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Zum Fall der Berliner Mauer vor bald 30 Jahren: das 15. ZZ des KKK

von Klaus Holzer

Als am 15. Juni 1961 Walter Ulbricht, Vorsitzender des Staatsrats der DDR und Erster Sekretär der SED und damit mächtigster Mann im Staate, auf einer Presskonferenz von einer Frankfurter Journalistin gefragt wurde, ob er die Staatsgrenze der DDR befestigen wolle, antwortete der: „ …. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Selten hatte die Aussage eines Staatsoberhaupts kürzere Lügenbeine. Zwei Monate später begann die DDR, um Ostberlin eine Mauer zu errichten, den Ostteil der Stadt vom Westteil abzuschneiden.

Abb. 1: Checkpoint Charlie, 27. Okt. 1961

Am 21. Oktober 1961 stand die Welt dicht vor einem Krieg zwischen Ost und West, der leicht hätte atomar werden können: 30 amerikanische und 30 sowjetische Panzer standen sich in Berlin am Checkpoint Charlie gegenüber, und die Entscheidung über Krieg oder Frieden lag plötzlich bei den zwei Panzerkommandanten. 24 Stunden Warten, bis beide Seiten ihre Panzer zurückzogen. Immerhin hatte der Zwischenfall aus westlicher Sicht einen Vorteil gebracht: es war damit klar, daß Ostberlin nicht „die Hauptstadt der DDR“ war, wie die Regierung der DDR es immer wieder behauptete, sondern der Sowjetunion unterstand, d.h., immer noch Teil des Viermächtestatus’ ganz Berlins war.

Abb. 2: Die drei Alliierten Führer in Potsdam

(17. Juli – 2. Aug. 1945)

Wie konnte es zu dieser Situation kommen? Nach dem verlorenen Krieg wurde Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt, Berlin entsprechend in vier Sektoren. Von Anfang an war die Berliner Situation besonders schwierig, weil es von sowjetisch kontrolliertem Territorium umgeben war. Weil sich die Lebensverhältnisse zwischen Ost und West weit auseinander entwickelten, und das bezog sich nicht nur auf die wirtschaftlichen Verhältnisse, zog es zunehmend mehr Ostdeutsche in den freien und reicheren Westen. Zwischen 1949 und 1961 verließen rund 2,9 Mill. Menschen den Osten, vor allem gut ausgebildete Arbeiter und Akademiker, die auf beiden Seiten gute Chancen besaßen. Allein im Juli 1961 flüchteten ca. 30.000 Menschen, d.h., etwa 1.000 am Tag im Durchschnitt. Zu einer weiteren Schwächung des Ostens trug das wirtschaftlich voll gerechtfertigte Wechselkursverhältnis der Mark der DDR und der D-Mark (der Deutschen Mark West) bei, das damals 4:1 betrug. So kam es zum Abfluß von Waren und zum illegalen Geldumtausch. Die DDR stand damit vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Da sah das ZK der SED keinen anderen Ausweg als die totale Abschottung seines Landes gegenüber dem Westen, mit Zustimmung der Sowjetunion.

Abb. 3: Bau der Mauer (13. Aug. 1961)

Das Ergebnis war die Berliner Mauer, monströses Symbol barbarischen Denkens. Am 13. August 1968 baute die DDR unter dem Schutz von Volkspolizei und Nationaler Volksarmee eine rund 160 km lange Mauer um Ostberlin, mit 296 Beobachtungstürmen und vielen weiteren technischen Einrichtungen, die „Republikflucht“ verhindern sollten, zusätzlich zu der 1.360 km langen Zonengrenze. Ein Land mauerte also seine Bürger ein, machte sie zu Gefangenen im eigenen Land, nahm ihnen viele Rechte, Dinge, die im Westen längst selbstverständlich waren und offenbar ein menschliches Grundbedürfnis darstellen. Das Ergebnis: ca. 180.000 DDR-Bürger flohen trotzdem in den Westen, an der Berliner Mauer wurde eine nicht genau bekannte Zahl an Flüchtlingen getötet, man schätzt zwischen 130 und 269. Der Drang nach Freiheit und besserem Leben läßt Menschen alles riskieren.

Abb. 4: Tote an der Mauer (17. Aug. 1961: Peter Fechter)

In dieser politisch auf Dauer unerträglichen Situation kam es in den Folgejahren auf Grund verschiedener politischer Initiativen und Verträge zu einer gewissen Entspannung zwischen Ost und West. Hier ist vor allem Willy Brandts Ostpolitik zu nennen. Einen wichtigen Augenblick gab es am 12. Juni 1987, als der damalige US-Präsident Ronald Reagan bei einer Rede an der Mauer die Worte sprach: „Mr Gorbachov, tear down this wall.“ Was aber damals niemand ernst nahm. Reagans Worte wurden als bloße Pflichtübung verstanden.

Abb. 5: Ronald Reagan: „Mr Gorbachov, tear down this wall.“

Dann aber kam es kurz vor dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR im Sommer 1989 in vielen Großstädten Ostdeutschlands zu Massendemonstrationen, auf denen die Menschen Reisefreiheit für alle forderten, auch das Recht, in den Westen zu reisen. 

Der Drang der Ostdeutschen, endlich frei zu sein, wurde immer stärker. Vor allem in Leipzig versammelten sich mehr und mehr Menschen auf den Straßen und protestierten gegen das SED-Regime. Als Katalysator fungierte hier besonders die Leipziger Nikolaikirche, die zu jener Zeit bereits eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Unzufriedenen hatte. Schon lange vorher hatte ihr Pastor Christian Führer damit begonnen, zu Fürbitten für die vielen von der Stasi Verhafteten einzuladen. Trotz der Repressalien der Behörden nahm die Zahl der Teilnehmer beständig zu. Am 9. Oktober 1989 wurde die Nikolaikirche zum Ausgangspunkt für die Demonstration der 70.000 in Leipzig, der „Friedlichen Revolution“. Ohne die Kirchen der DDR und ihr Angebot, Sicherheitsraum zu sein, wäre es wohl nicht zu einem gewaltfreien Ende der DDR gekommen. Die Deutschen mögen nie eine richtige Revolution hinbekommen haben, aber sie sind die einzigen auf der Welt, die dafür eine friedliche Revolution geschafft haben.

Abb. 6: Leipziger Montagsdemonstration (9. Okt. 1989)

Es gab für DDR-Bürger zwar Sonderreiseregelungen für Rentner und Verwandtenbesuche im Westen, doch allgemein waren Reisen selbst für privilegierte DDR-Bürger nach außerhalb der DDR nur in die „sozialistischen Bruderländer“ erlaubt. Dorthin waren im Sommer 1961 viele tausend DDR-Bürger gereist, vor allem in die Tschechoslowakei und nach Ungarn. Da sich große Menschenmassen weigerten, in die DDR zurückzufahren, ergab sich für die beiden Länder ein Problem, das sie schließlich lösten, indem sie ihre Grenzen nach Österreich öffneten. Das Ergebnis war eine Massenflucht in den Westen. Und der Druck auf die DDR erhöhte sich weiter. Das ZK der SED erließ daraufhin eine Regelung für die ständige Ausreise.

Abb. 7: Ungarn öffnet die Grenze zu Österreich (19. Aug. 1989)

Und jetzt erhielt die Situation eine gewisse Eigendynamik, nicht ohne Elemente einer Burleske. Diese Regelung sollte am 10. November 1961 frühmorgens veröffentlich werden. Davon wußte aber der zuständige Sekretär für das Informationswesen des Zentralkomitees der SED, der ehemalige Journalist Günter Schabowski, nichts. Er hatte die Informationen über die ZK-Sitzung für eine Pressekonferenz am Vorabend von Egon Krenz, dem Nachfolger Erich Honeckers als Staatsratsvorsitzender seit dem 6. Oktober 1989 erhalten. Es gibt wohl keine zweite an sich so unbedeutende Situation in der Geschichte, die derartig große politisch-historische Bedeutung erlangt hätte. Dabei ereignete sich eine, fast möchte man sagen, Slapstick-Einlage.

Als Schabowski gefragt wurde, wann die neue Reiseregelung in Kraft trete, schaute er eher hilflos auf seine Notizen und antwortete dann: „Nach meiner Kenntnis ist das … sofort … unverzüglich.“ Weil diese Pressekonferenz sowohl über West- wie auch Ostrundfunk direkt übertragen wurde, sprach sich seine Ankündigung sofort herum. Tausende Ostberliner strömten zu den Grenzübergängen und wurden durchgelassen, weil die Grenzpolizisten keine Befehle hatten, wie zu reagieren war, und weil der Druck durch die Massen auf sie zu hoch wurde. Der Sog der Freiheit war zu groß, als daß er hätte gestoppt werden können. Aus zwei Ländern wurde eins.

Abb. 8: Menschenmassen am Grenzposten

Wie reagierte das Ausland, vor allem der Westen, darauf? Man sollte annehmen, daß allerorten Begeisterung herrschte. Erinnern wir uns aber an 1961: Der US-amerikanische Präsident John F. Kennedy, der wenige Tage nach dem Mauerbau bei einer Rede in Berlin die Worte sprach: „Ich bin ein Berliner“ und damit so große Begeisterung auslöste, daß dieser Satz immer noch als geflügeltes Wort gilt und in vielerlei Abwandlungen seither verwendet wurde, sagte gleich nach dem Mauerbau im Kreis seiner Berater: „Eine Mauer ist verdammt noch mal besser als Krieg“. Und Harold MacMillan, der britische Premierminister sagte öffentlich:„Die Ostdeutschen halten den Flüchtlingsstrom auf und verschanzen sich hinter dem eisernen Vorhang. Daran ist an sich nichts Gesetzwidriges“. Nach westlicher Solidarität klang das wahrhaftig nicht. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß das alles sich erst 16 Jahre nach Kriegsende ereignete – es muß schon befremden.

Abb. 9: „Öffnung des Eisernen Vorhangs“, Plastik von Wolfgang Dreysse, Quedlinburg, aufgestellt in Hameln

Und nach dem Fall der Mauer gab es ebenfalls nicht ungeteilte Begeisterung, außer, dieses Mal, beim amerikanischen Präsidenten George H. Bush, der die deutsche (Wieder)vereinigung vorbehaltlos unterstützte. Der französische Premierminister François Mitterrand hielt den deutschen Wunsch nach Vereinigung für legitim, hatte aber große Angst vor der deutschen wirtschaftlichen Macht. Sein Landsmann François Mauriac ist für seinen Ausspruch bekannt: „Ich liebe Deutschland. Ich liebe es so sehr, daß ich zufrieden bin, weil es gleich zwei gibt“. Die britische Premierministerin Margret Thatcher mußte von ihrem persönlichen Berater ermahnt werden, zum Jahrestag der Vereinigung die Worte „Freund, Verbündeter und Partner“ zu verwenden. Und am 3. Oktober 1990 erhielt sie die schriftliche Empfehlung eines weiteren Beraters: „Wir sollten nett zu den Deutschen sein“. Sie selber hielt uns für „toads“, die zwielichtige, angeberische Kröte aus dem in England überaus bekannten Roman „The Wind in the Willows“ von Kenneth Grahame. Beide, Mitterrand und Thatcher, beknieten Gorbatschow, er möge es nicht zu einem vereinten Deutschland kommen lassen.

Abb. 10: Die erste frei Wahl in der DDR (18. März 1990)

Demokratie heißt, die Wahl zu haben; die Wahl zu haben heißt, Freiheit zu haben. Mit dieser Freiheit übernehme ich aber auch die Verantwortung für mich und mein Tun. Frei zu sein, ist nicht einfach. 

Abb. 11: Gorbatschow stimmt der NATO-Mitgliedschaft Deutschlands zu (15. Juli 1990)

Deutschland mußte sich jedenfalls erst in seine neue Rolle finden. Bis dahin war es ein „wirtschaftlicher Riese“, jedoch ein „politischer Zwerg“ gewesen. Die alte Bundesrepublik hatte sich bequem im Viermächtestatus eingerichtet, sich unter dem amerikanischen Atomschirm zwar eine relativ große Wehrpflichtarmee gehalten, die aber ausschließlich Verteidigungsaufgaben im eigenen Land erfüllen sollte, auf der großen politischen Bühne überließ sie gern den alten Siegermächten das Wort, verwies in allen Konflikten auf seine belastete Vergangenheit und hielt sich heraus, rief manchmal leise von unter dem Tisch her: „Hallo. Ich möchte dabei sein.“ Aber jetzt mußte es an die Verantwortung ran: „Wir können uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Das ist der Grund, warum deutsche Soldaten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in einem Kampfeinsatz (auf dem Balkan) stehen“, erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Bundestag im Oktober 1998.

Und heute erleben wir die Fortsetzung: Soll, muß Deutschland seinen Verteidigungsetat auf 2% seines Haushalts erhöhen, so wie es sich 2014 in Wales und 2016 in Polen verpflichtet hat? Und wie es Trump immer wieder fordert, wodurch es vielen bei uns leicht fällt, dieses Ziel abzulehnen, weil man Trump ablehnt. Freiheit heißt eben auch, Verantwortung zu übernehmen.

