Wilhelm Hellkötter leitet den Namen „Kämerstraße“ von der alten Verbindung über die Sesekefurt ab, von der Kamens Besiedelung ausging. Er glaubt, eine alte Form „Kemm, Kimm“belegen zu können, die sich zum plattdeutschen „Kämm-Strote“ entwickelt habe, woraus dann das hochdeutsche „Kämerstraße“ geworden sei. Verifizieren läßt sich das bisher aber nicht.
Abb. 1: Kämerstraße
Die Kämerstraße hieß ursprünglich wohl Bergcämer Straße. Sie war die wichtigste Nordverbindung Kamens und führte durch das Bergcämer Tor auf die (Berg)cämer Heide, die erstmals schon 1363 als „Bergcämer parte“ erwähnt wird. Das war ein zusammenhängendes Wald– und Heidegebiet von fast 50 qkm Ausdehnung, in der alle Anlieger, darunter auch die Camener, Huderecht besaßen (Hude = Hütung, auch auf den Platz der Hütung übertragen), d.h., dort durften sie ihr Vieh zur Weide und zur Mast treiben. Daran erinnert heute noch die „Kamer Heide“ in Overberge.
Abb. 2: Kämertorstraße
Dieses Kämer Tor hatte für die Kamener eine große, sehr praktische Bedeutung. Sie waren Ackerbürger, die ein eigenes Stückchen Land vor der Stadtmauer besaßen. Und sie wollten dieses Land leicht und schnell erreichen können, daher brauchte es möglichst viele Durchgänge durch die Stadtmauer, auch zur Ausübung ihres Huderechts, mehr als die vor allem für den „Fernverkehr“ geeigneten großen Tore in alle Himmelsrichtungen (vgl.a. Artikel Nordstraße).
Abb. 3: Die letzte Gaststätte vor dem Bergcämer Tor: Tillmann
Abb. 4: Die Rückseite der Postkarte (s. Abb. 3)
Abb. 5: Altes Torschreiberhaus
Abb. 6: Gleich vor dem Kämertor: Jühe
Außerhalb der Stadtmauer führt die Kämerstraße geradeaus weiter nach Norden, nach Bergkamen. Diese Verlängerung hieß ursprünglich der „richte Weg“, d.h., der gerade, kürzeste Weg in die Bauerschaft Bergkamen. Um 1910 erhielten die bebauten Feldmarken erstmals amtliche Straßenbezeichnungen. Der „richte Weg“ hieß von nun an Schützenstraße, weil er direkt zum Heim und Schießplatz des Kamener Schützenvereins, der „Schützenheide“, führte. (Bei der Teilung der Reck-Camenschen Gemeinheit , auch Heide genannt) erhielt die Stadt Camen „etwa 8 Morgen auf der Linkamps-Heide. Letzteres Grundstück wurde der Stadt als Schützenplatz zugeteilt.“ Friedrich Pröbsting, 1901) 1945 wurde sie in Heidestraße umbenannt, seit Anfang 1970 heißt sie Fritz-Erler-Straße. Das Umdenken bei der Vergabe von Straßennamen wird deutlich: früher gab es den örtlichen Bezug, heute steht oft die Politik bzw. ein Politiker im Vordergrund.
Abb. 7: Umzug vor der Schützenheide
Hellkötter gibt an, daß dieser Weg so stark befahren wurde, daß die Fahrrillen bis zu eineinhalb Meter tief gewesen seien, was das Befahren oft unmöglich gemacht habe. Fußgänger gar mußten am Rande der Ackerstücke entlanglaufen. Das traf besonders die Ausmärsche des Schützenvereins, der natürlich solche Wege für die Marschaufstellung zu Schützenfesten nicht benutzen konnte. Diese Märsche führten deshalb über den „krummen Weg“, der aber nicht so genannt wurde, weil er so viele Krümmungen aufgewiesen hätte (was er auch tat), sondern weil dieses Stück Land lt. einer Urkunde von 1508 „Am krummen Boome“ hieß. Das war ein krummer Grenzbaum in der Nähe der Landwehr, der das Kamener Gebiet vom Bergkamener abtrennte und auf der Höhe des Weges an der Stelle stand, wo sich Kugelbrink und Schillstraße (1910), später Schillerstraße (1945), vereinigen. 1971 wurde diese Straße Bergkamener Straße genannt.
Die Verbindung vom Langebrüggentor zum Kämertor führte vom Langebrüggentor über das „Bollwerk“, verlief zwischen den vorhandenen Burgmannshöfen hindurch, in einem Schwenk um die Grafenburg der märkischen Grafen herum zur Kämerstraße (ein kurzes Stück zwischen Weststraße und Rottstraße hieß Judengasse) zwischen Reckhof und Edelkirchenhof hindurch und dann stracks nach Norden. Straße und Tor waren also Bestandteil der täglichen Wege vieler Kamener, da ist es wahrscheinlich, daß das lange Wort „Bergkämer“ zu „Kämer“ verkürzt wurde. Bis 1660, als das Langebrüggentor zugemauert wurde (vgl.a. Artikel Maibrücke) – abreißen kam nicht in Frage, weil die Stadtmauer sonst ein Loch bekommen hätte – standen den Ackerbürgern sechs Stadttore zur Verfügung.
Abb. 8: Kugelbrink
Wie deutlich wurde, ist die Kämerstraße nicht sinnvoll vom Kugelbrink zu trennen. Der Name gibt Rätsel auf, und die Sache wird nicht einfacher durch die vielen bekannten, unterschiedlichen Schreibweisen. Doch der Reihe nach.
Von Kamen aus führten in die alte Bauerschaft Bergkamen eigentlich nur zwei Wege, der „richte Weg“ und der „krumme Weg“, die am Kämertor bei der Kamener Stadtmauer zusammenliefen. Die Wahl des Weges für die täglichen Geschäfte und Besuche, den Schul- und den Kirchgang (Kinder trugen grundsätzlich nur Holzschuhe, ihre Schulbücher wurden durch Riemen zusammengehalten; die Erwachsenen trugen „gute“ Lederschuhe meist auch nur sonntags beim Kirchgang), fiel nicht schwer. War es trocken, nahm man den „richten Weg“, der zwar unbequem war, weil ausgefahren, aber kürzer, war es naß, dann wurde der „krumme Weg“ genommen, der länger, doch besser passierbar war. Wer nimmt schon einen freiwillig längeren Weg? Natürlich ist der dann geschont, und damit besser passierbar.
Die beiden Namenbestandteile in dieser Form lassen sich relativ einfach erklären. „Kugel“ könnte sich auf die Hügelkuppe beziehen (Franz Petri), aber auch auf die „Gugel“, die im MA häufige, kapuzenartige Kopfbedeckung (Ferdinand Brandenburg). Dieser glaubt auch eine Erklärung für die Schreibweise „Kuchenbrink“ gefunden zu haben, ein Flurstück dahinter heißt „Pfannkuchen“. Weitere Formen sind Auf dem Kuckenbrink, Am kurzen Brink und Kükenbrink, die aber von allen Autoren zum Thema als Verballhornungen zurückgewiesen werden, obwohl es sie in amtlichen Verlautbarungen gibt. Es ist eben zu bedenken, daß es früher keine einheitliche Schreibung gab, jeder Schreiber lokale Varianten in die Akten eintrug. Hugo Craemer erwähnt weiterhin Kugenbrinnk, Kukenbrink und Kugenbrink, die alle zwischen 1750 und 1827 in Gebrauch gewesen seien, doch sind sie einander so ähnlich, daß nur von abweichenden Schreibweisen und nicht grundsätzlich anderen Namen die Rede sein kann.
Das zweite Element, „brink“, ist leichter zu definieren, handelt es sich dabei doch klar um eine erhöhte Lage am Ortsrand (vgl.a. englisch brink = Rand), wo oft Kötter angesiedelt waren, sog. Brinksitzer. Da „Brink“ bereits als erhöhte Lage definiert ist, ist es allerdings nicht ganz einsichtig, warum das mit „Kugel“ ein zweites Mal geschehen sollte.
Abb. 9: Gastwirtschaft zur deutschen Eiche (links die „Kaisereiche“)
Hier oben stand früher einmal der „krumme Boom“, ein Grenzbaum in der Nähe der Landwehr zwischen Kamen und Bergkamen. Getreu der damaligen patriotischen Gesinnung pflanzte die Stadt Kamen am 22. März 1897 zum Andenken an den hundertsten Geburtstag des Heldenkaisers Wilhelm I. (vgl. dazu auch den Artikel „Stadtpark“) an der Grenze auf der Höhe des Kugelbrinks die Kaisereiche. Als dann noch ab 1909 die Kleinbahn UKW (die Straßenbahn) hier eine Haltestelle einrichtete, entstand an dieser Stelle, in der Schillerstraße 90, ein Lokal, „Die Kaisereiche“, das sich schnell zu einem beliebten Ausflugslokal entwickelte. Spezialitäten waren der „Kaiserwein“ (das war Himbeersaft bzw. -sirup mit Wasser aus dem Hausbrunnen) und Kaiserplätzchen (was wir heute „Amerikaner“ nennen). Nach dem Krieg wurde dieses Lokal „Gastwirtschaft zur deutschen Eiche“ genannt und war noch einige Zeit recht populär, wurde aber 1992 abgebrochen. Die Eiche, der Baum, fiel gleichzeitig einer Straßenbegradigung zum Opfer.
