „Fenster zur Welt“, beide inkl. Pulverbeschichtung

Die Kosten je bedruckter Folie belaufen sich auf ca. € 80,00

Die Kosten für eine bedruckte AluDibond-Tafel belaufen sich ebenfalls auf ca. € 80,00

Das Aufstellen der Stelen kann

  1. im Zuge der Baumaßnahmen der Umgestaltung von der Baufirma mit vorgenommen werden
  2. vom städtischen Baubetriebshof kostengünstig vorgenommen werden
  3. eventuell von Bautrupps des Lippeverbandes ausgeführt werden, da die Stelen vermutlich am besten hinter den vorhandenen Zäunen auf dem Ufergelände aufzustellen sind. Dort bilden sie keine Hindernisse und sind zusätzlich geschützt
  4. die Aufstellungsorte bzw. die Frequenz der Tafeln wird in Abstimmung mit der Stadt Kamen bzw. dem LV vorgenommen

Das Wechseln der Textfolien ist einfach und läßt sich im Zuge der normalen Überprüfungen des Seseke-Ufers durch den städtischen Baubetriebshof durchführen. Dazu wird die alte Folie abgenommen und die neue aufgeklebt. Einfacher ist das Verfahren mit AluDibond-Tafeln, die nur aufgeschraubt zu werden brauchen.

Die Stelen sollten in das Eigentum der Stadt übergehen.

Bei den oben gemachten Angaben handelt es sich um einen Vorschlag, dessen Einzelheiten variabel sind.

KH

Glocken der Kirche Hl. Familie – Der KKK als Vermittler erfolgreich

von Klaus Holzer

Im Sommer 2014 entdeckte der KKK auf dem Städtischen Bauhof in Kamen zwei alte Glocken, die dort abgestellt und offenbar vergessen worden waren. Es tat weh, zwei so schöne Glocken in so trostloser Umgebung zu sehen! Und auf dem Bauhof störten sie nur, nahmen Platz weg. Ein kurzer Blick auf die Inschrift zeigte sogleich, daß es sich um „katholische“ Glocken handeln mußte. Der Text war lateinisch und verwies auf Maria.

 

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Da niemand wußte, wo sie herkamen und wo sie hingehörten, tauchte ein KKKler in die Abteilung „Zeitungen“ des Stadtarchivs und wurde schnell fündig. Es handelte sich um zwei von ehemals drei Glocken der Kirche Hl. Familie, die 1987 aus dem Turm entfernt werden mußten, da ein Glockensachverständiger feine Risse im Korpus festgestellt hatte und niemand garantieren konnte, daß sie beim Läuten nicht herunterfallen würden. Es gab also ein sofortiges Läuteverbot. Der damalige Pfarrer Beule ignorierte dieses Verbot jedoch an Silvester 1987 und ließ die Glocken noch einmal kräftig über Kamen klingen, da er, zu Recht, annahm, daß sich zu der Zeit sowieso niemand unter dem Turm aufhalten würde.

Aber da eine Kirche ohne Geläut die Gläubigen nicht zum Gottesdienst rufen kann, wurden sogleich neue bestellt, die im Frühjahr 1988 in den Turm gehoben wurden.

Wieso bekam eigentlich eine Kirche, die erst im Herbst 1902 konsekriert worden war, schon 1922 neue Glocken? Die Erstausstattung konnte doch nicht schon schadhaft sein? Aber 1917 geschah der katholischen Kirche Hl. Familie genau das gleiche wie der evangelischen Pauluskirche: die alten Bronzeglocken mußten abgegeben werden, damit aus ihnen Munition für den Krieg gefertigt werden konnte. Und ebenso bekamen beide Kirchen 1922 neue Stahlglocken aus Apolda in Thüringen (wo es übrigens ein sehenswertes Glockenmuseum gibt!).

Und als die alten Glocken aus dem Turm entfernt wurden, sicherte sich die Stadt Kamen das Anrecht auf zwei von ihnen, stellte sie auf dem Bauhof ab mit dem Versprechen, innerhalb von acht Tagen einen neuen Aufstellort für sie zu finden. Aber aus den acht Tagen wurden 25 Jahre.

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Am Freitag, 23. Januar 2015, sind sie aber (fast) an ihren alten Ort zurückgekehrt. Am Weg zwischen dem Portal der Kirche Hl. Familie und dem Nordzugang zu ihrem Gelände, direkt neben dem Turm, hat die Kirchengemeinde etwas Gebüsch gerodet und zwei Stellflächen angelegt, auf denen die große und die kleine ehemalige Glocke nun ein neues Zuhause gefunden haben. Wohl auf Dauer. Und Kamen ist um eine Attraktion reicher. Wer kann schon richtige Glocken sehen und sogar anfassen?