1989 fiel die Mauer, 1990 vereinigten sich die beiden Teile Deutschlands zu einem Land. Nur wenige ahnten, welche Schwierigkeiten diese Vereinigung mit sich bringen würde. Was nicht verwundert, gab es doch keinen Präzedenzfall. Niemand hatte vorher aus zwei Ländern eins gemacht, noch dazu mit so extrem unterschiedlichen politischen Systemen. Ein neues Deutschland, das seinen Bürgern Freiheit bot, etwas, das den einen selbstverständlich geworden war, an das die anderen sich erst noch gewöhnen mußten. Daß nicht gleich alles so lief, wie man sich das vorgestellt hatte, belegt ein Ausspruch einer führenden DDR-Dissidentin, die später auch am Runden Tisch eine gewichtige Rolle spielte: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“

KH

Bildquellen: Abb. 1 – 8 und 10 & 11: Bundesarchiv; Abb. 9: Photo Klaus Holzer

Otto Holz’ Mahnmal als Kunstwerk

von Klaus Holzer

Als Otto Holz’ Mahnmal im Oktober 1953 eingeweiht wurde, gab es fast einen Eklat, weil sein Entwurf so völlig anders geartet war, als das die Menschen seinerzeit erwarteten. Sie waren in einer Zeit groß geworden, die sich solche Mahn– und Denkmale nur in der traditionellen Form vorstellen konnten. 

Abb. 1: Hans Dammanns Kriegerdenkmal von 1927 in Overberge

Ihr Idealbild fand und findet sich in Overberge neben Grundhöfer verwirklicht. Dort steht ein Mahnmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, geschaffen vom damals sehr erfolgreichen Bildhauer Hans Dammann. Es besteht aus edlem Material, zeigt einen Soldaten auf einer hohen Plinthe, er hat seinen Helm abgenommen, kniet in demütiger Haltung, hält seinen Helm in der Hand, „Helm ab zum Gebet“, alle Details sind fein herausgearbeitet: Haare, Gesicht, Hände, Schuhe, Mantelfalten. Der Betrachter erkennt einen verehrungswürdigen Helden, zu dem er aufblickt, der sich für Volk und Vaterland geopfert hat. Die erhabene Darstellung regte des Betrachters Gefühl, er bewunderte den Helden. Bewunderung aber geht einher mit Gefühlen, mit Dankbarkeit, es wird nicht verlangt, Taten rational einzuordnen.

Abb. 2: Otto Holz’ Mahnmal von 1953 am Sesekedamm

Und nun fanden sie sich konfrontiert mit Otto Holz’ Mahnmal. Es besteht aus einem groben Betonklotz mit zwei Auskragungen auf jeder Seite, auf der Oberfläche zwei Tafeln: „Vergesst uns nicht 1953“ Hier wird der Betrachter aufgefordert zu fragen, was und wer denn nicht vergessen werden soll, er will Antworten, seine Gefühle kommen gar nicht erst ins Spiel. Hier gibt es keinen Helden, der sich geopfert hat, der Bewunderung verlangen könnte, hier wird nichts fein herausgearbeitet, das Material ist nicht kostbar, sondern Allerweltsbaumaterial. 

Warum machte Otto Holz das? Zwischen den beiden Mahnmalen liegen nur 27 Jahre, darin jedoch die Erfahrung von 1000 Jahren Naziherrschaft und Auschwitz. Da konnte Holz nicht mehr einen Dammann Zwo hinstellen. Hierin liegt die große künstlerische Bedeutung dieses Mahnmals: der radikale gedankliche und künstlerische Bruch mit einer Vergangenheit, die wir nicht mehr wollen, die wir aber niemals loswerden. 

Das Mahnmal wurde für diesen Ort geschaffen, die Jusos haben 1989 ihre Friedenslinde direkt daneben gestellt, Baum und Betonklotz bilden ein Ensemble. Und in nur 50 Metern Entfernung steht Reimund Kaspers Mauerruine zur Erinnerung an die letzte Kamener Synagoge, die in der Nähe stand, und an die von den Nazis vertriebenen und ermordeten Kamener Juden. 

Wo findet man noch so einen Ort, der derartig umfassendes Erinnern ermöglicht?

KH

Abb. 1 & 2: Photo Klaus Holzer

Das Mahnmal „VERGESST UNS NICHT. 1953″ von Otto Holz

von Klaus Holzer

Das Mahnmal „Vergesst uns nicht 1953“ wurde am 25. Oktober 1953 eingeweiht und stand bis zum Beginn der Arbeiten am Sesekepark an seiner Stelle am Sesekedamm. Dann wurde es wegen der Bauarbeiten entfernt und befindet sich zur Zeit in einer Steinmetzwerkstatt in Bergkamen zur Restaurierung.

Abb. 1: Das Mahnmal „VERGESST UNS NICHT 1953“ von Otto Holz

Bevor es abgebaut wurde, versprach Dr. Liedtke, es werde wieder an seine alte Stelle kommen, denn für diesen Ort sei es konzipiert worden, und es bilde ja auch eine Einheit mit der 1989, 50 Jahre nach Kriegsbeginn, gepflanzten „Friedenslinde“ mit ihrer Tafel DIE „KAMENER JUGENDLICHEN FÜR FRIEDEN UND VÖLKERVERSTÄNDIGUNG – NIE WIEDER KRIEG“ eine Einheit.

Was hat es mit diesem Mahnmal auf sich? Viele, vor allem jüngere, Kamener wissen vielleicht gar nicht, woran es erinnern soll. Auch wenn für manche der Gedanke naheliegt – es steht nicht für die Opfer des Aufstandes vom 17. Juni 1953 in Ostberlin, sondern erinnert an diejenigen Deutschen, die zu jener Zeit noch in Kriegsgefangenschaft waren. Im Verlaufe des Jahres 1953 entwickelte sich in der bundesdeutschen Bevölkerung immer stärker das Gefühl, daß es im neunten Jahr nach Kriegsende nicht immer noch Kriegs– und Zivilgefangene in Ländern der Alliierten geben dürfe, vor allem in der UdSSR, wo, wie der SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer am 2. Oktober erklärte, Männer und Frauen „immer noch der Stacheldraht umschließt und die sowjetische Posten bewachen“. „Die meisten von ihnen waren unter den groteskesten Vorwänden in den Jahren 1950 und 1951 zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt und zu Kriegsverbrechern gestempelt worden.“ (WR, 2.10.1953)

Daher fand vom 17. – 25. Oktober 1953 eine bundesweit begangene Kriegsgefangenen-Gedenkwoche statt, die offenbar im ganzen Land große Zustimmung erfuhr. In dem bundesweit veröffentlichten Appell hieß es: „Wir selber wollen aus dieser Hoffnung heraus nicht müde werden, vor der Weltöffentlichkeit zu mahnen, zu bitten und zu flehen und zum Herrgott zu beten, daß, wenn manche Machthaber der Welt nicht helfen können und andere gar wider uns und unsere Gefangenen sind, er sich unser erbarmt.“

Abb. 2: Der Künstler Otto Holz, 1907 – 1988

Mit dem Entwurf für dieses Mahnmal wurde Otto Holz beauftragt, damals Kunstlehrer am Städtischen Neusprachlichen Gymnasium Kamen. Dieser war ein Künstler, der radikal mit der traditionellen Kunst gebrochen hatte. Pathos und die Glorifizierung von Heldentum waren ihm fremd. Daher entsetzte sein Kunstwerk (ja, in diese Kategorie gehört das Mahnmal) viele Kamener, die etwas Traditionelles erwartet hatten, etwa im Stile des Denkmals an der Waldstraße neben Grundhöfer in Overberge.

Abb. 3: Die Einweihungsfeier am 25. Oktober 1953

Die Einweihung des Mahnmals am 25. Oktober 1953 zeigte, in welchem Maße ganz Kamen Anteil nahm. „Rund 4000 Teilnehmer bevölkerten den Sesekedamm und die Bahnhofstraße zur Zeit der Feierstunde“, schreibt die WR einen Tag später. Der Posaunenchor spielte, Sprecher verschiedener Vereine und Verbände appellierten an die „Gewahrsamsmächte“ und das „Weltgewissen“, die Gefangenen aus ihrer Rolle als „politisches Wechselgeld“ zu entlassen. Pfarrer Busch und Pfarrer Rawe schlossen sich an, Erich Reichelt rief dazu auf, „die Brücke zwischen Heimat und Gefangenen nicht zusammenbrechen zu lassen“. Dann nahm Bürgermeister Rissel „das Mahnmal mit einem Appell an die Friedensbereitschaft der Welt in die Obhut der Stadt“. (WR, 26.Okt.1953)

Abb. 4: Das Ensemble aus Mahnmal und Friedenslinde vor dem Bau des Sesekeparks

Denk– und Mahnmale haben die Funktion, die Menschen an Dinge zu erinnern, die einschneidende Ereignisse in ihrer und der Geschichte ihrer Nation darstellen, sie vor dem Vergessen zu bewahren. Ihre Form verrät viel über den Geist ihrer jeweiligen Entstehungszeit und bewahrt so, über den historischen Anlaß hinaus, auch das künstlerische Ausdrucksvermögen ihrer Epoche. Das gilt in ganz besonderem Maße für Otto Holz‘ Mahnmal am Ssekedamm.

Es stand seit seiner Einweihung an seinem Ort, war immer von Stacheldraht umschlossen, der inzwischen, zeitbedingt, Rost zeigt. Es stand immer nur ca. zwei Meter vom Gehweg entfernt, 65 Jahre lang. Nie hat sich jemand am Stacheldraht verletzt. Warum sollte das jetzt anders sein? Der Abstand zwischen Friedenslinde und Treppe zum Ufer hinunter ist groß genug, außerdem wird der Spaziergänger noch durch den Strauch zwischen der Freifläche und der Treppe geschützt. Das Mahnmal verdient, an seinem angestammten Ort wieder aufgestellt zu werden, an der prominenten Stelle im östlichen Teil des Sesekeparks, in Einheit mit der prächtig gediehenen Linde. Der Platz ist vorhanden. Dort gehört es wieder hin. 

Klaus Holzer

KKK

Quelle der Abb.: Abb. 1 & 4: Photo Klaus Holzer; Abb. 2 & 3: Archiv Klaus Holzer

Nachtrag: Am 28. März 2019 entschied der Kulturausschuß des Kamener Rates, der Beschlußvorlage der Stadtverwaltung folgend, das Mahnmal „VERGESST UNS NICHT 1953″ nicht mehr an seinem alten Standort am Sesekeufer aufzustellen, sondern auf der Grünfläche vor dem Amtsgericht.

KH

Mühlentorweg mit angrenzendem Bereich

von Klaus Holzer

Straßen ermöglichen Mobilität, müssen also Orientierung geben. Daher erhalten sie Namen. Innerorts führt die Kirchstraße zur Kirche, die Schulstraße zur Schule, die Schlachthofstraße zum Schlachthof usw. Straßen in die Nachbarorte heißen Westicker ~, Unnaer ~, Werner ~, Lünener ~ oder Hammer Straße usw. Und für die große Orientierung tun es auch Himmelsrichtungen: Ost~, Nord~ und Weststraße. Es fällt aber auf, daß Kamen keine Südstraße hat, keine Südenmauer, kein Südtor1 hatte. Hier war der Bezugspunkt immer die schon seit dem 13. Jh. belegte Mühle – Mühlen waren so wichtig, daß ihre Zerstörung die härteste Strafe nach sich zog, gleich nach der Kirchenschändung, wie Eike von Repgow im Sachsenspiegel (Anf. 13. Jh.) darlegt –, der Kamen wohl auch das Kammrad in seinem Stadtwappen verdankt: die Mühlenstraße (vom Markt bis zur Maibrücke) führte durchs Mühlentor1 zum Hellweg.

Das hätte doch gereicht, oder? Jedoch gibt es heute auch einen Mühlentorweg in Kamen. Wie verhält es sich damit? Auch hier muß man wieder ein wenig ausholen, den Mühlentorweg in den richtigen Zusammenhang bringen.

Mühlentorweg, das klingt alt, doch trägt er diesen Namen erst seit dem 14. Okt. 1975, vorher hieß er Mühlenweg, doch gibt es auch diesen erst seit den 1930er Jahren. Immerhin ist der Bezug auf das Mühlentor oder auch die Mühle völlig gerechtfertigt, beginnt dieser Weg doch direkt an der Mühle, die bis 1973 an dieser Stelle stand, und gleich daneben stand bis 1820/22 das Mühlentor, dort, wo heute Klosterstraße und Ostenmauer zusammentreffen. 

Abb. 1: Eine frühe Darstellung des Mühlentors

Wirft man einmal einen Blick auf alte Kamener Stadtpläne, z.B. den Urkatasterplan von 1827, wird schnell klar, warum dieses Sträßchen nicht sehr alt sein kann. Kamen war seit dem 13. Jh. eine sehr stark befestigte Stadt. Vor allem im Süden dürfte sie so gut wie uneinnehmbar gewesen sein. Wer sich ihr aus dieser Richtung näherte, hatte zunächst die Seseke vor sich, dahinter einen Wall mit Palisaden und einen Stadtgraben und die ganze Kombination gleich noch einmal, gefolgt von der 16 Fuß (ca. 5 m) hohen und 3 Fuß (gut 90 cm) breiten Stadtmauer, zwischen der Maibrücke und der heutigen Koppelstraße, dem ältesten Teil der Stadt, der schon auf das 11. Jh. zurückgeht. Hier hatte man die Seseke schon früh begradigt, hier stand das erste Stadttor, das Langebrüggentor. Hier hatte man möglicherweise auch mit dem Bau der Stadtmauer angefangen, und dann wahrscheinlich in westlicher und östlicher Richtung gleichzeitig gebaut2.

Abb. 2: Teilstück des Urkatasters von 1827

Da die Kamener Ackerbürger waren, jeder Bürger also sein eigenes kleines Stückchen Land vor der Stadtmauer zur Eigenbewirtschaftung hatte, jeder sehr sparsam war, wurden natürlich selbst  die Streifen Land auf den Wällen nicht verschenkt, auch sie wurden bewirtschaftet, lagen sie doch direkt im Schatten der Mauer und waren somit durchaus geschützt.