Von den nicht wenigen Erzählungen, die sich um „Die Kaisereiche“ ranken, sei nur eine erzählt. In der „guten, alten Zeit“ gab es viele reisende Vertreter, z.B. „in Zigarren“. Da soll es vorgekommen sein, daß spontan eine fröhliche Reisegesellschaft entstand, wo der Reisende in Zigarren Fahrer, Schaffner und Mitreisende einlud, auf ein Bier, einen Münsterländer (Korn) oder einen Kaiserwein mit ins Lokal zu kommen, Fahrplan hin oder her.
KH
Quellen:
Wilhelm Hellkötter, Das „fünfte Viertel“, Heimatkundliches aus Alt-Kamen – von der Kämerstraße, dem „richten“ und „krummen“ Wege. Lokalzeitung (?), um 1950
Franz Petri, Grenzbaum am Kugelbrink, Auf dem krummen Weg zur Schule – mit Kaiserwein und Kaiserplätzchen, in Heimatbuch Kreis Unna, 1993
Ferdinand Brandenburg, Flurnamen, 5 Folgen im Hellweger Anzeiger, Feb. bis April 1944
Hugo Craemer, Alt-Kamen im Lichte seiner Orts- und Flurnamen, Zechenzeitung, 1929
Friedrich Pröbsting, Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden von Camen, Hamm 1901
Abbildungen: Photos 1, 2 & 8 Klaus Holzer; Abb. 5: Familie Flögel; Abb. 6: Stadtarchiv Kamen; Abb. 3 & 4: unbekannt; Abb. 7: Schützenverein Kamen, Wolfgang Freese; Abb. 9: Photo Deutsche Eiche, Herr Aschhoff, besorgt von Dieter Linkamp, Bergkamen
Am Kirchplatz stoßen diese beiden Straßen zusammen, und auf den ersten Blick ist erkennbar, was für einen Hintergrund diese Namengebung hat. Schwestern und Kloster – hier hat mal eines gestanden. Auch wenn das vielleicht gar nicht so klar ist, wie es den Anschein hat, denn eigentlich war es ein Beghinenhaus, aus dem später ein Kloster wurde. Für die Kamener war es immer das „Kloster“. Und so ist die Geschichte dieser beiden Straßennamen auch die Geschichte des „Klosters“.
Gegenüber der Pauluskirche, die ja vorreformatorisch einfach eine christliche Kirche, St. Severin, war, wurde schon zu Beginn des 15. Jh. ein Frauenkonvent1 gegründet, und zwar ursprünglich als ein Beghinenhaus. Dieser Konvent war kein Nonnenkloster, da die Frauen nicht in Klausur lebten, sondern einer außerhäuslichen Tätigkeit nachgingen. In städtischen Dokumenten ist von dem „Süsterhaus“ (= Schwesternhaus) auf der Vlotowe, Vlotauwe oder Marienove (Flußaue bzw. Marienaue) die Rede, d.h., das Haus lag nahe dem Flußufer. Es wird in einer Urkunde vom 14. Oktober 1411 zum ersten Mal erwähnt. Das waren „Jungfrauen und Witwen“ aus der Bürgerschaft Kamens, d.h., sie entstammten Kamener Bürger- und Burgmannenfamilien und wollten ein christliches Leben leben, jedoch ohne Klostergelübde. Sie legten ein Gelübde auf Zeit ab, das wohl jedes Jahr erneuert wurde. Es war ihnen gestattet, aus der Gemeinschaft wieder auszuscheiden und sich ein bürgerliches Leben aufzubauen.
Abb. 1: Die Pauluskirche, vom Schwesterngang aus gesehen (die Arkaden wurden um 1930 gebaut und in den 1960er Jahren abgerissen)
Die Bewegung der Beghinen stammt vom Beginn des 12. Jh. (der Name wird erst ab dem 15. Jh. von ihnen selbst gebraucht, sonst „Schwestern/Brüder/Brüdergemeinden“, „Waldenser“) in den Niederlanden, heute Belgien und Holland, und kam im Laufe des späten 13. Jh. nach Deutschland. Ursprünglich handelte es sich um religiöse Arbeits- und Lebensgemeinschaften, Brüder- (die nannten sich Begharden) und Schwesternhäuser, in denen arme und alte Personen unentgeltlich Wohnung, Heizung und Licht erhielten. Sie widmeten sich dem Gebet, aber auch der tätigen Nächstenliebe. Diese Stifte hatten große Ähnlichkeit mit den heutigen evangelischen Frauenstiften/Diakonissenhäusern.
Beghinenhäuser nahmen vor allem Witwen, Waisen, Frauen aus Arbeiter-, Handwerker- oder einfacheren Kaufmannsfamilien und dem niederen Adel auf. Soweit sie konnten, verdienten Beghinen sich ihren Lebensunterhalt durch alle möglichen Handarbeiten, Krankenpflege, Leichenwäsche und sonstige Tätigkeiten wie Waschen und Nähen. Sie übernahmen mit ihrer karitativen Tätigkeit Aufgaben – den Sozialstaat gab es noch nicht –, die sonst Klöster und die Kirche ausübten, ihnen fehlte aber der klösterliche Charakter und daher standen ihnen auch nicht deren Immunitätsprivilegien zu, d.h. ohne den Schutz, den die Kirche Klöstern gewährte.
Sie konnten aus dem Konvent wieder austreten und z.B. heiraten, während „richtige“ Nonnen „mit Jesus verheiratet“ waren, und das ein Leben lang, durch ein „ewiges Gelübde“ gebunden. Wirtschaftlich wurden die Beghinen sehr erfolgreich, was oft auf den Unwillen und Widerstand der örtlichen Handwerker traf, denen eine echte Konkurrenz erwuchs. Der Erfolg machte auch selbständig und selbstbewußt, was zusätzlich den Neid anderer erweckte. Und was machte man um diese Zeit in einer solchen Situation? Man warf diesen Frauen einen ketzerischen und unmoralischen Lebenswandel vor, vor allem, weil sie sich organisatorisch nicht von der römischen Kirche abhängig machten. Auf dem Vierten Laterankonzil 1215 wurde festgelegt, daß neue geistliche Gemeinschaften grundsätzlich nur nach bereits bestehenden Ordensregeln leben durften.
Seit 1311 erfolgten Maßnahmen, die man als Unterdrückung, aber auch als seelsorgerisches Verhalten verstehen konnte, war doch auch ein Motiv päpstlichen Handelns, diese Gemeinschaften nicht in Häresie2 abgleiten zu lassen. Am 7. März 1319 erließ Papst Johannes XXII. eine Bulle, die denen, die die 3. Regel des Hl. Franziskus annehmen wollten, Gnade zusicherte.
Am 12. Februar 1453 wurden alle damals noch bestehenden Konvente wieder in die Kirche aufgenommen und ihnen die Rechte der Tertiarierinnen3 verliehen. Es war Kunne Hake, Oberin des Hauses in Kamen, die am 22. 9. 1470 (andere Quellen nennen den 4. Oktober 1470) die dritte Regel annahm, die für Laien galt, (die erste galt den Klosterbrüdern, den Mönchen, ursprünglich nach Franz von Assisi Minoriten genannt, die ihr Leben Gott weihten; die zweite den Nonnen, die „mit Christus verheiratet“ waren), wodurch das Beghinenhaus in ein Tertiarierinnenkloster umgewandelt wurde. Insgesamt gewannen durch diesen Akt Frauen– und Laienfrömmigkeit an Gewicht.
Daraufhin erhielten sie den Schutz von Johann I., Herzog von Kleve und Graf von der Mark (seit 1417 gehörte Kamen zu Kleve, Mark und Kleve gehörten schon seit 1391 zusammen), der sie gleichzeitig von Steuern und Landesdiensten befreite. Die Beghinen konnten im großen und ganzen so weitermachen, ihr weltliches mit einem religiösen Leben verbinden, mußten aber städtische Auflagen akzeptieren. Offenkundig waren bei dieser Angelegenheit wirtschaftliche Aspekte entscheidend. Z.B. wurde die Zahl der Schwestern auf 12 begrenzt, von denen 6 aus Kamen stammen mußten; behielt die Stadt die Hälfte des Vermögens, das jede neue Schwester ins Stift einbrachte, für sich ein, übernahm aber dafür die bauliche Unterhaltung des Klostergebäudes; verlangte Anteile an den Pfründen des Konvents; erlaubte später nur noch die Aufnahme von Kamener Frauen in den Konvent und bekam Mitspracherecht darüber eingeräumt wie auch bei der dauerhaften Aufnahme nach dem Noviziat4. So wurde der Konvent klein und unbedeutend gehalten. Bei allen Konflikten zwischen Stadt und Konvent setzte sich die Stadt durch.