KH

Johannes Buxtorf – Vortrag am 13. Januar 2015

Herzlichen Glückwunsch zum 450. Geburtstag

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Johannes Buxtorf

dem Begründer der wissenschaftlichen Hebraistik

dem wirkmächtigsten Kamener aller Zeiten

Dr. Christoph Buxtorf und Dr. Regine Buxtorf, zwei Nachfahren des Johannes Buxtorf, kommen anläßlich dieses Geburtstages am 13. Januar 2015 nach Kamen

(Bitte lesen Sie auch den Artikel über JB! Hier klicken! Hinweis: am 13. Januar 2015 hält Horst Delkus im Kamener Museum einen Vortrag über JB)

KH

Fritz Heitsch – Stadtdirektor und Künstler

von Klaus Holzer

In unserer Vorstellung gibt es kaum etwas Trockeneres als Verwaltungsbeamte. Sie verfahren streng nach Recht und Gesetz, neigen zu bürokratischem Verhalten, treiben uns manchmal zum Wahnsinn, dennoch geht es ohne sie nicht.

Ganz anders der Künstler. In allem scheint er das Gegenteil des Bürokraten zu sein. Große Freiheit und Gestaltungskraft aus ihm selber heraus, gewonnen aus sich selbst auferlegten Regeln, treiben ihn zu schöpferischem Tun.

Aus der Zwischenablage Fritz Heitsch, 1962

Und es scheint ausgeschlossen, daß sich diese einander widersprechenden Eigenschaften in einer Person verbinden können. Und doch ist es vorgekommen, in Kamen: der frühere Kamener Stadtdirektor Fritz Heitsch war beides.

FH wurde am 23. Juni 1900 in Elberfeld (heute Stadtteil von Wuppertal) geboren, gerade noch rechtzeitig, um im Ersten Weltkrieg als Soldat zu dienen. Sein Vater war Prof. Louis Heitsch, Bildhauer und Oberlehrer an der Handwerker– und Kunstgewerbeschule in Elberfeld. Anders als nach seiner Herkunft zu erwarten gewesen wäre, wurde Fritz, nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt war, Bergmann auf der Zeche Sachsen in Heessen, wo er fast zwei Jahrzehnte arbeitete, mehrere davon als Betriebsrat. 1922 trat er in die SPD ein.

Ende der 1930er Jahre inhaftierten ihn die Nationalsozialisten im KZ Schönhausen in Bergkamen, von wo er nach kurzer Zeit in das Lager Wittlich/Mosel verlegt wurde. Als echter Sozialdemokrat hatte er sich geweigert, mit „Heil Hitler“ zu grüßen.

Während dieser Zeit als Gefangener entsann er sich seiner Kindheit in einer Künstlerfamilie und fand zur Kunst, die es ihm ermöglichte, diese belastende Zeit ohne größere Schäden an Körper und Geist zu überstehen.  Aber er machte es sich nicht leicht, er wählte den schweren Weg, er brachte sich das zu seiner Kunst notwendige Handwerk selber bei. Und für seine Plastiken nahm er nicht die leichter zu bearbeitenden Werkstoffe wie Holz oder Töpferton, sondern den spröden Mergelton, aus dem auch Ziegel gefertigt werden.

Büste FH von W. Becker 1943 KopieW. Becker, Büste Fritz Heitsch, 1943

 Nach der Zeit in Wittlich war er gesundheitlich angeschlagen und kam dennoch, wieder zurück in der Heimat, erst einmal als Sanitäter an die Westfront, nach seiner Entlassung 1940 ins Knappschafts-krankenhaus nach Hamm, wo er seine künstlerische Tätigkeit wieder aufnahm. Schon 1942 war er an einer Ausstellung in Hamm beteiligt. 1943 wurde er an die Landwehr überstellt. Inzwischen war seine künstlerische Begabung sogar den Nazis aufgefallen, die ihn bisher alsSozialisten diskriminiert hatten. In der Wochenschau vom 20. Oktober 1943 wird FH als „Kumpel auf einer deutschen Zeche“ porträtiert, der „ein guter Bergmann“ sei, der „seine freie Zeit als Bildhauer“ verbringe. So benutzten sie ihn, den sie wenige Jahre zuvor noch ins KZ gesteckt hatten, nun für ihre Zwecke.

Bäuerin_Mutter    Fritz Heitsch, Bäuerin, o.D. | Mutter mit Kind, o.D.

Am 25. Mai 1945, gleich nach Kriegsende, ernannte der englische Kommandant von Hamm FH, den sozialdemokratischen Betriebsrat und ehemaligen KZ-Insassen, zum Bürgermeister von Werries, seinem Wohnsitz seit 1923. Das geschah ganz lakonisch auf einem etwa 5 cm breiten Streifen Papier, mit Schreibmaschine geschrieben: „Hereby I appoint Herr Heitsch Bürgermeister of Werries.“ Nur ein Jahr später bestellte ihn derselbe englische Kommandant zum Amtsbürgermeister des Amtes Rhynern. Den nächsten Schritt auf der Karriereleiter machte er, als Hubert Biernat, damals Landrat in Unna, ihn zu sich ins Kreishaus holte. Doch schon 1948 wurde er für 12 Jahre zum Stadtdirektor in Kamen gewählt.