So legte man hier schon früh einen Weg an, der von den Gerbern benutzt wurde. Gerben war ein sehr langwieriger Prozeß. Die Gerber brauchten viel, am besten fließendes, Wasser, um ihre Felle zu reinigen, zu „schrubben“. Ihr Schrubbhagen lag damals allerdings an einem Stadtgraben, der an zwei Stellen weiter westlich über Verbindungskanäle von der Seseke mit Wasser versorgt wurde. Fleisch–, Fett– und Haarreste mußten mit dem Scherdegen auf dem Scherbaum abgeschabt werden. Das stank nach faulem Fleisch und saurer Lohe. Daher mußte immer wieder mit viel Wasser gespült werden. Ein alter Gerberspruch dazu lautete:

In des Leders Werdegang

ist die Hauptsach’ der Gestank.

Kalk, Alaun, Mehl und Arsen 

machen’s gar recht weiß und schön. 

Eigelb, Pinkel, Hundeschiete 

geben ihm besond’re Güte.

Drum bleibt stets ein Hochgenuß 

auf den Handschuh zart ein Kuß.

Abb. 3: Ein Gerber bei der Arbeit

Das den Gerbern gehörende Lohhaus lag auf dem ersten stadtseitigen Wall, direkt hinter der Stadtmauer. Dort stand auch ein Brauhaus auf der Ecke Mühlenstraße/ Klosterstraße (wo heute das Gebäude der Volksbank an der Bahnhofstraße steht). Hoffentlich hatte dieses einen eigenen Brunnen mit sauberem Wasser!

Von der Maibrücke aus in östlicher Richtung gab es zwar zwischen der Seseke und der Stadtmauer nur einen Wall und einen Graben, doch war eine feindliche Eroberung auch hier ziemlich aussichtslos. Bis zum 30-jährigen Krieg blieb Kamen vermutlich unbehelligt, aber vielleicht war es inzwischen auch so arm geworden, daß niemand es erobern wollte.

Erst das 17. Jh. mit seinen neuartigen Kanonen ließ Mauer und Graben obsolet werden. Folglich litt die Stadt in diesem Krieg sehr unter Einquartierungen, Kontributionen und Plünderungen durch brandenburgische, hessische, pfalz-neuburgische, spanische und französische Truppen. Die Lage war so schlimm, daß die Stadt Kamen am Ende des Krieges fast kein Eigentum mehr besaß, weil alles verpfändet worden war, sonst wäre sie, weil sie keine Kontributionen zu zahlen in der Lage war, mit Sicherheit vollständig zerstört worden. Was dann allerdings ein großes Feuer im Jahre 1646 dennoch besorgte.

Abb. 4: Palisade

Es ist offenkundig, daß auf Stadtgräben und Wällen kein Weg, keine Straße verlaufen kann. Aber als diese Befestigungen nunmehr nutzlos geworden waren, verfielen sie. Die Gräben verschlammten, die Wälle verflachten, die Stadtmauer diente als stadtnaher Steinbruch. Also brach man ihre Reste zwischen 1820 und 1822 ab, „zur Verschönerung der Stadt“, wie der erste Kamener Stadtchronist, Friedrich Buschmann, 1841 schreibt, trug die Wälle ab und schüttete die Gräben zu, planierte den ganzen Streifen. So gewann man ein ansehnliches Stück Land hinzu, das man neu nutzen konnte. Nach einigen Jahren Ruhezeit, in denen die Verfüllungen sich setzen konnten (wer genau hinschaut, sieht noch heute, daß das Gelände außerhalb der Ostenmauer deutlich abfällt), begann man 1827 damit, es mit kleinen Handwerkerhäusern zu bebauen. Als Fundamente dienten die Stadtmauer und der dahinterliegende ehemalige Wall, so ließen sich nur traufenständige Häuser bauen, die genau dem Verlauf der ehemaligen Stadtmauer folgen.

Jetzt stand also auch der Platz für den neuen Weg zur Verfügung, wenngleich noch keine Notwendigkeit dafür gegeben war, war doch das Mersch, Überlaufgebiet des Flusses, völlig unbebaut. Hier legten nur die Leineweber ihr kostbares Produkt auf die Bleiche. Und die Seseke war ja hier nicht ein begradigter Flußlauf, sondern immer noch ein mäandrierender Flachlandfluß, der weite Gebiete regelmäßig mehrmals im Jahr überschwemmte. Erst als in den 1920er Jahren die Regulierung  und die damit einhergehende Begradigung der Seseke die Bändigung des Flusses verhießen, wurde auf dem Stück zwischen Mühle/Mühlenkolk im Westen und der südöstlichen Ecke der ehemaligen Stadtmauer bei der heutigen Ängelholmer Brücke Bauland ausgewiesen. Dort war bis Ende der 1920er Jahre eine Holzbrücke, dann bis 1969 eine Eisenbrücke mit Betonelementen, danach wurde die heutige Brücke errichtet, seit 2013 heißt sie Ängelholmer Brücke.

Dieses Bauland gehörte in die vom 1925 nach Kamen gekommenen Stadtbaurat Gustav Reich vorgenommene Überplanung der alten Stadt Kamen. Die ersten hier entstandenen Häuser waren das damalige Bürgermeisterhaus Hindenburgdamm2 Nr. 10, sowie die Häuser Hindenburgdamm Nr. 9 und Hindenburgdamm Nr. 7. Erst danach wurde auch der Mühlenweg bebaut. Das Haus Mühlenweg 1 entstand 1936. Der Zahnarzt Dr. Elger, der bisher in den Räumen des Hauses Bahnhofstraße 49 neben dem Photoladen Ernst Braß’ praktiziert hatte, ließ sich von Gustav Reich überzeugen, daß hier der ideale Bauplatz für sein Haus war. Wenige Jahre zuvor war die Seseke-Regulierung abgeschlossen worden, Hochwasser war damit nach damaligem Kenntnisstand nicht mehr zu erwarten. Dann entwickelte sich die Bebauung in Richtung Osten. Erst Mitte der 1950er Jahre entstanden die letzten Häuser am östlichen Ende, noch später die Fortsetzung des Mühlentorwegs über die Ostenallee hinaus3.

Abb. 5: Die alte Seseke mit der neuen Synagoge im Hintergrund (zwischen den Pappeln), 1937

Direkt nach der Begradigung pflanzte man am Sesekedamm die Ahornbäume, deren sechs durch den Sturm Friederike am 18. Januar 2018 irreparabel beschädigt und am 21. März 2018 gefällt wurden. Am Mühlenweg sieht man die Handschrift von Gustav Reich: an vielen Stellen, so auch hier, wurden schnellwachsende Pappeln gepflanzt (vgl. Abb. 5), die nach dem Krieg durch Buchen ersetzt wurden, und man muß sagen, die Bäume sind prächtig anzusehen, doch wissen die Anwohner auch ein anderes Lied zu singen. Zum einen werfen sie eine Menge Laub ab, was aber gravierender ist, ist der Licht– und Sonnenmangel ausgerechnet in den Sommermonaten, da die Baumreihe die ganze Südseite abdeckt. Doch läßt sich das vielleicht jetzt besser ertragen, da der Fluß revitalisiert ist. Er enthält nur noch Reinwasser statt stark durch Fäkalien verunreinigtes Schmutzwasser, das während sommerlicher Trockenperioden nicht mehr bestialisch stinkt. Seitdem hat die Wohnqualität deutlich zugenommen: ruhig, grün, stadtnah.

Abb. 6: Heutiger Baumbestand

KH

Bildquellen: Abb. 1 & 5: Stadtarchiv Kamen; Abb. 2: Archiv Klaus Holzer; Abb. 3: Balthasar-Behem-Kodex,  Krakau 1505; Abb. 4: Museumsdorf Düppel; Berlin-Zehlendorf; Abb. 6: Photo Klaus Holzer

Fußnoten:

1  Allerdings wird als Lagebeschreibung beim Verkauf einer Rente aus Ländereien am 2. Sept. 1395 ein Stück „landes … gelegen syn suden vor der porten voer Camene“ angegeben, also gewissermaßen vor dem „Südtor“. Das Mühlentor wird hingegen schon zum ersten Mal am 4. Dez. 1368 erwähnt. Die beiden dürften also identisch sein.

Alle Burgmannshöfe waren von Abgaben befreit, mußten dafür aber bestimmte Dienste erbringen. Das Mühlentor wurde vom Hanenhof, nach der Eigentümerfamilie von Hane genannt, geschützt, an den heute noch der Hanenpatt erinnert. Sein Burglehen in Kamen war „vor der mollenporten gelegen“, wie es 1499 in einer Urkunde heißt.

2 Heute Sesekedamm

3  Bis Ende der 1920er Jahre Holzbrücke, dann bis 1969 Eisenbrücke mit Betonelementen, danach die heutige Brücke, seit 2013 Ängelholmer Brücke.

Die heutige Ostenallee war damals ein unbefestigter Weg, hatte auf einer Seite einen ehemaligen Stadtgraben, auf der anderen wild wachsende Weißdornbüsche, mehrere Meter hoch. Wenn sie im Winter vom Schnee beladen heruntergedrückt wurden, erschien dieser Weg als Hohlweg. Er hatte keinen Namen, wurde aber inoffiziell von vielen Schwarzer Weg genannt.

Laut Ratsbeschluß vom 22.3.1956 wurde ein Verbindungsweg gebaut zwischen Ostenmauer, der Fußgängerbrücke über die Seseke (heute: Beeskower Brücke) und dem Sesekedamm zur Mozartstraße.

Julius-Voos-Gasse

von Klaus Holzer

Abb. 1. Die Schulstraße, 1920er Jahre (?), gesehen vom Turm der Pauluskirche; vorn rechts das Haus der ehemaligen Metzgerei Voos

Diese Gasse war Teil der Kördelgasse und ist erst seit 1997 nach jemandem benannt, der wahrscheinlich andernorts mehr bedeutet als hier, in seiner Heimatstadt. Und womöglich wüßten wir gar nichts mehr von ihm, wenn es nicht einen Stolperstein am Haus Schulstraße 2 gäbe, der an ihn und seine Familie erinnert. 

Abb. 2.  Zur Erinnerung an Dr. Julius Voos

Julius Voos war der Sohn von Jakob Voos, der im Jahre 1897 als Metzger nach Kamen kam, hier heiratete und die kleine Metzgerei seines Schwiegervaters in der Schulstraße 2 übernahm. Julius wurde am 3. April 1904 geboren und besuchte die Kamener Wilhelmschule, die gleich nebenan am Kirchplatz lag, heute ein Mehrfamilienhaus. 1918 trat er  in die Präparandenanstalt1 der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster ein. Hier begann er seine Ausbildung zum jüdischen Religionslehrer, die ihn nach Meisenheim (Pfalz) führte, wo er auch als Kantor arbeitete. Erst danach machte er sein Abitur in Idar-Oberstein. Anschließend studierte er in Berlin Philosophie, Geschichte und Religionsgeschichte. Anschließend promovierte er in Bonn über ein Thema aus der jüdischen mittelalterlichen Religionsgeschichte. Ab 1938 wirkte er als Rabbiner in Guben (Brandenburg), und heiratete 1936 in Breslau Stephanie Fuchs. Nach den Novemberpogromen von 1938 versuchte er, auszuwandern, das Vorhaben scheiterte jedoch. Anfang 1939 nahm er die Stelle als Rabbiner in Münster an, wo es im Rathausinnenhof ebenfalls einen Stolperstein für ihn gibt. Er sollte der letzte Rabbiner in Münster sein. Anfang des Jahres 1939 war Voos noch ein letztes Mal in seinem Elternhaus in Kamen.

Abb. 3.: Die Schulstraße in den 1930er Jahren; am linken Rand das Schild der Metzgerei Voos

Zwei Jahre später mußte Voos Zwangsarbeit in einer Bielefelder Fahrradfabrik leisten. Am 2. März 1943 wurde er mit seiner Familie – am 28. April 1941 war sein Sohn Denny geboren 

worden – nach Auschwitz geschickt, wo seine Frau und sein Sohn sofort ermordet wurden. Dr. Julius Voos wurde zur Schwerstarbeit eingeteilt, die ihn gesundheitlich ruinierte. Daran starb er im Krankenbau von Auschwitz am 2. Januar 1944. Klaus Goehrke schreibt in seinem Büchlein „Stolpersteine“: „Ihm wird nachgesagt, er sei der einzige Rabbiner in Auschwitz gewesen, der wie alle schwer gearbeitet, gehungert und gedurstet und dabei die Kameraden noch aufgerichtet habe.“ Ein Schicksal, an das erinnert werden muß.

Seit 2014 gibt es den Dr.-Julius-Voos-Preis  von der „Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit“, der seitdem jährlich im Rahmen der „Woche der Brüderlichkeit“ vergeben wird.

K H

Die Informationen entstammen dem erwähnten Büchlein „Stolpersteine“ von Klaus Goehrke sowie Wikipedia.

1 Eingangsstufe für die Volksschullehrer-Ausbildung

 

Abb.: 1 & 3: Archiv Klaus Holzer; 2: Photo Klaus Holzer

Die Maibrücke

von Klaus Holzer

Abb. 1: So kennen wir die Maibrücke seit 2001

Ein Fluß bedeutet für eine Stadt immer zweierlei: er verbindet und trennt gleichzeitig. Er verbindet, weil es sich anbietet, an beiden Ufern zu siedeln, er trennt, weil man nicht einfach auf die andere Seite gehen kann. Dazu braucht es eine Furt, ein „Bohlenwerk“, dann eine Brücke. Das kann man besonders schön an dieser Darstellung der Seseke als Gemarkungsgrenze erkennen. Nur Kamen liegt nördlich und südlich des Flusses, weil hier eine Furt die Querung erlaubte, weswegen Nord-Südreisende zwischen Lippe und Hellweg immer hier durchkamen, und die ersten Siedler dies als Chance begriffen.