Abb. 2: Katharina von der Mark
Bürgermeister und Rat der Stadt Kamen hatten auf Wunsch des Landesherrn 1473 die Einrichtung des Klosters „zur Ehre Gottes, aller Heiligen und besonders des hl. Franzikus und zum Schutze der Stadt“ genehmigt.
Seit 1470 wohnte Katharina, eine natürliche (= uneheliche) Schwester Herzogs Johann I. im Beghinenhaus. Sie besaß ein beträchtliches Vermögen, das sie für den Bau eines neuen Klosterhauses und einer Kapelle stiftete. Am 22.11.1475 wurde dieses Kirchlein feierlich eingeweiht. Dazu schreibt der Kamener Stadtchronist Friedrich Pröbsting: „Gott in seiner Mutter unter dem Geheimnis des Mitleidens in ihrer Seele zu ehren.“ Natürlich war wieder Anröchter Sandstein das Baumaterial. 1479 bekamen die Schwestern einen eigenen Geistlichen, ab 1481 erhielten sie ihren eigenen Kirchhof. Statt des eigenen Geistlichen, der ja auch hätte unterhalten werden müssen, ließen die Schwestern die geistlichen Handlungen jedoch durch einen der vielen Kamener Vikare vornehmen, bis 1622 im reformierten Kamen der letzte katholische Vikar an der Pest starb. Danach wurde das Stift vom Franziskanerkloster in Hamm geistlich betreut. Die Conventualinnensahen sich „genöthigt, zur Besorgung ihrer geistlichen Bedürfnisse jedesmal, in der dritten und vierten Woche, einen Geistlichen aus dem Franciscanerkloster zu Hamm, welches dafür jährlich ein kleines Geschenk an Korn erhielt, kommen zu lassen“. (Essellen)
Abb. 3: Lageplan des Klosters (Erläuterungen am Ende)
Eine besonders schwere Zeit hatte das Stift in der Zeit der Reformation zu bestehen, da fast alle Kamener Bürger sich nach 1553 dem lutherischen, ab etwa 1590 dem Reformierten Glauben zuwandten. So wurde der kleine Konvent zu einer „katholischen Insel inmitten eines protestantischen Meeres“ (Pröbsting). Die St. Severinskirche wurde protestantisch, die kleine Konventskirche zur einzigen katholischen Kirche.
Es kam zu einer Reihe weiterer, auch gerichtlicher Auseinandersetzungen zwischen Stadt und Konvent, Kamener Bürger belegten die Pfründen des Konvents und zahlten keine Pacht mehr an ihn. Doch der Konvent hielt durch. Später wurde sein Kirchlein katholische Pfarrkirche, der Konvent selber zur Keimzelle der heutigen katholischen Kirchengemeinde.
Das Ende begann 1803. Das Kloster (so wurde das Stift nun allgemein genannt) wurde am 4.7.1818 endgültig geschlossen, nachdem nach dem Reichsdeputationshauptschluß vom 25.2.1803 beim Reichtstag in Regensburgdurch Säkularisation4 (das war die letzte große Entscheidung durch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation) alle Kloster- und Kirchenvermögen durch den preußischen Staat eingezogen worden waren, man noch die Drangsalierung durch die französischen Besatzungstruppen (Napoleon) überstanden hatte. Teile Deutschlands wurden nach den napoleonischen Kriegen zunächst französisch, damit deutsches Territorium enteignet. Als Entschädigung dafür bekamen die deutschen Fürsten, deren Territorien beschnitten worden waren, Kompensation aus Kloster- und Kirchenvermögen. Auch das Kamener Kloster wurde enteignet, alle Landgüter konfisziert. Die Gebäude wurden von der neu etablierten katholischen Kirchengemeinde6 übernommen. Buschmann schreibt hierzu: „Des Königs Majestät geruhte allergnädigst, der neuen Gemeinde das sämmtliche noch vorhandene Klostergut, bestehend in den Gebäuden, dem Klostergarten, 2 anderen Gärten, einem Weidekamp, 161 Scheffeln Ackerland, 20 Morgen Waldung, 13 Thlrn. jährlicher Renten und 460 Thlrn. in Kapitalien, worauf im Ganzen an Schulden 330 Thlr. lasteten, zu schenken.“ Das reine Vermögen wurde auf „13415 Thaler und 55 Stüber“ (Pröbsting) taxiert.
Das Klosterkirchlein wurde 1841 wegen Baufälligkeit geschlossen, sein Nachfolger erst am Weihnachtstage 1848 mit einem feierlichen Gottesdienst geweiht. Doch war ihm kein langes Leben beschieden. Erste Bauschäden zeigten sich schon während des Baus, bald entstanden Risse in den Mauern, und durch den Bergbau wuchs die katholische Gemeinde unaufhörlich. Nachdem 1902 die neue, große Kirche Hl. Familie konsekriert worden war, dämmerte das Klosterkirchlein noch ein paar Jahre vor sich hin, wurde 1907 abgerissen.
Abb. 4: Die Pfarrkirche von Osten: das Klosterkirchlein von 1848
Und daher erinnern heute nur noch die Namen dieser beiden Straßen an die jahrhundertelange Geschichte des Kamener Klosters.
Abb. 5: Straßenschild Schwestergang
PS: Am 11. Mai 2017 berichtete der HA, daß dem Straßenschild „Schwesterngang“ ein „n“ fehlt. Seit vielen Jahren gehen wir also an diesem Schild vorbei und bemerken diesen Rechtschreibfehler nicht. Wir lesen meistens, was wir lesen wollen. Erst ein 15-jähriges Mädchen (aber auch nur eins!) schaut genau hin und sieht die Bescherung.
Doch schon Mitte Juli ist das Mißgeschick behoben.
KH
Fußnoten:
1 In der katholischen Kirche ist ein Konvent die Versammlung aller stimmberechtigten Mitglieder eines Klosters oder die Bezeichnung für das Kloster selbst.
2 Ketzerei
3 aus lat. tertius, a, um = der, die, das dritte
4 aus lat. novicius = Neuling, d.h., die Zeit, in der ein Neuling in das Klosterleben eingeführt wurde
5 Die Überführung kirchlichen Besitzes in weltliche Hände.
6 Dieser neu formierte Pfarrsprengel (auch Kirchspiel oder Kirchsprengel: der Bezirk, in dem eine Kirche und ihr Pfarrer zuständig war) bestandaus der „Stadt Camen, sowie den Gemeinden Heeren, Ostheeren, Werve, Alten-, Lütgen- und Nordbögge, Lerche mit Reck, Rottum, Derne, Overberge, Bergcamen, Wedinghofen mit Tödinghausen (sic), Metheler, Altenmetheler, Westick, Wassercourl und Südcamen. Die Gemeinde soll jetzt 800 Seelen zählen“. (Buschmann)
Erläuterungen zu Abb. 3:
Lageplan des Klosters:
a. Die Einfahrt im Kloster Hofe b. Der Hof c. Ein Brunnen
d. Der Garten e. Ein Wasser-Graben f. Wege
g. Zwey Abfoh(laege), wo in einen ein Abtritt befindlich
h. Das Pater-Haus i. Die Kirche k. Verbindung der Kirche mit
l. des Kloster Gebäudes m. Das Bau-Haus n. Das Oeconomie-Gebäude
Letztere beÿde Gebäude sind verkauft
Quellen:
Friedrich Buschmann, Geschichte der Stadt Camen, o.O. 1841
Moritz Friedrich Essellen, Beschreibung und kurze Geschichte des Kreises Hamm und der einzelnen Ortschaften in demselben, Hamm 1851 (S.102 – 124: Die Stadt Camen)
Friedrich Pröbsting, Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden von Camen, Hamm 1901
Theo Simon und Franik, Leonhard, Die Pfarrkirche „Heilige Familie in Kamen“, Paderborn 2002
Wilhelm Zuhorn, Geschichte des Klosters und der katholischen Gemeinde zu Camen (Kamen 1902).
Straßennamen verändern sich immer wieder im Laufe der Zeit. Der Schleppweg z. B. hat eine ganz eigene Geschichte.
Der eigentliche Schleppweg ist die jetzige Südkamener Straße zwischen der Unnaer Straße und der Dortmunder Allee. In den 1920er Jahren wurde „unter dem Schleppwege“ eine Zechensiedlung gebaut. Aus den parallel untereinander laufenden Straßen wurde dann der Obere und der Untere Schleppweg. Nach der Anlage des neuen Friedhofs in Südkamen wurde aus dem Oberen Schleppweg die Südkamener Straße. Das „Untere“ wurde gestrichen, es gab ja nur noch einen Schleppweg.