In diese Zeit fallen Kamens erste größere Industrieansiedlungen: Kettler, Winkelhardt, GZK, mit Paul Vahle fuhr er einen ganzen Sonntagnachmittag lang durch Kamen, bis dieser ein passendes Grundstück gefunden hatte. Wie weitsichtig dieses Handeln war! Vahle ist heute eines der innovativsten Unternehmen in Kamen, ein Vorzeigebetrieb, Weltmarktführer auf seinem Gebiet, der berührungslosen Stromübertragung. Bei all diesem Handeln stand FH unter dem immensen Druck der „Waschkauenfraktion“, die sich sorgte, daß dem Bergbau Arbeiter verloren gehen könnten, die die Arbeitsplatzkonkurrenz fürchtete. FH war der Weitsichtigere.

In diese Zeit fiel die schwierige Aufgabe des Wiederaufbaus der teilweise zerstörten Stadt. Man sollte also meinen,  damit war FH ausgelastet. Doch fand er immer noch Zeit für seine Plastiken, vielleicht brauchte er sie auch, um zwischen all den schweren Entscheidungen jener Zeit Luft zu schnappen. Sein Thema waren immer wieder die Erfahrungen seiner frühen Jahre: Bergmann, Bäuerin, Mutter mit Kind, sie alle Figuren, denen man ansah, daß sie in ihrem Leben immer kämpfen mußten. Für ihn war die Frage nie, die damals die Künstler umtrieb: figürlich oder abstrakt? Seine Erfahrungen waren konkret, sie mußten konkret dargestellt werden. Sie sollten die Lebenswirklichkeit widerspiegeln.

Bergmänner             Fritz Heitsch, Bergmann, o.D. | Bergmann, o.D.

In den 1950er Jahren traf er auch mit bekannten Künstlern unserer Region zusammen: Max Schulze-Sölde, Fritz und Eberhard Viegener, Hans Güldenhaupt, Lutz Ante, Heinz Wittler, u.a.

Als wäre es noch nicht genug, sich als oberster Verwaltungsbeamter und als ein anerkannter Künstler in Kamen zu verewigen, wurde er auch noch zum Mäzen einer jungen Künstlergeneration. Helmut Meschonat, ein entfernter Verwandter, ebenfalls aus Werries nach Kamen gekommen, Ulrich Kett und Heinrich Kemmer gründeten 1959 die Künstlergruppe „Schiefer Turm“, als deren, heute würde man sagen, Manager der umtriebige Emil Künsch auftrat. Diese drei Künstler brauchten dringend ein Atelier, in dem sie ihre großformatigen Arbeiten anfertigen konnten. Emil Künsch wandte sich mit der Bitte um Hilfe an die Stadt und fand in FH jemanden, der das Verständnis für dieses Bedürfnis sogleich in die Tat münden ließ. Jetzt wurde der Dachboden des Amtsgerichts, des heutigen Hauses der Kamener Stadtgeschichte, von den Beteiligten in Gemeinschaftsarbeit in ein Atelier verwandelt. Und weil FH an der Gruppe ein persönliches Interesse nahm, wurde er gleichzeitig Mitglied und stellte ab 1961 mit den Jungen zusammen aus.

Kinderkopf KopieFritz Heitsch, Sohn Klaus, ca. 1945

Und auch in anderer Hinsicht half er ihnen, ihren Weg in die Kunst zu finden, indem er sie mit den arrivierten Künstlern aus seiner Bekanntschaft zusammenbrachte, was ihnen immer wieder neue Impulse verlieh.

Daß er gleichzeitig auch ein guter Verwaltungschef gewesen sein muß, beweist die Tatsache, daß er 1961 für eine zweite zwölfjährige Amtsperiode als Stadtdirektor gewählt wurde. In dieser Funktion wurde er zum Vorsitzenden des Deutschen Städtebundes im Regierungsbezirk Arnsberg gewählt, er, der Sozialdemokrat, von einer CDU-Mehrheit!

Doch 1963 erlitt er einen Schlaganfall und war fortan nicht mehr in der Lage, sein Amt auszuüben. Am 28. Februar 1965 schied er offiziell wegen Erreichens der Altersgrenze aus. Seine Gesundheit hatte ihn zwar im Stich gelassen, doch von der Kunst ließ er nicht. Sie war der Trost seiner letzten Lebensjahre.

Am 28. Januar 1971 starb Fritz Heitsch in Kamen und wurde auf dem alten Friedhof an der Friedhofstraße beigesetzt.

                                                          FH Unterschrift 111kb Kopie

 

Seine Plastiken stehen heute überwiegend in privaten Sammlungen, doch sind einige auch in öffentlichen Instituten untergebracht. Sein Sohn Klaus Heitsch hat eines der für FH typischen Motive dem Kamener Haus der Stadtgeschichte geschenkt. Hier hat der „Bergmann“ seinen Platz in der Vitrine neben dem Stollen gefunden, den Kamener Bergleute hier eingerichtet haben, damit die Erinnerung an das nicht verlorengeht, was Kamen 110 Jahre lang geprägt hat, im guten wie im schlechten, der Bergbau.

KH