Abb. 2: Die Seseke als Gemarkungsgrenze

Der Fluß war also für die Gründung Kamens von grundlegender Bedeutung: man konnte sich nur niederlassen, wo es die 4 W gab: Wasser, Wald, Weide, Wege. Wasser als allgemein lebenswichtigen Stoff, aber auch Fische, Krebse und Muscheln im Fluß; Boden zur Anpflanzung von Getreide; Weide für das Vieh, auch als Winterfutter; Wald als Lieferant für Bau- und Feuerholz, das darin lebende Wild für die Ernährung, aber auch Beeren, Pilze usw. Außerdem war ein Fluß wichtiger Transportweg, der auch noch passierbar war, wenn „normale“ Wege und Straße schon im Schlamm versanken und unpassierbar waren.

Abb. 3: Das Mühlentor 1777

Es wird im Laufe von Kamens früher Geschichte eine nicht geringe Anzahl mehr oder minder kleiner Brücken gegeben haben, meist waren das vermutlich einfache Stege. Eine stärkeres Bauwerk wird es wohl schon früh am Mühlentor1 gegeben haben, dem wichtigsten Stadttor. Mit dem Heranwachsen Kamens im 13. Jh. zur befestigten mittelalterlichen Stadt wuchsen Gewerbe und Handel. Die Fuhrwerke wurden größer, damit schwerer, die Stege reichten nicht mehr aus. Es brauchte eine „richtige“ Brücke, natürlich dort, wo der Verkehr am stärksten war, am Mühlentor, der Verbindung zum Hellweg. Dennoch dauerte es bis 1695, daß die Maibrücke zum ersten Mal erwähnt wird, als „Homeybrücke“2. Wie wurde daraus unsere „Maibrücke“?

Vor allen ursprünglich sechs Stadttoren hat es befestigte Torhäuser gegeben, am Mühlentor zusätzlich eine Zugbrücke über den Fluß, am Mühlen~ und Nordentor obendrein noch Homeyen (und jeweils auch ein kleines Gefängnis). Dazu Hugo Craemer: „[Homeyen] sind feste Balkentore […] am Beginn der Brücken. […] Nachdem im 18. Jahrhundert die Befestigung durch Wall und Gräben aufgehoben wurde und der Zweck der Homeyen als Sperrmittel fortfiel, kam auch bald der Name in Vergessenheit, und der Volksmund prägte den kurzen Ausdruck Maibrücke.“3

„Homey“ kommt von hamm4, das bedeutet so viel wie Zaun, Hegung, geschütztes Gelände. Dazu gibt es eine mittelniederdeutsche Weiterbildung hameide, mittelhochdeutsch hamît, was so viel bedeutet wie Zaun, Gatter, Verhau, Schlagbaum, Sperre, das kann auch ein Pfahl- oder Pfostenwerk sein. Hierbei handelt es sich um ein ursprünglich fränkisches Wort, das ins Altfranzösische übernommen wurde, von dort zurückentlehnt wurde und so die Betonung auf die zweite Silbe legte: haméide. Die erste Silbe wurde damit tonlos, konnte also später entfallen: meide, meie.5 Die Voraussetzung für dieses verkürzte Wort hatte natürlich der Umweg über das Altfranzösische geliefert. Die Zeit ging über eine Sache hinweg, ein verstümmeltes Wort blieb zurück und gab unserer Brücke ihren heutigen Namen.6

 Wir müssen uns eine solche Toranlage wohl so vorstellen, daß, um eine möglichst starke Sicherung zu erhalten, Tore durch ein Vortor geschützt wurden, damit eventuelle Angreifer schon früh abgefangen werden konnten. Einen weiteren Zweck dürfte ein Homey ebenfalls gut erfüllt haben. An Markttagen (seit der Mitte des 13. Jh. drei Wochenmärkte, zwei Jahrmärkte!) herrschte an diesem Stadttor reger Verkehr. Am Homey mußten Händler die Akzise7 entrichten, was gewissermaßen eine Standgebühr für den Markt war. Und die Argumentation der Stadt lautete einfach: Händler wollen bei uns Waren verkaufen, also Geld aus der Stadt mitnehmen. Je nach Wert ihrer Waren sollen sie zum Wohle der Stadt beitragen. Man hatte schließlich das Marktrecht. Kaufleute und Bauern wollten zum Markt und ihre Waren verkaufen. Es gab gute Geschäfte, weil die Kamener sie schon sehnsüchtig erwarteten. Schließlich gab es nicht nur Waren, die man brauchte, sondern, besonders auf den Jahrmärkten, Unterhaltung durch Gaukler und Musiker, vor allem aber auch Neues aus aller Welt, was damals so viel bedeutete wie aus der weiteren Umgebung. Hansekaufleute konnten tatsächlich aus der „weiten Welt“ berichten. Der gewöhnliche Bürger kam nicht weit aus Dorf oder Stadt hinaus.

Abb. 4: Marktgeschehen; hier eine französische Darstellung von ca. 1400

Aber natürlich wurde eine so stabile Brücke auch für ganz andere Zwecke benutzt. Hugo Craemer schreibt 1929: „[…] bildeten auch die Schweine einen wertvollen Bestandteil bürgerlichen Besitzes. Sie wurden ebenfalls im Sommer zur Weide, im Herbst zur Mast getrieben, und zwar von dem Schweinehirten. Davon erzählen die Flurnamen Schweinsstraße vor dem Mühlentore, das Schweinemersch ebenda, An der Saustraße und im Saukamp […]. Während diese Orte der Sommerfütterung dienten, fand in der Meynheit8 die Mästung statt. […]. Zur Eichelmast ins Große Holz durften nur die Schweine der Vögte und Ritter eingetrieben werden. So hatte der Hering-, später Edelkirchenhof, die Mastgerechtigkeit mit 20 Schweinen im Hohen Holz, mit 3 Schweinen in der Lerker (Anm.: Lercher) Mark. Die Zahl der einzutreibenden Schweine war genau festgelegt. Der Eintrieb für die Schweine der Bürger fand nur im Herbst über die Maybrücke statt. Im Schweinemersch unter der alten Linde trug der Sekretarius die Besitzer der Borstenträger in das Mastbuch ein. Hier erhielten die Schweine auch das Brandmal. Mit großem Jubel wurden im Spätherbst die gemästeten Tiere hier wieder in Empfang genommen.“9 Und es läßt sich gut vorstellen, daß gefeiert wurde, und vermutlich haben nicht alle frisch gemästeten Borstentiere die Heimkehr lange überlebt.

Abb. 5: Schweine bei der Eichelmast

Bis 1923 war die Maibrücke Kamens einzige Straßenbrücke, entsprechend hoch war der Verschleiß der Substanz, zumal seit 1909 auch noch die Straßenbahn, die Kleinbahn UKW, über sie führte. Daher verwundert es nicht, daß sie 1923 so marode war, daß sie für allen Verkehr gesperrt werden mußte. 

Abb. 6: Die marode Maibrücke, ca. 1910

Jetzt rächte es sich, daß man so wenig weitsichtig gewesen war, es fehlte eine zweite Brücke. August Siegler schreibt 1926/27: „Bei dem Neubau der Maibrücke zeigte es sich, wie notwendig es war, daß neue Wege über die Seseke geschaffen wurden. Im Jahre 1921 brach man zuerst die halbe alte Brücke ab, um den Neubau ohne Unterbrechung des Verkehrs, der gerade damals sehr stark war, durchzuführen. Jedoch konnte der stehengebliebene Rest der Brücke bei der äußerst starken Inanspruchnahme nicht standhalten, zumal die Stützmauer an der Westseite abgebrochen war, wodurch der restliche Brückenteil seinen festen Halt verloren hatte. Eines Tages versagte die Brücke ihren Dienst. Sie konnte ohne große Gefahr nicht mehr befahren werden. Zum Glück hatten die Bauleiter die Gefahr frühzeitig genug erkannt und sperrten die Brücke für Fuhrwerke. Es dauerte einige Tage, bis durch lange T-Eisen wieder eine feste Grundlage für einen Brückenweg geschaffen war.“

Abb. 7: Die Bahnhofstraße mit Straßenbahn (Kleinbahn UKW) von der Maibrücke aus

Und weiter: „Bis zur Fertigstellung dieser Notbrücke war die Stadt mit Fuhrwerken nur auf Umwegen zu erreichen und zu verlassen. Die schwache Holzbrücke im Osten der Stadt (Anm.: die heutige Ängelholmer9a Brücke) war dem Ansturm nicht gewachsen und mußte bald für Fuhrwerke polizeilich gesperrt werden, um weiteres Unheil zu verhüten. Aller Fuhrverkehr mußte nun über Westick oder Derne–Heeren geleitet werden, weil Kamen nur den einen Verkehrsweg hatte, der nun nicht benutzt werden konnte. Da seit Beginn des Brückenbaues fast ein Jahr vergangen war, wurde Herr Bergrat Funcke, der seit einiger Zeit in Wittbräucke wohnte, gebeten, als Vorsitzender des Vorstandes der Seseke–Genossenschaft dahin zu wirken, daß Kamen bald aus dieser Verkehrsnot erlöst und die Fertigstellung der Brücke beschleunigt würde. Diese Bitte hatte den Erfolg, daß die Brücke nun in einigen Wochen fertiggestellt wurde. Das war im Juni 1921. Die überstandenen Schwierigkeiten haben aber doch ihren Nutzen geschaffen. Man hatte allgemein die Ansicht gewonnen, daß der bisherige Zustand nicht bestehen bleiben durfte, daß weitere Wege über die Seseke angelegt und zur Verwirklichung solcher Anlagen Opfer gebracht werden mußten.“10

Abb. 8: Die frühere Binde–, dann Vinckebrücke 

Abb. 9: Die Vinckebrücke wird 2018 abgebrochen 

Und da man nun schon einmal dabei war, die gesamte Situation neu zu regeln, wurde auch gleich noch ein reine Fußgängerbrücke gebaut, die Bindebrücke.11 Und da man sich sicher war, daß durch die Regulierung der Seseke die Hochwassergefahr im wesentlichen gebannt war, konnte man auch die Straßenbrücke Rathenaustraße, heute Koppelstraße, und Hindenburgdamm (heute Sesekedamm) – Ostenallee (damals ohne Namen) neu bauen.

Abb. 10: Die Maibrücke mit Verkehr, 1985

Die Maibrücke blieb noch bis 2001 eine Brücke, über die unterschiedslos aller Verkehr geleitet wurde, Fußgänger, Fahrradfahrer, PKW, Linienbusse und mancher LKW. So kam es, daß sie im Jahr 2002 wieder saniert werden mußte, wieder nicht nur als Einzelmaßnahme, sondern im Rahmen eines Gesamtkonzeptes. Um den dichten Verkehr zu entzerren, sperrte man die Maibrücke für allen motorisierten Verkehr und baute die Partnerschaftsbrücke 2001 ganz neu, nur wenige Meter flußaufwärts. Durch den Bau von zwei Kreisverkehren – Bahnhofstraße/Sesekedamm und Poststraße/Sesekedamm/ Partnerschaftsbrücke – zusammen mit dem Verkehrsschluß Innerer Ring wurde eine ganz neue Verkehrsführung geschaffen, die Maibrücke entlastet. Im Jahre 2018 wird sie de facto Bestandteil des neuen Sesekeparks.

Abb. 11: Brückenpfeiler mit Bleier, früher einmal Hochwassermarke

Auf beiden Seiten der Maibrücke sind ihr Name und der Kömsche Bleier in die Pfosten eingemeißelt. Aus dem Fischmaul tritt eine waagerechte Linie aus, die von vielen für eine Marke gehalten wird, die den Höchstwasserstand der Seseke angibt. Das trifft jedoch nicht mehr zu, sie ist viel zu niedrig. Die alte Hochwassermarke, die früher am alten Rathaus angebracht war, traf es da viel besser.12

Und auch wenn der Kömsche Bleier heute nicht mehr in der Seseke schwimmt13, er ist noch lebendig, lebt in den Plastiken von Lothar Kampmann zwischen Mai– und Partnerschaftsbrücke und Winfried Totzek am Beginn des Fahrradweges an der Ängelholmer Brücke.

Abb. 12: Der Kömsche Bleier von Lothar Kampmann

Abb. 13: Der Kömsche Bleier von Winfried Totzek

KH

Abbildungen:

Abb. 1, 8, 9, 11, 12, 13: Photo Klaus Holzer; Abb. 2: aus Theo Simon, Kleine Kamener Stadtgeschichte, Kamen 1982; Abb. 3, 6, 7: Stadtarchiv Kamen; Abb. 4 : aus Jörg Schwarz, Stadtluft macht frei. Darmstadt 2008; Abb. 5: Wikipedia; Abb. 10: Archiv Klaus Holzer

 

1 Durch dieses Stadttor, über diese Brücke, lief die Verbindung zur wichtigsten Handelsstraße des MA, die schon zur Römerzeit existierte, dem Hellweg, der Verbindungsstraße zwischen Brugge an der Nordsee und Nowgorod in Rußland. Daher verlor das älteste Stadttor, das Langebrüggentor, auch Wünnenporte genannt, erstmals im Jahre 1342 erwähnt, an Bedeutung und wurde 1660 abgerissen.