Der Name kommt ursprünglich von Schliepweg. Die Schliepe (von schleifen, ziehen) ist ein einfaches Holzgestell, das aus zwei gleich langen Stangen besteht, die durch Querstangen verbunden sind. Darauf nagelt man ein paar Bretter, dann läßt sich diese Konstruktion einfach ziehen. Mist aus dem Stall oder andere Dinge, mit denen man für kurze Wege die Radkarre nicht benutzen bzw. beschmutzen wollte, kamen auf die Schliepe.
Was hat das nun mit dem Schleppweg zu tun? Dazu müssen wir wieder einmal einen kleinen Umweg in die Geschichte machen.
Ein Stück oberhalb des Schleppweges, am jetzigen Südweg, stand ein gegen Dortmund gerichteter Galgen, eine deutliche Warnung an Fremde, Gauner und Mörder.
Kam es wirklich einmal zu einem Todesurteil, wurde der Nachrichter1 tätig, wurde das allgemein wie ein unterhaltsames Schauspiel betrachtet, das man sich natürlich nicht entgehen lassen wollte. Die Bürger zogen mit Kind und Kegel und Proviant zum Richtplatz, oft Rabenstein genannt, weil die Raben sich an den menschlichen Kadavern gütlich taten, und zertrampelten den Bauern ihre Äcker. Damit es auch eine richtige Belustigung gab, wurden die Delinquenten oft auf dem Schafott noch eine halbe Stunde dem Volk dargeboten. Manchmal wurde der Kopf noch „aufgesteckt“, d. h. zur länger andauernden Abschreckung auf einen Pfosten gesteckt, oft auch zusammen mit der rechten Hand.
Abb. 2. Auf dem Schindanger (Darstellung aus Hessen)
Zur Abschreckung blieben die Kadaver lange am Galgen hängen, und was dann nach Wochen noch übrig war, mußte jetzt irgendwie unter die Erde, allerdings nicht unter die geweihte auf dem Kirchhof, dort durften nur getaufte Unbescholtene beerdigt werden.
Und hierbei kam die Schliepe zum Einsatz. Nur die Ärmsten der Armen waren zu diesem Dienst bereit. Einen eigenen Wagen oder eine Karre hatten sie nicht, auch hätte ihnen niemand seine geliehen. Statt der Querbretter spannte man zwischen die Stangen ein altes Tuch, in dem später die Leiche eingewickelt wurde.
Doch wohin damit? Wie gesagt, auf den Kirchhof konnte sie nicht, ein gehenkter Verbrecher bekam kein christliches Begräbnis, er „kam ja auch nicht in den Himmel“. Es ist nicht immer ganz klar, wo eine solche Leiche verscharrt wurde. In Kamen gibt es leider keine Quelle, die uns Heutigen hierüber Auskunft geben könnte. Doch gab es offenbar unterschiedliche Verfahrensweisen. Am weitesten verbreitetet war das Verscharren auf dem Schindanger2, dem „Anger, an dem das gefallene Vieh geschunden wurde“ (Grimmsches Wörterbuch; „schinden“ heißt: die Haut abziehen, nämlich den Tierkadavern). Das machte der Schinder, heute nennen wir ihn „Abdecker“.
Mancherorts wurden sie wohl auch auf dem Armenfriedhof verscharrt. Dieser lag meistens vor der Mauer und war für Fremde bestimmt, die kein Geld für die Stolgebühren3 hatten, für Ungetaufte und Ausgestoßene.
Abb. 3.
Und es steht zu vermuten, daß das Verscharren manchmal auch sehr profan auf einem sogenannten Filleplatz2 vorgenommen wurde. In Kamen lag einer, der für die Mühlenschicht4, auf dem Gebiet mit der Flurbezeichnung Steinacker, ein Stück unterhalb des Schleppweges. Ein solcher Filleplatz wurde angelegt, weil Schlachtreste und Tierkadaver nun einmal da waren und daher entsorgt werden mußten. Dort stand er unter der Aufsicht der zuständigen Schicht, der Mühlenschicht, so daß man sicher gehen konnte, daß von einem solchen Filleplatz keine Seuchengefahr ausging.
Vielleicht wurden die armen Sünder in Kamenauch dort verscharrt, wer weiß?
KH, unter Verwendung eines Artikels von Edith Sujatta
2 Schon in germanischer Zeit ein Stück Grasland vor oder nahe einer Siedlung, das allen gemeinsam gehörte. Dort gab es gemeinschaftliche Feste, Backen oder Schlachten. Der Schindanger hieß in Kamen Filleplatz und diente dem Abdecker zur Beseitigung von Tierkadavern, was aus hygienischen, d.h., gesundheitlichen Gründen enorm wichtig war.
3 Vor der Einführung der Kirchensteuer 1919 die Gebühren, die der Priester für alle Tätigkeiten nahm, zu denen er die Stola umlegen mußte, das waren die sog. Kasualien wie Taufe, kirchliche Trauung und kirchliche Begräbnisfeier. Ausgenommen von der Stolgebühr waren immer: Kommunion bzw. Abendmahl, Beichte, Kranken- und letzte Ölung. Mancherorts gibt es noch heute Stolgebühren.
4 Kamen war früher in Schichten eingeteilt, Nachbarschaften, die jeweils einem Stadttor zugeordnet waren, für das sie verantwortlich waren. Es gab eine Fülle von öffentlichen und sozialen Pflichten innerhalb solcher Nachbarschaften.
Die Bedeutung von Brücken ist für die Entwicklung von Städten, Handel und Verkehr kaum zu überschätzen. Ohne sie hätte ein Fluß immer Hemmnis, Trennung bedeutet. Die Kunst des Steinbrückenbaus war mit dem (west)römischen Reich Ende des 5. Jh. untergegangen. In den folgenden zwei Jahrhunderten, während der Zeit der Völkerwanderungen, gingen viele weitere Kulturtechniken verloren. Erst um die Zeit Karls d.Gr. begann zaghaft eine Wiederbelebung aller Bereiche menschlicher Zivilisation, darunter auch der Brückenbau. Zunächst waren es einfache Holzbrücken, weil Holz eben das reichlich zur Verfügung stehende Baumaterial war und es leichter zu beherrschen ist als Stein. Aber Holz ist kein so beständiger Werkstoff wie Stein, es verrottet, wird von Fluten leichter fortgespült, kann auch brennen. Erst zu Beginn des 12. Jh. begann der Steinbrückenbau in Deutschland. Die beiden großen Steinbrücken von Regensburg (Baubeginn 1135) und Würzburg (Baubeginn ebenfalls im 12. Jh.) waren die ersten. Und nicht zufällig waren das 12. und 13. Jh. auch die Zeit der vielen Stadtgründungen.
Obgleich Kamen ebenfalls an einem Fluß entstand, war hier alles viel bescheidener. Es gab jahrhundertelang keine Brücke, nur eine Untiefe, die Sesekefurt, gegenüber dem „Bollwerk“, das seinen Namen dem Bohlenweg verdankt, den findige Ursiedler hier über die Furt und den breiten Sesekesumpf legten. Erst 1695 wird in einer Kamener Urkunde die Maibrücke erwähnt, die damit Kamens älteste bekannte Brücke ist. Natürlich wird es auch früher schon Brücken gegeben haben, kleine Holzbrücken, ohne die keine Gemeinde auskam, überall gab es Bäche und andere Rinnsale, die, auch mit Karren, zu überwinden waren, wenn man seinen täglichen Geschäften nachging.
Kamen hat viele Brücken (und Unterführungen): Fußgängerbrücken, Straßenbrücken, Autobahnbrücken, Eisenbahnbrücken, Flußbrücken, die Hochstraße, die gleich über mehrere, unterschiedliche Verkehrssituationen hinüberführt. Insgesamt sind es 83 Brücken (lt. Vermögensbilanz der Stadt Kamen von 2016). Die meisten von ihnen haben keinen eigenen Namen, finden sich einfach im Verlauf von Straßen oder Trassen. Anders verhält es sich mit den Kamener Sesekebrücken, die zwar in der Regel auch keinen Namen führten, bis auf wenige Ausnahmen: Maibrücke, Vinckebrücke und, natürlich, die Fünfbogenbrücke, die schönste von allen (war einmal: vgl. Artikel „Fünfbogenbrücke“).
Doch zum Jubiläum der Kamener Städtepartnerschaften mit Montreuil-Juigné in Frankreich und Ängelholm in Schweden im Jahre 2013 machte der Kultur Kreis Kamen den Vorschlag, allen bis dahin namenlosen Kamener Brücken den Namen einer Partnerstadt zu geben. Was besonders einleuchtend war, als es seit 2001 bereits die „Partnerschaftsbrücke“ gab. So geschah es. Von der Fünfbogenbrücke an sesekeabwärts heißen die Brücken folgendermaßen:
1. Montreuil-Juigné-Brücke: Sie verbindet die Wittenberger und die Henri-David-Straße. Sie wurde 1975 gebaut, ist 13,5 m lang und 2,40 m breit. Fußgänger und Fahrradfahrer im Kamener Osten wissen die Abkürzung zu schätzen.
Abb. 1: Brücke von Montreuil-Juigné
2. Unkeler Brücke: Diese Brücke liegt in der Schneise, die der frühere Kamener Stadtbaurat Gustav Reich (vgl. Artikel dazu unter „Kamener Köpfe“) vor dem Krieg als Umgehungsstraße plante, um den starken Verkehr, den er voraussah, aus der Kamener Altstadt herauszuhalten. Wäre es zur Ausführung dieser Planung gekommen – wer weiß, vielleicht wäre Kamen die doch trennende Hochstraße erspart geblieben? So aber ist ein relativ breiter Grünstreifen, stellenweise parkartig, übriggeblieben, der ein kleines Naherholungsgebiet darstellt. Diese Schneise führte als direkte Fortsetzung des Ostrings durch Kamens Osten und sollte im Süden in die Unnaer Straße münden. Die Holzbrücke wurde 1983 gebaut, ist 19 m lang, 3,50 m breit.
Abb. 2: Unkeler Brücke
3. Ängelholmer Brücke: Sie war bis in die 1920er Jahre als kleine Holzbrücke für den Verkehr aus den östlichen Richtungen vorhanden, wurde anschließend (vgl.Suleçinbrücke) von Gustav Reich erneuert. Noch 1953 wird sie als Wirtschaftsbrücke neu gebaut Seit der Sesekedamm eine Art innerer Ring ist, der die Innenstadt entlastet, ist auch diese Strecke stark frequentiert. Die heutige Brücke ist 10,00 m lang und 16,70 m breit.
Abb. 3: Ängelholmer Brücke
Ihre Vorgängerbrücke war eine reine Wirtschaftsbrücke, wie sie für den damaligen Gebrauch geeignet war, gleich lang, aber nur 3,00 m breit.
Abb. 4: Wirtschaftsbrücke
4. Beeskower Brücke: Sie ist eine Fußgänger- und Radfahrerbrücke, wurde 1981 gebaut als Nachfolgebrücke einer Vorgänger-Holzbrücke, sie ist 10,35 m lang und 2,00 m breit. Sie kürzt den Weg zwischen Innenstadt und Mersch beträchtlich ab.
Abb. 5: Beeskower Brücke
5. Partnerschaftsbrücke: Die Bogenbrücke aus Stahlbeton wurde 2002 in Betrieb genommen, damit die Maibrücke vom Verkehr entlastet werden konnte. So wurde eine bessere Verteilung des innerstädtischen Verkehrs durch den vorgelagerten Kreisverkehr erreicht. Es konnte der „Verkehrsschluß Innerer Ring“ angelegt werden, der die Bahnhofstraße entlasten sollte, die ab 2010 umgebaut und nach Fertigstellung im Dezember 2012 in Betrieb genommen wurde. Die Entlastung der Bahnhofstraße wurde nicht erreicht. Die Brücke ist 16,50 m lang und 11,00 m breit.
Abb. 6: Partnerschaftsbrücke
6. Maibrücke: Die älteste Kamener Straßenbrücke, 1695 zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Wahrscheinlich war das eine einfache Holzbrücke, denn eine Urkunde im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem vom 3.8.1737 belegt einen „staatlichen Zuschuß zum Bau der (meine Hervorhebung) Sesekebrücke“. Dennoch wird nicht klar, was für eine Brücke das genau war, denn nur 60 Jahre später, in einer Urkunde vom 10.7.1798, bestätigt die Stadt Kamen den Empfang eines Darlehens „zur Bezahlung der Baukosten der (meine Hervorhebung) neuen Steinbrücke über die Seseke“ (beide Male ist die Rede von „der“ Brücke, also war es die einzige). In der heutigen Form gibt es sie seit 1923. Bis dahin war sie immer noch die einzige Kamener Straßenbrücke. Während ihrer Reparatur mußten Bauern, die zum Markt wollten, weite Umwege über Rottum bzw. Weddinghofen in Kauf nehmen. Sie lag beim Mühlentor, das zusätzlich durch eine Homey geschützt war, die auch zur Einnahme der Akzise genutzt wurde. Diese Brücke wurde naturgemäß stark frequentiert, da über sie aller Verkehr zwischen Lippe und Hellweg verlief. (vgl.a. Artikel „Maibrücke“, darin „Homey“). Die heutige Brücke ist nach der Sanierung im Jahre 2002 eine Plattenbrücke aus Beton mit Stahlträgern. Sie ist 10,50 m lang und 13,70 m breit.
Das vorliegende Detail der technischen Zeichnung zur Erneuerung der Maibrücke stammt vom Mai 1921 und ist noch von der Seseke-Genossenschaft Dortmund erstellt. Erst 1925 vereinigten sich Seseke-Genossenschaft und Lippeverband.
Abb. 7: Plan der Maibrücke von 1921
Abb. 8: Die neue Maibrücke
7. Vinckebrücke: Sie wurde 1923 als direkte Verbindung zwischen vorgelagerten südlichen städtischen Bereichen und der Altstadt gebaut, da die Maibrücke wegen ihrer notwendigen Sanierung bzw. (fast) Neubau längere Zeit geschlossen war, außer für die Kleinbahn UKW, die Straßenbahn. Ihr Bau bedeutete eine deutliche Zeitersparnis für Fußgänger (und das waren die meisten Leute damals) aus Südkamen und Kamen-Süd zur Innenstadt. Der zur Vinckebrücke führende Weg links der Seseke hieß 1949 noch Vinckestraße und reichte von der Bahnhofstraße bis zum Schwesterngang, die Klosterstraße mündete an der kath. Schule (Josefschule) in die Vinckestraße.
Abb. 9: Die Bindebrücke im Bau
Als die Binde(Vincke)brücke 1923 gebaut wurde, herrschte Inflation, lag die Wirtschaft am Boden. Zum Bau verwendete man offenbar minderwertiges Material, denn schon im Herbst 1930 war sie so marode, daß sie gesperrt werden mußte. Diese Sperrung geschah ohne Ankündigung und ohne Beschilderung, weswegen die vielen Fußgänger zwischen Süden und Westen der Stadt, hauptsächlich Schulkinder und Kirchgänger plötzlich davor standen, umkehren mußten und viel Zeit einbüßten. Erst nach einer Woche wurde die Sperrung beschildert. Die Empörung bei den Kamenern und in der Kamener Zeitung war groß. Als Ersatz für die alte Brücke sollte es zunächst nur ein Provisorium geben, weil mit einer „fahrbaren Brücke in absehbarer Zeit zu rechnen“ sei (Ratsvorlage vom 2.3.1931). Kosten des Provisoriums: knapp 1.000,00 Reichsmark, „wenn ein Teil der erforderlichen Nebenarbeiten (…) von Pflichtarbeitern besorgt werden kann“ (dto.).
Abb. 10: Die alte Vinckebrücke
Die alte Vinckebrücke war eine Holzbrücke, ca. 11,50 m lang und 2 m breit. Bei Regen war sie sehr rutschig.
Die neue Vinckebrücke ist eine Einfeldträgerbrücke aus Stahl und Stahlbeton. Sie 12,50 m lang und 3 m breit. Sie wurde am 15.8.2018 montiert und mit der Eröffnung des Sesekeparks am 22. 9. 2018 in Betrieb genommen.
Abb. 11: Die neue Vinckebrücke
8. Suleçin-Brücke (Koppelstraßenbrücke): Sie wurde 1924 in Betrieb genommen. Sie war Teil der umfassenden stadtplanerischen Maßnahmen des damaligen Kamener Stadtbaurats Gustav Reich (vgl. Artikel dazu unter „Kamener Köpfe“). Die alte Maibrücke war baufällig geworden und mußte saniert werden. So wurde die Notwendigkeit einer weiteren Straßenbrücke deutlich.Sie ist 10,00 m lang und 13,20 m breit.
Abb. 12: Suleçin-Brücke
9. Eilater Brücke: Sie war bis zum Ende des Bergbaus in Kamen 1983 Bestandteil der Zechenbahn zwischen Monopol und der Reichsbahn bzw. dann der Deutschen Bundesbahn. Was sich als sehr nützlich erwies, als die Fränkische Energiegesellschaft mbH das Bergwerk zu 100% übernahm. So spürte Kamen die Auswirkungen der ersten frühen Kohlekrise seit Ende der 1950er Jahre gar nicht. Täglich rollten ganze Züge voll Kamener Kohle nach Nürnberg, an der Verladestation neben der Westicker Straße, gegenüber Pumpen-Weller, an die DB übergeben. Seit Anfang des Jahrtausends zum Rad– und Spazierweg umgebaut. Sie ist 11,52 m lang und 3,66 m breit.