Klares Zeichen für die Bedeutung des Hellwegs ist auch der Unnaer Goldschatz: 1952 wurden in Unna fast 250 Goldstücke gefunden, die um 1375 vergraben worden waren. Darunter finden sich Gulden aus Prag, Wien, Salzburg, Budapest und Lübeck, dazu „goldene Schilde“ aus Paris und Antwerpen sowie ein seltener englischer Noble: allesamt Ausdruck der weitreichenden Handelsbeziehungen schon im 14. Jh., die es ohne den Hellweg nicht gegeben hätte.

Das große Haus mit dem Wandgemälde einer Mühle (Bahnhofstraße 51) war früher tatsächlich eine solche, zuletzt die Mühle Ruckebier. Sie wurde 1973 abgerissen. Die ursprüngliche Mühle gab es wahrscheinlich schon vor der Stadtgründung (Wassermühlen waren in Europa vermutlich schon seit dem 10. Jh. bekannt), sicher schon im 13. Jh.

Vor der Mühle war der Mühlenkolk (Kolk = Strudel im Wasser, Höhlung am Flußufer; auch afries. Grube, Loch, Wasserloch; verw. mit „Kehle“, architekt. „Hohlkehle“), in dem Frauen noch bis in das 20. Jh. hinein ihre Wäsche ausspülten: das viele Soda, das zum Waschen von Wäsche benötigt wurde und die Haut der Hände stark angriff, mußte gründlich ausgespült werden. (vgl.a.Artikel Mühlentorweg)

2 Es gab bei uns früher auch den Familiennamen Homeyer. Es darf angenommen werden, daß ein Vorfahr früher einmal in einem solchen Homey Dienst geschoben hat.

3 Zechen-Zeitung der Schachtanlagen Grillo und Grimberg, Gelsenkirchener Bergwerks AG., 5. Jg.,  1929, Nr. 6

4 Hier steckt auch unser „Hemsack“ drin. Ein hamm ist ein von zwei Flußläufen bzw. ~armen umgebenes, d.h., geschütztes Gelände, bei uns sind das Seseke und Körne; vgl. a. Hamm, Hamburg, Bopparder Hamm u.a.

5 Leopold Schütte, Wörter und Sachen aus Westfalen 800 bis 1800, 2. überarb. u. erw. Auflage, Münster 2014; 

Pauls Derks, Universität Essen, 2013

6  vgl.a.Artikel Mühlentorweg

7 Eine Steuer, die auf die Einfuhr von Waren erhoben wurde. Die Stadtmauer und ihre Tore hatten im Dreißigjährigen Krieg ihren Sinn verloren, verfielen und wurden früher oder später abgerissen. Als Kamen 1701 preußisch wurde und 1717 die Akzise wieder eingeführt wurde, erhielten beide vorübergehend wieder ihre Bedeutung, vor allem die Homeyen, weil bei Betrieb hier die Akzise bezahlt werden mußte. Ende des Jahrhunderts wurde sie wieder abgeschafft. Man hatte ihre den Handel behindernde Wirkung erkannt.

Wie wichtig diese Steuer aber für den städtischen Haushalt war, zeigt die Aufstellung, die Pröbsting für 1605 gibt: von 940 Thalern stammen 432 aus der Accise!

8 was der Allgemeinheit gehörte: die Allmende

9 Zechen-Zeitung der Schachtanlagen Grillo und Grimberg, Gelsenkirchener Bergwerks AG., 5. Jg.,  1929, Nr. 8)

9a Bis Ende der 1920er Jahre Holzbrücke, dann bis 1969 Eisenbrücke mit Betonelementen, danach die heutige Brücke, seit 2013 Ängelholmer Brücke.

Die heutige Ostenallee war damals ein unbefestigter Weg, hatte auf einer Seite einen ehemaligen Stadtgraben, auf der anderen wild wachsende Weißdornbüsche, mehrere Meter hoch. Wenn sie im Winter vom Schnee beladen heruntergedrückt wurden, erschien dieser Weg als Hohlweg. Er hatte keinen Namen, wurde aber inoffiziell von vielen Schwarzer Weg genannt.

10 Siegler, August, Die Entwicklung der Stadt Kamen. Rückblick, Vergleich, Ausblick. Rückblick auf 50 Jahre: 1873 – 1926. Abgedruckt in: Zechenzeitung1926/27 (in 7 Folgen). Hier: 2. Teil

11 vgl.a. Artikel „100 Jahre Sesekeregulierung“

12 vgl.a.Artikel „100 Jahre Sesekeregulierung“

13 Meine Anfrage an den Lippeverband, ihn aus Beständen in Unnas Partnerstadt Döbeln wieder in der Seseke anzusiedeln, wurde abschlägig beschieden.

Schleppweg

von Klaus Holzer                                                             

Straßennamen verändern sich immer wieder im Laufe der Zeit. Der Schleppweg z. B. hat eine ganz eigene Geschichte.

Der eigentliche Schleppweg ist die jetzige Südkamener Straße zwischen der Unnaer Straße und der Dortmunder Allee. In den 1920er Jahren wurde „ unter dem Schleppwege“ eine Zechensiedlung gebaut. Aus den parallel untereinander laufenden Straßen wurde dann der Obere und der Untere Schleppweg. Nach der Anlage des neuen Friedhofs in Südkamen wurde aus dem Oberen Schleppweg die Südkamener Straße. Das „Untere“ wurde gestrichen, es gab ja nur noch einen Schleppweg.    

Der Name kommt ursprünglich von Schliepweg. Die Schliepe (von schleifen, ziehen) ist ein einfaches Holzgestell, das aus zwei gleich langen Stangen besteht, die durch Querstangen verbunden sind. Darauf nagelt man ein paar Bretter, dann läßt sich diese Konstruktion einfach ziehen. Mist aus dem Stall oder andere Dinge, mit denen man für kurze Wege die Radkarre nicht benutzen oder, besser gesagt, beschmutzen wollte, kamen auf die Schliepe. 

Was hat das nun mit dem Schleppweg zu tun? Ein Stück oberhalb des Schleppweges, am jetzigen Südweg, stand ein gegen Dortmund gerichteter Galgen, eine deutliche Warnung an Fremde, Gauner und Mörder. 

Kam es wirklich einmal zu einem Todesurteil, ließ man sich das Schauspiel der Hinrichtung möglichst nicht entgehen. Das war sozusagen Gratisunterhaltung, man empfand wohlige Schauer, war man selber doch sicher. Die Bürger zogen mit Kind und Kegel und Proviant zum Richtplatz und machten sich „einen schönen Tag“. Die durch den Strick Erwürgten blieben zur Abschreckung dort hängen, und weil die Raben  sich an den menschlichen Kadavern gütlich taten, wurde der Richtplatz auch oft Rabenstein genannt. Die Bauern, die ihre Felder dort hatten, fanden solche Veranstaltungen weniger gut, zertrampelten die Zuschauer doch ihre Äcker.

Was von dem armen Menschen, der dort hing, nach einigen Wochen übrig war, mußte nun unter die Erde. Und hierbei kam die Schliepe zum Einsatz. Nur die Ärmsten der Armen waren zu diesem Dienst als Nachrichter, d.h., Helfer der Henker, bereit. Einen eigenen Wagen oder eine Karre hatten sie nicht, auch hätte ihnen niemand eine geliehen. Statt der Querbretter spannte man ein altes Tuch zwischen die Stangen, in das später die Leiche eingewickelt wurde.

Doch wohin damit? Auf den Kirchhof konnte sie nicht, ein gehenkter Verbrecher bekam kein christliches Begräbnis, er „kam ja auch nicht in den Himmel“. Es ist nicht immer ganz klar, wo eine solche Leiche verscharrt wurde. In Kamen gibt es leider keine Quelle, die uns Heutigen hierüber Auskunft geben könnte. Doch gab es offenbar unterschiedliche Verfahrensweisen. Am weitesten verbreitetet war das Verscharren auf dem Schindanger, dem „Anger1, an dem das gefallene Vieh geschunden wurde“ (Grimmsches Wörterbuch).

Mancherorts wurden sie wohl auch auf dem Armenfriedhof verscharrt. Dieser lag meistens vor der Mauer und war für Fremde bestimmt, die kein Geld für die Stolgebühren2 hatten, für Ungetaufte und ausgestoßene Menschen.  

Jede Schicht3 hatte, um Seuchen zu vermeiden, einen von der Stadt zugewiesenen Ort, wo Tierkadaver oder Schlachtreste entsorgt werden mußten. In Kamen lag einer dieser sogenannten Filleplätze, der für die Mühlenschicht, auf dem Gebiet mit der Flurbezeichnung Steinacker, ein Stück unterhalb des Schliepweges. Vielleicht wurden die armen Sünder in Kamen  auch dort verscharrt, wer weiß? 

Gleich nebenan liegen der „Steinacker“ und der „Malter“. Der erste Name erklärt sich selbst: steiniger, d.h., schwer zu bearbeitender, wenig ertragreicher Acker. Und der zweite Name bestätigt, daß es sich hier um ehemals landwirtschaftliches Gelände handelt. Das Wort leitet sich aus einem Hohlmaß für Getreide her, das je nach Region zwischen 100 und 700 Litern betragen konnte. Die ursprüngliche Bedeutung war „die auf einmal gemahlene Getreidemenge“.

KH, unter Verwendung eines Artikels von Edith Sujatta

1 Schon in germanischer Zeit ein Stück Grasland vor oder nahe einer Siedlung, das allen gemeinsam gehörte. Dort gab es gemeinschaftliche Feste, Backen oder Schlachten. Der Schindanger hieß in Kamen Filleplatz und diente dem Abdecker zur Beseitigung von Tierkadavern, was aus hygienischen, d.h., gesundheitlichen Gründen enorm wichtig war.

2 Vor der Einführung der Kirchensteuer 1919 die Gebühren, die der Priester für alle Tätigkeiten nahm, zu denen er die Stola umlegen mußte, das waren die sog. Kasualien wie Taufe, kirchliche Trauung und kirchliche Begräbnisfeier. Ausgenommen von der Stolgebühr waren immer: Kommunion bzw. Abendmahl, Beichte, Kranken- und letzte Ölung. Mancherorts gibt es noch heute Stolgebühren.

3 Kamen war früher in Schichten eingeteilt, Nachbarschaften, die jeweils einem Stadttor zugeordnet waren, für das sie verantwortlich waren. Es gab eine Fülle von öffentlichen und sozialen Pflichten innerhalb solcher Nachbarschaften.

Der neue Literaturpfad des KKK

von Klaus Holzer

Trotz eher ungünstiger Auspizien wurde das Jahr 2018 für den KKK sehr erfolgreich. Das erste Projekt, das dieses Jahr zum Abschluß gebracht werden konnte, war die seit langem geplante Kulturroute West, jetzt K 10, die in einer Fahrrad-Rundtour um Methler zu neun historisch bedeutsamen Stellen führt. Die Eröffnung fand mit der ersten geführten Radtour am Samstag, dem 21. Juli 2018 statt.

Und jetzt konnte, pünktlich zur Eröffnung des Sesekeparks, mit kräftiger Unterstützung durch die Stadt Kamen, auch der Literaturpfad eingeweiht werden. Acht Stelen zwischen der Brücke von Montreuil-Juigné im Osten Kamens und der Bankgruppe kurz vor dem Eilater Weg im Westen machen den Flaneur mit Zitaten berühmter Persönlichkeiten zum Thema Freiheit bekannt.

Hier die Stationen im einzelnen:

Brücke von Montreuil-Juigné: 

Erich Fried, 1921 – 1988, österreichischer Lyriker, Essayist und Übersetzer: 

Wer sagt: hier herrscht Freiheit, der lügt, denn Freiheit herrscht nicht.

An der Bank neben der Ängelholmer Brücke: Perikles, 5. Jh. vor Christus, griechischer Staatsmann:

Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.

Am Sesekedamm, am Eingang zur Beeskower Brücke: Mahatma Gandhi, 1869 – 1948, Rechtsanwalt, Widerstandskämpfer, Moralist: 

Freiheit war niemals gleichbedeutend mit dem Freibrief zur Willkür.

Neben der Maibrücke, am Übergang zum Sesekepark: Marion Gräfin Dönhoff, 1909 – 2002, deutsche Publizistin, Chefredakteurin „Die Zeit“: 

Wer keine Grenzen kennt, kennt keine Freiheit.

Im Sesekepark, neben dem ersten Abgang zum Fluß: Volkslied aus dem 18. Jh.: Die Gedanken sind frei

Im Sesekepark, neben dem zweiten Abgang zum Fluß: Benjamin Franklin, 1704 – 1790, amerikanischer Naturwissenschaftler, Erfinder und Staatsmann:

Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.

Im Sesekepark, vor der Hochstraße: Albert Camus, 1913 – 1960, französischer Schriftsteller und Philosoph: 

Die Freiheit besteht in erster Linie nicht aus Privilegien, sondern aus Pflichten.

Neben der Bankgruppe kurz vor dem Eilater Weg: John F. Kennedy, 1917 – 1963, 35. Präsident der USA: 

Der beste Weg zum Fortschritt ist der Weg der Freiheit.

Wir hoffen, daß viele Spaziergänger diese Stelen wahrnehmen, sie lesen und sich für eine Weile mit den Gedanken zur Freiheit beschäftigen werden. Sie werden erstaunt sein, daß alle diese vor langer Zeit getätigten Aussagen immer noch, gerade in heutiger Zeit, hochaktuell sind. Erstaunlich, daß das auch und vor allem für das Volkslied aus dem 18. Jh. gilt: Das Denken läßt sich nicht verbieten: die Gedanken sind frei.