Abb. 13: Eilater Brücke
10. Bandirma-Brücke: Diese ist keine Sesekebrücke, sondern führt über die Körne, den größten Nebenfluß der Seseke, liegt jedoch gleich neben ihrer Mündung in die Seseke. Da aber für alle sieben Partnerstädte eine Brücke gebraucht wurde, kam sie gerade recht, da Umtaufen vorhandener Brücken nicht in Frage kam. Die Länge beträgt 12,30 m, ihre Breite 3,80 m.
Abb. 11: Bandirma-Brücke
Nimmt man die Fünfbogenbrücke, eine Eisenbahnbrücke, hinzu, hat Kamen-Mitte also neun Sesekebrücken, die Körnebrücke am Klärwerk hier aufgenommen. Die Länge der Brücke ist 12,30, die Stützweite beträgt 3,80 und der lichte Abstand ist 3,30m
Verglichen mit der Situation in früherer Zeit, haben wir heute wirklich keinen Grund mehr, über zu wenige Brücken zu klagen, zumal uns Umwege nicht mehr halbe Tage kosten. Das Auto und andere Verkehrsmittel bringen uns schnell überall hin. Was die Reparatur einer Brücke bedeuten kann, erkennen wir, wenn wir die Diskussion über die Lippebrücke bei Werne verfolgt haben. Wäre diese während des jahrelangen Um- bzw. Neubaues komplett gesperrt worden, wären Umwege über Hamm im Osten und Lünen im Westen notwendig geworden. Und das ist dann selbst mit dem Auto deutlich spürbar, das kostet Zeit und geht ins Geld.
KH
Bildquellen: Abb. 4 & 7: Stadt Kamen, Tiefbauamt; Abb. 9: Stadtarchiv Kamen; alle anderen: Photo Klaus Holzer
Die Wohnsiedlungen Gartenplatz I & II liegen nordöstlich der Stadtmauer auf einem Gelände, das einmal „Auf den Geistgärten“ bzw., das Stück direkt neben der Chaussee nach Hamm, „An den Geistgärten“ hieß und noch zu Beginn des 20. Jh. der Familie von Mulert gehörte. Der Bestandteil „Geist“ des Namens verweist auf das erste Armen– und Siechenhaus Kamens, vor 1359 gegründet und jahrhundertelang das einzige in unserer Stadt (vgl.a. Artikel „Am Geist“). Sein Besitz wuchs und wuchs, weil nicht wenige Kamener Bürger bei ihrem Tode ein gottgefälliges Werk tun wollten und dem Hospital ein Stück Land oder eine Rente, d.h., eine Stiftung von Geld überschrieben. Das ermöglichte es dem Hospital, seine laufenden Kosten zu bestreiten, und in den Gärten zog man natürlich auch Gemüse, das den täglichen Küchenbedarf deckte.
Die letzte Erinnerung an das Heilig-Geist-Hospital in Kamen ist die kleine Straße „Am Geist“, wo das Hospital einmal zwischen Nord– und Oststraße stand. Der letzte Bau wurde in den 1930er Jahren wegen Baufälligkeit abgerissen.
Die früheren Geistgärten umfaßten etwa das Areal zwischen Hammer und Friedhofstraße.
Abb. 3: Grabsteine der Fam. von Mulert
Der letzte Baron von Mulert verspielte und vertrank jedoch seinen Familienbesitz. Die Familie verarmte und mußte Haus und Ländereien veräußern. So kam die Stadt Kamen in den Besitz des von Mulertschen Hauses am Markt und des Geländes im Osten der Stadt. Sie gab den zwei Schwestern von Mulert dafür eine Leibrente, d.h., eine Rente bis an ihr Lebensende.
Nachdem Bürgermeister Berensmann aus Laasphe den Baurat Reich (vgl. a. Artikel Gustav Reich) nach Kamen geholt hatte, baute der ganz Kamen um: er schuf den Gondelteich und den Postteich, ließ die Koppelstraße anlegen und verwirklichte in Kamen die noch gar nicht so alte Gartenstadt–Idee des Engländers Ebenezer Howard, die dieser 1898 vorgestellt hatte. In seinem Buch
„To-Morrow: A Peaceful Path to Real Reform“ veröffentlichte er das Modell einer Gartenstadt. Sie sollte die Trennung zwischen Stadt und Land aufheben und die Vorzüge beider in einem verwirklichen.
„Hinaus ins Grüne“ war seit der industriellen Revolution der Wunsch vieler Menschen, vor allem von Großstädtern. Das „Grüne“ verhieß Naturnähe, Ruhe, Entspannung, Gesundheit, Frieden und Harmonie. Das konnten sich aber nur die Reichen leisten. Howards sozialreformerische Idee war es, auch dem Arbeiter Wohnen im Grünen zu ermöglichen und ihm ein Stück Land zu Selberbearbeiten zu geben. Dazu ersann er seine „Gartenstadt“.
Abb. 4: Three Magnets
Howard vergleicht Stadt und Land mit zwei Magneten, die ein Stück Eisen, den Wohnung und Beschäftigung suchenden Menschen anziehen. Diesen stellt er einen stärkeren gegenüber, die Land- und Gartenstadt, die die Vorzüge von Stadt und Land vereinigen soll, ohne ihre Nachteile.
Schon 1864 hatte es in Deutschland ähnliche Gedanken gegeben, als in Dresden die ersten sog. Schrebergärten gegründet wurden. Doch blieben diese Kleingärten ohne Einbettung in die Stadtkonzeption, meistens in die Randlage der großen Städte abgeschoben, oft direkt neben Bahngleisen.
Howard hingegen entwickelte eine neue Idee von Stadt. Seine Gartenstadt sollte eine eigenständige Stadt im Grünen werden. Da es in Deutschland, anders als in England, bereits eine Fülle von kleinen und mittleren Städten gab, wurde dieses ursprüngliche Konzept hier 1907 dahingehend abgewandelt, daß man den bestehenden Städten Gartenvorstädte, Wohnsiedlungen oder Industriekolonien angliederte oder sie im Sinne der Gartenstadtidee ausweitete.
Die beiden Wohnsiedlungen Gartenplatz I und II im Osten Kamens stellen einen Höhepunkt in Reichs Wirken dar, als Vorstadt ausschließlich für Wohnzwecke mit Gartenstadtcharakter errichtet. Daher baute er nah am Stadtzentrum, aber mit genügend Platz für Grünflächen. Die Häuser wurden karréeförmig gruppiert.
Abb. 5: Reichs Mulde
In jede der beiden Siedlungen fügte er einen zentralen Platz ein, als Mulde ausgelegt, mit einem Springbrunnen in der Mitte, wie auf dem Platz zwischen den beiden großen Kirchen „zur Erhöhung nach oben“, hier auf Profanbauten bezogen. Die Muldenhänge wurden natürlich von allen dort wohnenden Kindern gleich beim ersten Schnee als kleine Rodelhänge benutzt. Plätze waren für Reich konstitutives Element von Stadt, Versammlungsorte, Orte der Gemeinschaft. Und natürlich ließ er ausreichend Platz für Gärten. Zwischen ihnen führt eine mit Kastanien bepflanzte Allee hindurch, die den ländlichen Charakter unterstützt und die den Anwohnern im Herbst viel Arbeit macht, ohne die sie aber in einem Hohlraum wohnten.
Abb. 6: Kastanienallee
Wie detailversessen Reich war, zeigt sich an den Einzelheiten: Einzelhäuser immer giebelständig, Doppelhäuser traufenständig; Anordnung der Gauben nach festen Regeln; Dachgestaltung; symmetrische Fassadengestaltung; Fenstergestaltung; Freisitze; einheitliches Baumaterial.
Was an der Planung der Gartenstadt auffällt, ist die Modernität auch in unserem heutigen Sinne, und das vor 80/90 Jahren. Das war die Zeit, als Kohle und Stahl die wichtigsten Wirtschaftsträger waren, die die mit Abstand meisten Arbeitsplätze boten. Doch war die Arbeit anstrengend und schmutzig, die Luft durch Kohlekraftwerke, Verkokung und Stahlherstellung verpestet. Filter, die Kraftwerksabgase reinigten, für uns heute selbstverständlich, gab es nicht. Urlaub an der See, in den Bergen, war für die Arbeiter an der Ruhr unerschwinglich. Erholung konnte es also nur in der unmittelbaren Nähe, zu Hause, geben. Grün in der Stadt war überlebenswichtig, und die beiden Gartenstädte verfügen über viel Grün.