Geplant ist, die acht Tafeln in zweijährlichem Rhythmus gegen neue auszutauschen, mit einem neuen Thema und in neuer Gestalt.

KH

100 Jahre Sesekeumbau

von Klaus Holzer

Jetzt, im Jahre 2018, wird Kamens vorläufig letzte große städtebauliche Errungenschaft fertiggestellt, der Sesekepark, nach der Neugestaltung des Bahnhofsgeländes im Süden und der Errichtung des Kamen Quadrat im Norden, auf dem Areal des ehemaligen Vogelhofs (vgl. a.Art. Nordstraße), nachdem Karstadt und Hertie an dieser Stelle scheiterten. Beide Bereiche sind  funktionale Gebilde, Dienstleistungszentren, dienen der Mobilität mit dem ÖPNV und der Nahversorgung. Der Sesekepark ergänzt diese beiden Pole fast genau auf der Mitte zwischen ihnen und dient vor allem der Verschönerung der Stadt, der Erhöhung ihrer Lebensqualität, der Erholung ihrer Bürger. Besonders schön ist es, daß damit endlich unser Flüßchen, die Seseke, in die Gestaltung eingebunden wird. 2014 kam die nach einer Gesamtbauzeit von einem Vierteljahrhundert 1988 begonnene Renaturierung der Seseke zum Abschluß, rund 100 Jahre nach der ersten großen Umbauphase, die mit der Gründung der Seseke-Genossenschaft 1914 ihre nominellen Anfang nahm, und erst 1936 endgültig abgeschlossen wurde und damit ähnlich lange dauerte.

Vor 1900 war die Seseke ein mäandrierender Flachlandfluß, der vor allem durch seinen Fisch–, Krebs– und Muschelreichtum stark zur Ernährung der Kamener beitrug1, aber auch regelmäßig weite Teile der Stadt überschwemmte, Fluch und Segen zugleich war. Nicht zuletzt war ein Altarm der Seseke, wo er, von Heeren kommend, auf die Stadtmauer traf, etwa in Höhe der „Bleiche“ auf der Ostenallee, die erste Kamener Badeanstalt, betrieben von der Badegesellschaft „Flora“.

Abb. 1: Camens erste Badeanstalt

Abb. 2: Die Seseke, ein mäandrierender Flachlandfluß

Über die Überschwemmungen berichtet auch August Siegler2, im Jahre 1927: „Besonders groß war die Ueberschwemmung am 24. Februar 1890. An der jetzigen neuen Maibrücke und am Rathaus sind Marken angebracht, die den damaligen Höchststand des Wassers an den bezeichneten Stellen anzeigen. Der Strom von der Ostenmauer über die Bahnhofstraße nach der Klosterstraße war so stark, daß ein Mensch nur mit großer Mühe und Gefahr durch das Strombett gehen konnte. Die Feuerwehr hatte die ganze Nacht schwer gearbeitet, um Menschen, Tiere und Sachen zu retten. Aus dem Torwärterhäuschen, das da stand, wo jetzt das Geschäft von Thöling (Anm: heute Bahnhofstraße 53) ist, holten sie frühmorgens noch die alte Bewohnerin, Frau Rentsch, die in ihrem schwimmenden Bette lag. Den Leuten wurden Lebensmittel, die an Latten gebunden waren, in die obere Etage gereicht. Das Ganze bot einen schönen und doch furchtbar grausigen Anblick. Später wurde der Flutkanal nördlich von dem jetzigen Sparkassengebäude, der einen Teil des Wassers aus dem Mühlenkolk schneller weiterleiten sollte, angelegt. Diese Anlage genügte aber nicht, um weiter Ueberschwemmungen zu vermeiden.“ 

Abb. 3: Das Hochwasser vom 24. Februar (oder November) 1890

So weit, so gut, die Kamener waren Hochwasser gewöhnt, sie arrangierten sich mit dem Unvermeidlichen. Als dann aber 1873 der Bergbau in unsere Region kam, änderte sich alles. Im Oktober 1905 leiteten die Zechen Königsborn III/IV , Schacht Bönen, und Courl riesige Mengen Ammoniak in Seseke und Körne ein und verwandelten die beiden Flüßchen in tote Gewässer. Die Märkische Zeitung schrieb wiederholt zu diesem Thema: „Unsere Sesike ist jetzt ein totes Wasser geworden, kein lebendes Wesen, weder Fisch noch Frosch, noch sonst ein Tierchen macht sich darin bemerkbar. … Viele Zentner der schönsten Fische aller Art, sowie Millionen kleiner Fische, der jungen Brut, bedeckten die Oberfläche des Wassers und wurden von zahllosen Fischliebhabern aufgefangen und als gute Beute heimgeholt.“ Und abschließend, da die Zeche bei Bönen als Schuldige ausgemacht ist, die Mahnung: „Die Industrie begrüßen wir als lebenweckenden Faktor mit Freuden, aber sie darf nicht tötend und verderbenbringend werden.“ (Märkische Zeitung, mehrfach im Oktober/November 1905)

Jetzt war den Kamenern nicht nur ein Teil ihrer Nahrungsgrundlage entzogen, sondern jedes Hochwasser bescherte ihnen auch ernste gesundheitliche Gefahren. Da Kamen eine nur rudimentäre Kanalisation hatte, das meiste Abwasser aus den Häusern direkt in die Rinnen an den Straßenrändern und von dort in offene Gräben floß, bedeutete Hochwasser eben auch, daß jetzt Schmutzwasser in den Straßen stand, Fäkalien eingeschlossen. Es war also dringend erforderlich, die Sesekeregulierung und, damit einhergehend, Kamens Kanalisation anzugehen.

Im Winter 1913/14 wurde es konkret, die Sesekegenossenschaft gründete sich. Ihre erste Sitzung, die Gründungsversammlung, fand am 4. April 1914 in Dortmund statt. Wie wichtig das Vorhaben war, zeigt die Tatsache, daß diese Sitzung durch den Regierungspräsidenten Alfred von Bake eröffnet wurde. Er stellte fest, daß sich seit der Jahrhundertwende die Verhältnisse an der Seseke denen an der Emscher angeglichen hätten: die industriellen Anlagen führten zu Verschlammungen, die Zustände würden zunehmend unhaltbarer. Daher sei diese Zwangsgenossenschaft nötig. Auf dieser Versammlung wurde, abgesehen von einigen kleineren Satzungsänderungen, nur der Vorstand gewählt. Stellvertretender Vorsitzender wurde der Kamener Bergrat Fritz Funcke (ehem. Kamener Zechendirektor, 1925 zum ersten Ehrenbürger der Stadt Kamen ernannt) der sich in vielerlei Hinsicht um Kamen verdient gemacht hat und der älteren Kamenern noch als Besitzer und Bewohner der Funckenburg (heute Zollpost) in Erinnerung sein dürfte. 

Zum Schluß der Versammlung gab von Bake seiner Hoffnung Ausdruck, daß die Genossenschaft einen „weisen Ausgleich“ zwischen den divergierenden Interessen von Industrie und Landwirtschaft finden möge3, die Industrie habe der Landwirtschaft viel verdorben, klage selber über hohe Kosten.

Anfang Juli 1914 wird die Satzung der Genossenschaft durch den preußischen Landwirtschaftsminister Clemens Freiherr von Schorlemer-Lieser genehmigt und tritt damit in Kraft. 

Kamen ist zu dieser Zeit noch das verträumte kleine Ackerbürgerstädtchen, das es jahrhundertelang gewesen war. Zwar war die zentrale Fließendwasserversorgung seit 1887/88 zunehmend  ausgebaut worden, doch gab es keine umfassende Entsorgung des Schmutzwassers, da es keine Kanalisation gab. Aus einer Anfrage im Kamener Volksfreund vom 19. September 1875 geht hervor, daß schon damals auf diese Übelstände aufmerksam gemacht wurde. Die Anfrage lautete: „Wann wird mit der Beseitigung unserer städtischen Schönheiten, den vielen Kloaken, endlich ein Anfang gemacht ? – Die Bewohner der Kloaken–Gegend.“ Das bedeutete im Klartext, daß es in Kamen Stellen gab, an denen vor Schmutz und Gestank kaum Leben möglich war. Die Kamener Zeitung vom 24. April 1915 nennt zwei besonders üble Beispiele: Kommt ein Gast per Bahn nach Kamen und geht die Bahnhofstraße entlang, so gibt Kamen hier die denkbar schlechteste Visitenkarte ab. Auf dem Stück zwischen der Bahn und der Stelle, wo heute das Rathaus steht, lagen „Fäkalien, Müll und allerlei Unrat zuhauf auf und neben der Straße, übler Gestank verpestete die Luft, der Anblick würde den Gast zur sofortigen Umkehr veranlassen. Und was sich dort an Krankheitskeimen tummele, sei nur zu vermuten“. Eine weitere, noch schlimmere Stelle macht er in der Nordenfeldmark aus, wo sie, „wenn man aus der Stadt kommt, bei der alten VfL-Turnhalle links abbiegt“.

Die ersten eher zaghaften Anfänge wurden ab 1892 gemacht, wenige Jahre, nachdem die ersten zentralen Wasseranschlüsse gelegt worden waren. Am 25. August 1925 begannen die endgültigen Kanalisationsarbeiten in Kamen. Die volle Wirkung der Kanalisation würde erst nach der Fertigstellung der Hausanschlüsse ganz gewürdigt werden können, war man sich sicher. Nach Abschluß der ersten Bauabschnitte waren die Schmutzgräben im Osten, Norden und Westen der Stadt verschwunden und  man glaubte, daß Überschwemmungen in Zukunft als nahezu ausgeschlossen zu betrachten seien. 

In Kamen eine Kanalisation zu bauen, ist jedoch eine schwierige Sache, weil die Stadt eben ist und unter häufigen Hochwassern leidet. Wegen dieser Umstände mußte der Boden der Seseke um ca. zweieinhalb Meter abgesenkt werden, sonst fließt das Wasser nicht mehr bzw. in die falsche Richtung. Der Artikel nennt das „recht erschwerte Abflußverhältnisse“. Doch wußte man in Kamen auch, daß es noch lange dauern würde, bis sich diese Verhältnisse verbesserten, da ja ein gutes halbes Jahr vorher der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, weswegen sich der Bau der Kanalisation deutlich verzögern würde. 

Dann jedoch hilft ausgerechnet diese Tatsache der Stadt unerwartet zu einem früheren Beginn der Arbeiten zur Regulierung der Seseke. Am 5. August 1915 berichtet die Kamener Zeitung: „Seit einigen Tagen ist mit den Vorarbeiten für die Sesekeregulierung in den Marschweiden (Anm: Im Mersch) begonnen worden; dieselben werden von einem 10 Mann starken Trupp französischer Kriegsgefangener ausgeführt, die man gleich hinter dem Staubecken der hiesigen Mühle bei den Erdbewegungsarbeiten beobachten kann.“

Abb. 4: Blick auf den Mühlenkolk, um 1900

Eine wesentliche Ursache für Kamens Hochwasserprobleme scheint der Mühlenkolk gewesen zu sein, der bis 1923 oberhalb der Maibrücke lag und ein Stück weit in die Bahnhofstraße (die vorher zwischen Markt und Maibrücke Mühlenstraße hieß) bis vor die heute noch an dieser Stelle liegende Einfahrt zur Mühle ragte.

In diesem Artikel fallen dem Leser sofort zwei Formulierungen besonders auf: die Bahnhofstraße wird hier ohne jede Ironie die „Hauptstraße von Kamen“ genannt. Die Eisenbahn war das wichtigste Verkehrsmittel der Zeit, die Verheißung der Moderne, der Zukunft. Und der „Abfluß des Mühlenkolks (Anm: also nicht die Seseke selber!) geht durch die Straßenbrücke von Kamen“. Hier wird verklausuliert deutlich, was wir Heutigen uns nicht mehr vorstellen können, nämlich, daß die Maibrücke bis 1923 die einzige Straßenbrücke Kamens war.4 

Das Thema Hochwasser bewegte unsere Vorfahren sehr stark. In diesem Artikel werden auch Auswirkungen benannt: „Die oberhalb (Anm.: des Mühlenkolks) liegenden Wiesen und Weiden liegen bis zu der Köln-Mindener Bahn vollständig im Rückstau dieses Mühlenstaues und werden bei höherem Wasser überflutet.“ Und indirekt bedeutet das natürlich auch, daß durch den Bau eben dieser Eisenbahn die Kamener Hochwässer verstärkt wurden, konnte das Wasser doch nur noch bis zu diesem Damm steigen, schwappte dann zurück in die Stadt. Und halb stolz, halb bedauernd, erwähnt der Autor dann auch noch, daß „die am Rathaus angebrachten Marken beweisen“, wie sehr die Stadt unter dem Hochwasser zu leiden hatte, „deren höchste [zeigt] den Wasserstand vom November 1890 [an] und liegt „etwa 70 Zentimeter über der Straßenfahrbahn“.

Abb. 5. Das Hochwasser von 1923, mit Dammbruch am Mühlenkolk

Das Hochwasserproblem war zumindest teilweise mit der Existenz des Mühlenstaus verbunden, weswegen schon vorher ein drei Meter breiter Flutkanal an der rechten Seite gemauert worden war. So konnte das Wasser reguliert abfließen, was aber offenkundig nicht reichte. Im Zuge der Neuregulierung der Seseke war man an dieser Stelle dabei, ein Stück neu auszubauen. Darum mußte die Seseke hier durch den ehemaligen Stadtgraben, den Umflutgraben, umgeleitet werden. Dazu wurde ein Damm errichtet. Es hatte tagelang geregnet, und der Umflutgraben konnte die Wassermassen nicht mehr fassen. Die Kamener hofften, der Damm werde halten, doch „do kennt dä Lüe user Sesike schlecht,“ sagte ein alter Kamenser . Und schon geschah es: „Da sprang gestern um die erste Mittagsstunde der Damm mit Krach und Getöse entzwei. Die Wassermassen setzten sich mit aller Kraft durch und nahmen die schweren Balken, die Bretter und Brettchen mit Leichtigkeit mit.“ (Kamener Zeitung, 3. Februar 1923)

So geschehen am 2. Februar 1923, direkt am Mühlenkolk, unterhalb der Mühle Ruckebier an der Maibrücke (merkwürdigerweise war genau das gleiche 125 Jahre vorher bei einem Umbau schon einmal geschehen). Endgültige Abhilfe versprach man sich von der kompletten Beseitigung des Mühlenkolks. Die aber würde es dem Müller unmöglich machen, weiterhin mit Wasserkraft zu mahlen. Warum hätte der Müller zustimmen sollen? Also wurden Pläne für dessen Enteignung „vorläufig und endgültig“ festgestellt.

Aber es war von Anfang an klar, daß man, um die Probleme mit der Seseke beheben zu können, sich nicht nur auf den Fluß beschränken konnte, schließlich wollten die Kamener endlich ihre Kanalisation haben, doch ist jeder Fluß mit anderen verbunden. Höhenverhältnisse zu verändern, bedeutet unweigerlich, alle anderen Gewässer ebenfalls verändern zu müssen. Im August 1920 meldete die Kamener Zeitung, daß auch die Körne zweieinhalb bis drei Meter tiefer gelegt werden solle, die ja bekanntlich in die Seseke fließt. Grund: Dortmund wollte ebenfalls eine Kanalisation bauen. Im Gefolge dieses Umbaus verlor dann auch die Berger Mühle ihre Existenzgrundlage, und im weiteren Verlauf der Seseke mußte auch noch die Hilsingsmühle in Methler aufgeben. Im Fall Berger Mühle scheint es rechtzeitig zu einer Einigung gekommen zu sein. Die Sesekegenossenschaft hatte die Staugerechtsame5 rechtzeitig erwerben können.

Abb. 6: Die Berger Mühle, kurz vor ihrem Abriß 1927

Eine weitere Folge der damaligen Sesekeregulierung war der Bau neuer Straßen (u.a. der Rathenaustraße, heute Koppelstraße) und von Wohnhäusern für Bergleute. Für alle diese Baumaßnahmen war damals eine landespolizeiliche Genehmigung erforderlich.

Ende Oktober 1920 war es dann endlich so weit: die Arbeiten zur Regulierung wurden begonnen. Die Kosten wurden je nach „Maßgabe der Interessenten“ verteilt. Für das Jahr 1920 entfielen auf

Kamen    8.644 Mark

Unna    8.869 Mark

Bergkamen    2.805 Mark

Westick    1.064 Mark

Methler    2.159 Mark

Zeche Grillo    17.000 Mark

Derweil schritten die Reparaturarbeiten an der Maibrücke, gut voran. Sobald der Beton trocken war und die nötige Festigkeit erlangt hatte, wurden die Straßenbahnschienen von der alten auf die neu fertiggestellte Seite verlegt, und die Kleinbahn  konnte wieder ungestört rollen.

Acht Jahre dauerte es, bis die bereits 1915 ins Auge gefaßten Arbeiten zur Entfernung des Mühlenkolks begonnen werden konnten. Kurz vor Weihnachten 1923 machte sich die Stadt Kamen selber ein Geschenk: „Im Mühlenkolk kann Schutt abgeladen werden. Diese Nachricht wird manchen Bürger, der nicht weiß, wohin mit der Asche, erfreuen. Wir glauben, daß der Kolk auf schnelle und für die Stadt billige Art zugeschüttet sein wird.“ (Kam. Zeit., 20. Dez. 1923) Schließlich hatte jeder Haushalt mindestens einen, meist mehrere Kohleöfen in der Wohnung. Und der Gedanke, daß Kohleasche später eine Altlast sein würde, war noch nicht in der Welt.

Abb. 7: Arbeiten an der Seseke-Regulierung, hier im Bereich der Koppelstraße

Im Januar 1928 ist man sich bei der Kamener Zeitung sicher, daß die Arbeiten an der Seseke noch im selben Jahr beendet werden können, weil 1927 der Umbau auf 400 Metern Länge in der Kamener Innenstadt abgeschlossen werden konnte. Das Jahr 1927 brachte so große Fortschritte, weil zweckmäßige neueste Technik angeschafft worden war: „Wasserhaltungsmaschinen6 und ein Vierseilgreifer“, mit deren Hilfe das notwendig gewordene neue Flußbett schneller als bloß mit Hacke und Schaufel gegraben werden konnte. Als besonders zeitaufwendig erwies sich das Gelände an der Fünfbogenbrücke, weil hier, wie auch an anderen Stellen im Verlauf der Seseke auf dem Kamener Stadtgebiet, Fließboden besondere Sorgfalt erforderte, doch zusätzlich die damals 80 Jahre alte Brücke wegen der Tieferlegung der Flußsohle auf neue Fundamente gesetzt werden mußte, natürlich bei laufendem Verkehr. Dazu mußten die alten Fundamente freigelegt und neu unterfüttert werden.

Abb. 8: An vielen Stellen mußte ein neues Flußbett gegraben werden.

Für den Transport der großen Materialmengen beim Bau (ca. 15.000 m3 Aushub, ähnlich große Mengen an Steinen, Beton und Hochofen– und Kesselschlacke für die Fundamente und das Mauerwerk des seitlichen Gerinnes, das bei Hochwasser den größten Teil des Drucks von den Brückenpfeilern nehmen sollte) wurde extra eine Schmalspurbahn vom Bahnhof Kamen dorthin verlegt. 

Besondere Erwähnung findet in dem Artikel der Kamener Zeitung vom 18. Januar 1928 die Tatsache, daß 1927 „90 Arbeiter aus Kamen und Umgebung eine lohnende Beschäftigung“ auf der Baustelle fanden, darunter „50 Erwerbslose (Notstandsarbeiter)“. 

Im selben Jahr 1927 wurden auch die Arbeiten an der Seseke in Heeren-Werve beendet, der Mühlbach wurde in Angriff genommen.

Die Seseke sollte bis zur Straße Werve – Flierich reguliert werden. Bis Ende 1930 wollte man fertig sein. Dazu gehörten auch die durch den neuen Verlauf des Flusses nötig gewordenen Brücken.

Abb. 9: Hier wurde die „Wandelhalle“ angelegt; im Hintergrund die Halle der Seilerei Overmann.

Das Unternehmen Sesekeregulierung war aus der Not geboren und verlangte allen Beteiligten viel ab, Geduld, Geld, Planung, Unbequemlichkeiten. Aber selbst für das Schöne hatte man etwas übrig, sah, daß das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden gehört, wenn das Erstere Akzeptanz finden soll. Man legte in Kamen eine Seseke-Promenade an, wieder als „Notstandsarbeit“, mit „schönen Anlagen, wie Ruhebänken, Wandelhalle, Kinderspielplätzen mit Sandkästen“. Dabei handelte es sich um das Stückchen Weg rechts der Seseke, zwischen Mai- und Vinckebrücke.7 

Abb. 10: Der Bau der „Bindebrücke“, später Vinckebrücke genannt.

Abb. 11: So sah die Vinckebrücke bis zu ihrem Abriß im Frühsommer 2018 aus.

Abb. 12: Die neue Vinckebrücke, am 15. August 2018 eingebaut

Auf diesem Weg gab es die nach allen Seiten offene Halle der Seilerei Overmann, die als „Wandelhalle“ integriert wurde. Diese Wandelhalle sollte auch Pausenhalle für die Kinder der nahen Schulen sein, in ihrer Nähe wurden Bänke für Spaziergänger aufgestellt. (Kamener Zeitung, 11. und 31. 8. 1931) Später, so sahen es die Pläne vor, sollte diese Promenade bis zur 1924 fertiggestellten Rathenaustraße weitergeführt werden, eine Anbindung schaffen zwischen der Stadt und den bereits vorhandenen Grünanlagen um den Koppelteich herum, wozu es aber offenbar nicht mehr kam.

Weiter flußabwärts war inzwischen ebenfalls viel passiert. Auch Lünen hatte mit Hochwasser zu kämpfen. Dort sorgte nicht nur die Seseke für Überschwemmungen, sondern, schlimmer noch, auch die Lippe. Ursprünglich mündete die Seseke westlich von Lünen in die Lippe, das bedeutete aber für die Stadt, daß man zwei eingedeichte Flüsse in der Stadtmitte hatte. Kurzerhand verlegte man die Sesekemündung nach Osten, bevor der Fluß die Stadtmitte durchfloß. So erreichte man, daß nur ein Deich zu bauen und zu erhalten war. Auch hier wird wieder betont, daß es sich um Notstandsarbeiten handelte und daß „die Erwerbslosen der Stadt […] Lünen je nach Bedarf zu den Arbeiten herangezogen [werden]. Im Durchschnitt finden etwa 150 Mann Beschäftigung.“ (Kamener Zeitung, 28.8.1931) Für diese Arbeiten zeichnet aber bereits der am 19. Januar 1926  gegründete Lippeverband verantwortlich, dem sich die Sesekegenossenschaft 1926 angeschlossen hatte. Es war nämlich allen Beteiligten sehr bald klar geworden, daß isoliertes Arbeiten an einem Fluß kein Problem lösen konnte, daher mußte im Flußbereich der Lippe, zu dem die Seseke gehört, einheitlich gehandelt werden8. 

Als diese Arbeiten 1936 zum Abschluß kamen, zählt der Autor eines Artikels in der Märkischen Zeitung vom 6. Januar 1936 auf, was alles an Widrigkeiten durch die Regulierung der Seseke behoben werden konnte. Jedes Hochwasser, ob durch Regen oder Schneeschmelze, „hinterließ auf Wiesen und Aeckern einen zähen, übelriechenden Schlamm“, der auch die Keller der angrenzenden Häuser verdreckte und „Herd für allerlei Krankheiten“ war. Die „großen, übelriechenden Sümpfe bei Schwansbell sind verschwunden, aus den versäuerten Wiesen, den verschlammten Aeckern ist fruchtbares Land geworden“. 

Abb. 13 & 14: „Der Bach geht jetzt in fast gerader Linie durch die Landschaft.“

Abschließend stellt der Autor fest – für uns Heutige, die möglichst intakte Natur lieben, kaum noch verständlich – daß das frühere Flüßchen mit seinen vielen Windungen und Krümmungen und seinen flachen Ufern als „Bach jetzt in fast gerader Linie durch die Landschaft“ geht. Das sei aber nur für „Romantiker, nicht aber für den Bauer (sic!)“ von Interesse, denn dieser habe nun fruchtbares Land gewonnen. Der Umbau im ganzen wird als „kulturelle Maßnahme“ gefeiert, der leider die Adener Mühle, die letzte im weiten Umkreise, zum Opfer gefallen sei. Auch sie mußte, nach der Böingschen Mühle, der Kamener Mühle, der Berger Mühle und der Hilsingsmühle ihren Wasserbetrieb einstellen. Einige dieser Müller versuchten noch, sich als Windmüller zu behaupten, was aber aussichtslos war (Berger Mühle), mit einem elektrischen Mahlwerk zu überleben, was aber nur noch eine begrenzte Zeitspanne den Weiterbetrieb ermöglichte (Hilsingsmühle; die Kamener Mühle Ruckebier hatte schon im Juli 1906 auf Turbinenbetrieb umgestellt). 

Abb. 15: Die Adener Mühle

Die Industrialisierung Kamens und seiner Umgebung, überwiegend durch den Bergbau repräsentiert, brachte Beschäftigung und Geld in die Stadt, führte aber zur Veränderung der vorher weitestgehend „natürlichen Kulturlandschaft“. 1905 vergifteten die Zechen Courl und Königsborn III/IV in Bönen Körne und Seske durch die Einleitung großer Mengen Ammoniak, was alles Leben dort vernichtete. Es folgten Bergsenkungen, Bäche veränderten ihren Lauf, in neu entstandenen Mulden sammelte sich Wasser, in dem sich angesichts der allgemeinen hygienischen Umstände schnell Krankheitskeime vermehrten, die zu verbreiteten gesundheitlichen Problemen der Bevölkerung führten. Da das stehende Wasser die Gefahr darstellte, war der Grundgedanke der Regulierung: Wenn das jetzt stehende Wasser schnell abfließt, löst sich das Problem auf. Was auch im ganzen recht gut funktionierte. In der Folge konnten alle Seseke-Anrainer ihre Kanalisation bauen, des weiteren ging 1942 das Körne-Klärwerk in Betrieb. Alles zusammen war der Fortschritt, und die Menschen wußten ihn zu schätzen.