Waren die Häuser in der Kamener Gartenstadt schon bei ihrer Errichtung eher für Beamte und „höhere Angestellte“ gedacht als für Arbeiter, sind sie heute sicherlich eine bevorzugte Wohnlage.Es wohnt sich hier immer noch stadtnah, ruhig und grün.
KH
Abbildungen: Abb. 1-3: Photos Klaus Holzer; Abb. 4: 100 Jahre Leben in der Gartenstadt, Gartenstadt Nürnberg e.V., Nürnberg 2008; Abb. 5 & 6: Stadtarchiv Kamen
Manchen wird es schon verwundert haben, daß es in einer kleinen Stadt wie Kamen neben dem Markt einen weiteren großen Platz gibt, den man allerdings nur erkennt, wenn man entweder Kamener oder ein Besucher mit geschultem Blick ist. Denn eigentlich ist der Willy-Brandt-Platz (WBP) gar kein Platz, er wirkt eher wie eine etwas zu breit geratene Straße mit nicht ganz klarem Verlauf, was an der eigentümlichen Bebauung liegt. Die vorhandene Wohnbebauung stört den Platz-Charakter, weil sie von Osten nach Westen in höheren zu niedrigeren Häusern, in Kamen „Lindwurm“ genannt, den Platz durchschneidet. Es ist übrigens leicht zu erkennen, wann diese Häuser gebaut wurden: die 1970er Jahre favorisierten das Flachdach.
Abb. 1: Der Plan: so sollte der Neumarkt aussehen
Auf dem Stadtplan wird dem Betrachter schließlich deutlich, daß es hier einmal einen großen zusammenhängenden Platz gegeben haben muß. Der Grund dafür ist in Kamens mittelalterlicher Geschichte zu finden (vgl.a. Artikel „Am Galenhof“). Kamen hatte in seinen Anfängen 10 Burgmannshöfe, einer von ihnen war der Akenschocken-, Sparren- oder auch, im Urkataster von 1827, Fetthakenhof (dazu später mehr), der dieses Gelände fast genau in der Mitte der Stadt einnahm, begrenzt von der Lutherischen Kirchstraße (schon vor 1900 Kampstraße) im Osten, der Rottstraße (seit 1985 Konrad-Adenauer-Straße) im Norden, der Weststraße mit einer Ladenzeile und rückwärtigen Gärten im Süden sowie einer Häuserreihe mit rückwärtigen Gärten an der Kämerstraße im Westen.
Abb. 2: Ein alter Stadtplan: der Fetthakenhof sollte neu gestaltet werden
Dieser Burgmannshof gehört zur ersten Gruppe von Höfen aus dem 12./13. Jh. und war vollständig von einem Wall mit Palisaden und einer Gräfte umgeben. Diese starke Befestigung kam nicht von ungefähr, mußten die Burgmannen doch immer Verteidigungs- (und wohl auch Angriffs-)kräfte vorhalten, da es eine ihrer Aufgaben war, das nächstgelegene Stadttor zu sichern, was auch hieß, Angreifer von außen abzuwehren.
Die Namensgeber, die Akenschockens, waren, wie alle Burgmannen, eine Familie, die entsprechend ihrer herausgehobenen Stellung oft Ratsherren und den Bürgermeister der Stadt stellte. Und auch wenn anfangs nur die Burgmannen als Bürgermeister in Frage kamen, weil das ein unbesoldetes Ehrenamt war und nur Burgmannen sich das leisten konnten, so mußten sie sich den Kamenern doch jährlich „an Petri Stuhlfeier“ (Kathedra Petri, 22. Februar) zur Wahl stellen, immer für ein Jahr (erst durch königlich preußische Verordnung wurden Bürgermeister in der Grafschaft Mark ab 1719 auf Lebenszeit bestellt).
Zweimal ging von diesem Hof eine Katastrophe aus, die die Existenz der ganzen Stadt in Frage stellte. Man erinnere sich: zentrale städtische Lage, Fachwerkhäuser und strohgedeckte Dächer!
Der erste ganz große Brand geschah zu Pfingsten 1452, der größte aller 11 Kamener Stadtbrände. Nur der Turm der Severinskirche (heute Pauluskirche), das Rathaus und 20 Häuser blieben stehen.
Der Stadtchronist Buschmann berichtet 1841: „Kaum hatte man eine Menge der im Jahre 1452 zerstörten Wohnungen wieder aufgebaut, als auch schon neuer Jammer über die unglückliche Stadt hereinbrach. Ein von der Familie von Ackenschock zu Bynckhof, die hier in der Stadt viele Besitzungen hatte, durch Zurückhaltung rechtlicher Forderungen hart beleidigter Mann, Namens Johann Volbart, überstieg am 12. März des Jahres 1493, zur Nachtzeit, die Stadtmauer, und zündete die der Familie von Ackenschock gehörenden Gebäude an; um so dieser Familie, der er anderweit keinen Schaden zufügen konnte, einen empfindlichen Verlust zuzuziehen. In Folge dieser grauenvollen Rache brannte die halbe Stadt ab; ja sogar die Frau eines hiesigen Bürgers, Heinrich Dahrenberg, fand mit 2 ihrer Kinder in den Flammen den Tod. Die Bürgerschaft betrachtete die Familie von Ackenschock, durch ihre Ungerechtigkeit gegen den Volbart, als die Veranlasserin dieses Unglücks, und es entspann sich zwischen der Stadt Camen und den von Ackenschock eine heftige Fehde.
Ueber die endliche Schlichtung dieses langen Streites, giebt eine, in beglaubigter Ausfertigung, noch auf dem hiesigen Rathause liegende Urkunde, folgende Nachricht. Herzog Johann II. von Cleve, ließ die streitenden Partheien, auf einen Fürstentag zu Essen, vor sich laden. Vorab mußten die beiden Partheien, die Stadt Camen, vertreten durch ihre Bürgermeister Barenbrock und Smyt, und die Familie Ackenschock, vertreten durch die zwei ältesten Söhne des Hauses, Johann und Heinrich Ackenschock, Entsagung jeder weiteren Selbstwehr, bei 500 Goldgulden Strafe, angeloben. Dann machte der Herzog, auf St. Gallen Tag 1496, den Ausspruch: die von Ackenschock hätten den durch Brand beschädigten Bürgern 590 Goldgulden zu zahlen und 100 Malter Roggen cämisch Maaß zu geben; ihren hiesigen Heuerlingen die Pächte der letzten Jahre zu erlassen; endlich auch armen Bürgern und Wittwen, die verlorenen Hausgeräthe zu ersetzen; wogegen die Stadt Camen, von den von Ackenschock ihre Briefschaften, Kleinodien und Hausgeräthe wieder herausgeben, auch den Gliedern dieser Familie, den freien Wiedereintritt in die Stadt gestatten solle.“ Auch wenn uns das MA immer als rechtlose Zeit vor Augen steht, als eine Zeit, in der das Faustecht galt, offenbar konnte auch der kleine Mann erlittenes Unrecht ersetzt bekommen.
Und im Jahre 1264 liegen die märkischen Grafen in Dauerfehde mit den Erzbischöfen von Köln, die sich die Grafschaft einverleiben wollten. Als im Laufe dieser Kämpfe Unna 1263 eingeäschert wurde, brannte der märkische Droste (Verwalter eines Bezirks) Dietrich Volenspit auch die „villa de Camene“ nieder (der westfälische Chronist Levold von Northof schreibt „forsan ea intencione, quod inimici locum ibi hospitandi non haberent“: „mit der Absicht, den Feinden keinen Ort zu bieten, an dem er sich aufhalten mochte.“ (Übers. Marc Hilligsberg), um den Kölnern jeden Anreiz zu nehmen, Kamen zu erobern.
Mitte des 17. Jh. kauft Oberstleutnant Freiherr Anselm Kasimir von Sparr den Akenschockenhof (der daraufhin seinen Namen zu „Sparrenhof“ wechselt) mitsamt den dazugehörigen Ländereien für 1000 Taler. 1693 gingen die Ländereien an Freiherrn von Bodelschwingh-Velmede, das Burgmannenhaus an verschiedene bürgerliche Familien, die gleichwohl alle damit verbundenen Privilegien behalten durften, obgleich sie keine Bewaffneten mehr vorhalten mußten: vor 1739 die Familie Bleckmann, dann Ludwig Phillip Vethake (auch Fetthake, daher zu jener Zeit der Name „Fetthakenhof“), 1759 die Familie Grevel, danach Konrad Denninghof und sein Sohn Johannes, Wirte des Schützenhofes, blieb dann bis 1927 durch Heirat im Besitz der Familie Reinhard, hieß bis 1910 Reinhards Kamp. Ein Reinhard, Friedrich David, war während der Franzosenzeit zu Beginn des 19. Jh. kurze Zeit „Maire“, also Bürgermeister von Kamen.