Abb. 16: In der ersten Dezemberwoche 1960 ging die Kamener Badeanstalt baden

Doch waren damit beileibe nicht alle Probleme behoben. Das Abwasser aus der Kanalisation wurde trotz des neuen Klärwerks größtenteils ungeklärt in die Seseke geleitet. Der sommerliche Gestank ist noch allen älteren Kamenern in unguter Erinnerung. Und auch die Hochwassergefahr war entgegen der Hoffnung der Kamener nach der Regulierung in den 1920er Jahren nicht endgültig gebannt. So kam es immer wieder zu Hochwassern. In der ersten Dezemberwoche 1960 stand ganz Kamen erneut unter Wasser. Die Seseke überschwemmte wieder einmal die Stadt, bis zum Markt schwappten die Fäkalien, Gottseidank stark verdünnt. Glückauf- und Martin-Luther-Schule lagen in einer Senke und standen sofort unter Wasser. Das Gymnasium, der alte Bau an der Hammer Straße, heute Diesterwegschule, war eine ganze Woche lang geschlossen. Hunderte Tiere im Biologiekeller, vor allem aus der Mäusezucht von „Egon“ Seliger, ertranken, seine Fische flutschten durch den Gully, bis auf den dicken Wels, der nicht hindurchpaßte. Die Kohle, die wir alle zum Heizen der Wohnungen brauchten, mußte aus überfluteten Kellern geholt werden und war pitschnaß. Im Hof wurde sie aufgeschüttet, damit das Wasser ablaufen konnte. Wenn man denn überhaupt an sie herankam. In vielen Fällen mußte man nach ihr tauchen.

Abb. 17: Der Rückbau zum „natürlichen“ Fluß

Abb. 18 – 20: Die „neue“ Seseke

Inzwischen ist unser Flüßchen erneut umgebaut, renaturiert worden (heute wird der Begriff „revitalisiert“ vorgezogen, weil die neue Natur ohne Technik nicht funktioniert). Seit 2004 führt die Seseke nur noch Reinwasser (also Quellwasser, Regenwasser, Oberflächenwasser, geklärtes Wasser), ähnelt in ihrer Gestalt über weite Strecken wieder dem ursprünglichen Flachlandfluß. 

Abb. 21: 5. Januar 2012: Hochwasser an der Körnemündung …

Abb. 22: … und unterhalb der Maibrücke

Nach diesem Umbau der Seseke, ihrer Renaturierung, hat es schon mehrfach starken, lang anhaltenden Regenfall gegeben. Ihr Wasserstand war hoch, besonders an der Körnemündung entstand eine Art See, doch nirgends trat Wasser über die Ufer. Die Wasserbauingenieure haben ein 50-Jahr-Hochwasser in ihren Plänen berücksichtigt. Es scheint, als wäre die Zeit der Überschwemmungen der Kamener Innenstadt vorbei. Hochwasser- und Regenrückhaltebecken zusammen mit einem vergrößerten Flußquerschnitt erfüllen ihren Zweck. Der Mensch hat es endlich geschafft, das Hochwasser zu beherrschen.

Da lag es nahe, das innerstädtische Ufer den Kamenern zugänglich zu machen und städtebaulich mit dem Sesekepark einen Glanzpunkt zu setzen. Es ist zu hoffen, daß er den Bürgern noch lange noch viel Freude bereitet.

KH

Abb. 1,2,3,4,5,7,10: Stadtarchiv Kamen; Abb. 6: Frau Ursula Schulze Berge; Abb. 8: Frau Maria Volkermann; Abb. 9: Familie Späh; Abb. 16: Archiv Klaus Holzer; Abb. 11,12,13,14,17,21,22: Photos Klaus Holzer; Abb. 15: Stadtarchiv Bergkamen; Abb. 18,19,20: Dr. Götz Heinrich Loos

Fußnoten:1 Wie bedeutend die Fischerei in Kamen war, läßt sich daran erkennen, daß im Jahre 1702 die Verpachtung der Fischereirechte der Stadt Kamen etwa 4% ihres Haushalts einbrachte. Der Stadtchronist Friedrich Pröbsting schreibt in seinen Lebenserinnerungen, daß er in seiner Kindheit, in den 1830er Jahren, mit seinem Vater mehr als 100 Pfund Fische oder 100 – 200 Krebse an einem einzigen Tag aus der Seseke zog.

2 Ein prominenter Kamener, Lehrer, Rektor, nach dem Ersten Weltkrieg Beigeordneter der Stadt Kamen, Vorsteher des Arbeitsamtes, Ehrenmitglied der Sanitätskolonne und in vielen weiteren Ehrenämtern tätig, genauer Stadtchronist seiner Zeit, zuletzt leider auch glühender Bewunderer Hitlers.

Offenbar gibt es einen Dissens in der Frage des höchsten Hochwassers. Siegler gibt den 24. Feb. 1890 an, während die Kamener Zeitung vom 26. und 28. 8. 1915 den November 1890 angibt).

3 Das gab es auch bei der Eröffnung des Projekts „Über Wasser gehen“ im Rahmen des Kulturhauptstadtjahrs Ruhr 2010. Thomas Stricker ließ im Sesekeknie in Oberaden eine künstliche Insel im Fluß anlegen, als natürliche Skulptur. Ein Bergkamener Landwirt klagte dagegen, mit der Begründung, daß seine benachbarten Äcker durch den verringerten Querschnitt der Seseke umso leichter von Hochwasser betroffen sein würden.  

4 August Siegler schreibt: „Bei dem Neubau der Maibrücke zeigte es sich, wie notwendig es war, daß neue Wege über die Seseke geschaffen wurden. Im Jahre 1921 brach man zuerst die halbe alte Brücke ab, um den Neubau ohne Unterbrechung des Verkehrs, der gerade damals sehr stark war, durchzuführen. Jedoch konnte der stehengebliebene Rest der Brücke bei der äußerst starken Inanspruchnahme nicht standhalten, zumal die Stützmauer an der Westseite abgebrochen war, wodurch der restliche Brückenteil seinen festen Halt verloren hatte. Eines Tages versagte die Brücke ihren Dienst. Sie konnte ohne große Gefahr nicht mehr befahren werden. Zum Glück hatten die Bauleiter die Gefahr frühzeitig genug erkannt und sperrten die Brücke für Fuhrwerke. Es dauerte einige Tage, bis durch lange T-Eisen wieder eine feste Grundlage für einen Brückenweg geschaffen war.

Bis zur Fertigstellung dieser Notbrücke war die Stadt mit Fuhrwerken nur auf Umwegen zu erreichen und zu verlassen. Die schwache Holzbrücke im Osten der Stadt war dem Ansturm nicht gewachsen und mußte bald für Fuhrwerke polizeilich gesperrt werden, um weiteres Unheil zu verhüten. Aller Fuhrverkehr mußte nun über Westick oder Derne–Heeren geleitet werden, weil Kamen nur den einen Verkehrsweg hatte, der nun nicht benutzt werden konnte. Da seit Beginn des Brückenbaues fast ein Jahr vergangen war, wurde Herr Bergrat Funcke, der seit einiger Zeit in Wittbräucke wohnte, gebeten als Vorsitzender des Vorstandes der Seseke–Genossenschaft dahin zu wirken, daß Kamen bald aus dieser Verkehrsnot erlöst und die Fertigstellung der Brücke beschleunigt würde. Diese Bitte hatte den Erfolg, daß die Brücke nun in einigen Wochen fertiggestellt wurde. Das war im Juni 1921. Die überstandenen Schwierigkeiten haben aber doch ihren Nutzen geschaffen. Man hatte allgemein die Ansicht gewonnen, daß der bisherige Zustand nicht bestehen bleiben durfte, daß weitere Wege über die Seseke angelegt und zur Verwirklichung solcher Anlagen Opfer gebracht werden mußten.“ (Die Entwicklung der Stadt Kamen. Rückblick, Vergleich, Ausblick. Rückblick auf 50 Jahre – 1873 – 1926. Abgedruckt in: Zechenzeitung 1926/27) Mit dem Bau der neuen Maibrücke schuf man auch einen breiteren Durchfluß, um den Abfluß des Wassers nicht zu hemmen.

5 eine Gerechtsame ist ein Nutzungsrecht oder ein Privileg

6 Eine solche Maschine hält die Arbeitsgrube wasserfrei; das kann eine Pumpe sein, aber auch, ganz einfach, können Gräben und Rohrleitungen diesen Zweck erfüllen.

7 Während der Reparaturarbeiten an der Maibrücke im Jahre 1921 begriff man die Notwendigkeit, im Bereich Brücken für Entlastung zu sorgen. Selbst für Fußgänger war es schwierig geworden, das Flüßchen zu queren. Es war klar, daß Kamen zu wenige und zu wenig leistungsfähige Brücken besaß. Daher beschloß die Stadtverordnetenversammlung 1923 eine Brücke nur für Fußgänger zu errichten, als Verbindung der Bahnhofstraße über den Grünen Weg mit der Klosterstraße, „Bindebrücke“ genannt, bereits 1949 Vinckebrücke genannt. Diese neue Brücke war sofort ein voller Erfolg, wurde rege benutzt. Später erwies sich ihr Bau als sehr weitsichtig, diente sie doch dann auch als kürzeste Verbindung zwischen Innenstadt und Koppelteichgelände und ab 1927 zur Badeanstalt. Und gleich dahinter lag ja auch noch der Hemsack mit Deutschlands einziger 1000-Meter-Bahn.

8 Der erste deutsche Wasserwirtschaftsverband war die Emschergenossenschaft, gegr. am 14. Dezember 1899

KKK eröffnet K10

von Klaus Holzer

Nach fast 5½-jähriger Vorlaufzeit ist sie endlich fertiggeworden, die Kulturroute West des KKK! Sie bietet einen leicht zu radelnden Rundkurs durch und um Methler. Dabei gibt es informative Tafeln an insgesamt neun Stellen, die historisch bedeutsam sind. Neben etlichen bekannten Orten wie z.B. dem Bahnhof Kamen

Abb. 1: Die Tafel am Bahnhofsgebäude in Kamen

und der Margaretenkirche Methler (diese Tafel kann erst nach Abschluß der Arbeiten an der Kanalisation aufgestellt werden) wird aber auch auf viele eher unbekannte Stellen aufmerksam gemacht. Wer weiß z.B. schon, daß am 2. Juli 1761 an der Wasserkurler Körnebrücke eine Schlacht stattfand, die gravierende Folgen für die Bevölkerung hatte? Und daß es an der Körne bis 1927 eine Mühle gab, die Berger Mühle?

Abb. 2: Die Tafel an der Margartenkirche in Methler

Folgende neun Ziele werden angesteuert: Bahnhof Kamen, germanische Siedlung im Seseke-Körne-Winkel, Wasserkurler Körnebrücke, altes Gasthaus Schulze Beckinghausen, Sportcentrum Kaiserau, Bergarbeiter Kolonie Sektion VIII in Kaiserau, Margaretenkirche in Methler und Technopark mit Gartenstadt Seseke-Aue in Kamen. Zu dieser Route wird es ein von der Stadt Kamen herausgegebenes Faltblatt mit Angabe des Rundkurses und inhaltlichen Notizen geben. Dort wird dieser Rundkurs als Kamener Kulturroute K10 geführt.

Diese Rundfahrt ist 15,5 km lang und hat insgesamt einen Höhenunterschied von 70 m, ist also auch als etwa zweistündiger Familienausflug geeignet.

Zur Eröffnung der K10 führte Klaus Holzer vom KKK  eine Tour am Samstag, 21. Juli 2018, durch.

Bereits in Arbeit ist die Ergänzung, die Kulturroute Ost, die bedeutsame Stellen und Gebäude in und um Heeren bekanntmachen soll.

Abb.3: Die Tafel am SportCentrum Kaiserau

Die K 10 (ursprünglich vom KKK Kulturroute West genannt) ist das Gemeinschaftswerk einer Vielzehl von Personen und Organisationen. Zuallererst sind hier die ehemals vier, jetzt nur noch zwei Mitglieder des KKK zu nennen, die die Idee hatten und inhaltlich und gestalterisch ausfüllten (in alphabetischer Reihenfolge): Dorothea Holzer, Klaus Holzer, Reimund Kasper und Hans Jürgen Kistner.

Doch wäre alles ohne die Hilfe der am unteren Rand der Tafeln aufgeführten Institutionen nichts geworden: vor allem die Sponsoren LionsClub Kamen Westfalen, LionsClub BergKamen sind hier zu nennen, doch auch die Hilfe des ADFC beim mehrmaligen Abfahren der Route muß erwähnt werden, und ohne die Kooperation mit der Stadt Kamen wäre es nicht zur Eröffnung am heutigen Tage gekommen. Und Dank auch an die DB AG, die Ersatz für die gestohlene Denkmaltafel im Rahmen unserer Gestaltung am Bahnhofsgebäude zugelassen hat, so konnten wir diese Stelle in die K 10 einbeziehen.

Die K 10 ist keine bloße Fahrradtour, wie es sie bereits mehrfach gibt, aber auch keine geführte Tour, auf der man an vielen Stationen Halt macht und Erklärungen zu unterschiedlichen Objekten abgegeben werden, sondern ein Mittelding: neun Stationen mit meist relativ langen Strecken dazwischen.

Es war geplant, alle Tafeln mit QR-Codes zu versehen, die die Betrachter auf die entsprechende Seite des Kulturkreises Kamen weiterleiten sollte, wo es weitere Informationen zum jeweiligen Thema gibt. Die Stadt hat sich dem jedoch verweigert, da sie keinen städtischen Link auf eine private Seite zulassen wollte. Doch enthält die KKK-Seite viele zusätzliche Informationen. Schlagen Sie die Seite kultur vor ort auf.


Abb. 4: Die Tafel am Klärwerk: eine germanische Siedlung

Das letzte Stück der Route ist noch nicht für den Verkehr geöffnet, da der Sesekepark erst am 22. September eingeweiht wird. Dann wird die K 10 von der Koppelstraße an der Seseke entlang durch den Sesekepark bis zur Bahnhofstraße führen und auf der Fahrradstraße Bahnhofstraße zum Bahnhof zurück.

KH

Alle Abbildungen: Kultur Kreis Kamen