Abb. 3: Der Schützenhof (das Originalgebäude stammte aus dem Jahre 1624)
Abb. 4: Das Gelände als Veranstaltungsplatz
Abb. 5: Schützenfest in den 1920er Jahren
1800 fand der Umbau des Geländes mitsamt dem Haus zum „Schützenhof“ (ab 1820 so genannt) statt. 1927 erwarb die Stadt Kamen die Anlage und gewann so den Platz für die Ausweitung des Gebäudes und den Schulhof der 1923 so genannten Falkschule (vorher: Auguste-Viktoria-Schule) am östlichen Rand des Platzes, gegenüber der Lutherkirche. Und zweimal jährlich wurde hier auch Kirmes abgehalten. 1956 wurde der Schützenhof abgebrochen, nachdem das Haus 332 Jahre hier gestanden hatte.
Abb. 6: Die Falkschule
Was im MA Kamens großer Vorteil gewesen war, nämlich eine stark befestigte Stadt zu sein, wirkte sich mit dem Einzug der Industrialisierung und der Entwicklung zu einer modernen Stadt nachteilig aus, weil die Zeche Monopol mehrere große Burgmannshof-Areale aufkaufte, mit billigen und schlechten Bergarbeiterwohnungen bebaute und zugleich ängstlich darauf bedacht war, jegliche wie auch immer geartete Konkurrenz fernzuhalten. Also standen diese großen Gelände für eine zielgerichtete Stadtentwicklung nicht mehr zur Verfügung.
Nach dem Abriß des Schützenhofes ergab sich aber die Möglichkeit, wenigstens einen Teil der innenstadt auf diesem Areal zu sanieren. Das wurde Teil eines umfassenderen Planes, zumal noch nicht unbeträchtliche Kriegsschäden zu beseitigen waren. Und gleichzeitig bot sich die Chance, „Kamen, die schnelle Stadt“ (so der damalige Slogan) mit den damals für die autogerechte Stadt notwendigen Parkplätzen auszustatten, indem der gesamte Platz mit einer Tiefgarage versehen wurde. Einen „alten“ Markt hatte man, auf dem Schützenplatz sollte ein „Neumarkt“ entstehen. Dazu bedurfte es einer Verbindung der beiden Märkte. Nicht nur das Haus des Bäckers von der Heyde, Markt 23 (aus der Mitte des 18. Jh.), wurde abgerissen, sondern auch das Haus Weststraße Nr. 79 der Bäckerei Stoltefuß, bekannt als der „dicke Bölk“. Weitere Geschäfte an dieser Stelle (Dank an Rüdiger Plümpe †): Photo Betzler, Bürobedarf Riemer, Süßwaren Hussel, ein Blumengeschäft und der Juwelier Jäkel. Die Neubebauung wurde etwas nach Westen verschoben. In den Neubau zogen dann Aldi, Apotheke Blume und die Fahrschule Freeze ein. Nach dem Aldi-Laden kam Photo-Kraak, als dieser zum Neumarkt zog, wurde die Hellweg-Apotheke sein Nachfolger. Diese schloß Ende 2013, McPaper ist heute das einzige Geschäft mit Papierartikeln in Kamen. So entstand aus einem schmalen Durchgang die heutige Marktstraße.
Abb: 7: Bäcker von der Heyde (das Haus links) wurde für die Marktstraße abgerissen
Abb. 8: Der alte Durchgang: auch dieses Haus wurde für die Marktstraße abgerissen (Schreib- und andere Waren Günter Katz)
An die Stelle des damaligen Schützenhofs sollte ursprünglich der Neubau der Städtischen Sparkasse Kamen kommen, die bis dahin an verschiedenen Standorten im Stadtgebiet untergebracht gewesen war, doch erwies sich das Grundstück als zu klein für einen Neubau, der für die Wirtschaftswunderzeit geeignet sein sollte. Daher wurde der Neubau am nordwestlichen Ende des Schützenplatzes errichtet, an seinem heutigen Standort.
1962 zog die Sparkasse hierher. Gleich gegenüber steht ein Pavillon, der vom Reisebüro Mohr bewirtschaftet wurde, bis es ins Haus Ecke Adenauer-/Kampstraße umzog. Seitdem steht er leer. Er wurde von der Stadt Kamen gekauft, wird von der Jugendfeuerwehr und anderen als Ausstellungsraum benutzt, bis er seiner neuen Nutzung als Fahrradparkhaus mit 88 Stellplätzen zugeführt werden wird.
Abb. 9: Die neue Konrad-Adenauer-Straße, früher Rottstraße
Der gesamte Bereich wurde zur Fußgängerzone erklärt, wie das in den 1970er Jahren überall große Mode war, hatte man doch erkannt, daß eine ausschließlich auf das Auto ausgerichtete Stadt dem innerstädtischen Handel und Wandel eher abträglich war. Autos wurden auf rund um diese Zonen verlegte Parkplätze verbannt. Und für Fahrradfahrer gab es eine Extraspur auf der Konrad-Adenauer-Straße zwischen Kämer– und Kampstraße, was zu gelegentlichen Kollisionen mit Fußgängern führte, die diesen Streifen übersahen, weil sie sich eben in einer Fußgängerzone wähnten. Heute dürfen Radler immer noch dieselbe Strecke befahren, haben aber keinen eigenen Streifen mehr. Man nimmt Rücksicht aufeinander. Naja, nicht immer. Und der wunderschöne Pfarrgarten gegenüber der Stelle, wo die Konrad-Adenauer-Straße auf die Kampstraße trifft, ist längst einem großen Wohn- und Geschäftshaus mit eigener Tiefgarage gewichen.
Abb. 10: Stannat in seinem alten Lädchen
Abb. 11: Stannat im neuen Laden
Anschließend fand die weitere Bebauung statt: Stannat zog von seinem kleinen Lädchen an der Weststraße in seinen Neubau an der Ecke neben Schwakenberg (heute Pieper Stadtparfümerie und Apollo Brillen). So ganz einfach war das allerdings nicht, da das alte Häuschen durch seinen Grundstückszuschnitt einen geraden Straßenbau verhindert hätte. Erst nach langwierigen Verhandlungen einigte man sich, und das alte Fachwerkhaus verschwand. Etwas weiter nördlich, aber gegenüber, eröffnete Theo van Vügt seinen Laden mit hochwertigen Stricksachen, den er später auf Damengarderobe ausweitete. Außer Wolter gab es zwei weitere Schuhläden am Neumarkt, Deichmann und Bata; Vodafone hieß noch Mannesmann, der Bäcker noch Kamps, Robert Koch war nicht nur für seinen Schmuck- und Uhrenladen bekannt, sondern auch als Heimatforscher. (Bei seinem Laden geht es um die Ecke in einen Bereich, in dem es auch Läden gab und gibt, die sich jedoch außerhalb der eingelaufenen Strecken, quasi im toten Winkel, befinden. Wer weiß noch, was hier alles war?) „Ihr Platz“ und Schlecker konkurrierten miteinander; das „Eiscafé“ und „Lifestyle, die Adresse für junge Mode“ grenzten direkt an Wolter, heute Ernsting’s family; ein Haus weiter war die „Apotheke“, ein nach 1968 sehr beziehungsreiches Wortspiel (es gab damals die protestierende Jugend, die sich nicht im, und durch das, Parlament vertreten fühlte, sich als Außerparlamentarische Opposition = APO, verstand), ein Kellerlokal, ihm folgtedas Hollywood, das aus dem Odeon-Theater(kino) aus der Güldentröge hierherzog; im Pavillon Neumarkt 5a war der Lotto/Toto/Tabakladen zu Hause (heute ebenfalls leer, wartet auf eine neue Nutzung); es gab ein „Spielikum“ im Durchgang vom Neumarkt zur Kampstraße,
Abb. 12: Die zentrale Ansicht: der „Lindwurm“, das „Stellwerk“ und der kleine Pavillon
im „Stellwerk“ gab es nacheinander verschiedene Kneipen, u.a., die Marktschänke, das Streetcafé und das Sindbad; Magda Antoni hatte an der Nordseite ihren Miederwarenladen, rechts daneben waren „bonita“ und eine Parfümerie. Es ist erschreckend, wie stark der Einzelhandel in Kamen in den vergangenen 30 Jahren geschrumpft ist, wie fast nur noch Ketten die Ladenszene beherrschen, Telephonläden, Bäcker, Friseure und leider auch viele „Billigheimer“.
Abb. 13: Blick Richtung Weststraße
Abb. 14: Blick von der Weststraße
Unglaublich, wie schnell eine Platane wächst: schauen Sie sich einmal dieses Bäumchen an! Es wurde offenbar in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gepflanzt.
Abb. 15: Platane 2018
Nicht einmal 20 Jahre lang behielt der Neumarkt seinen Namen. 1993 wurde er in Willy-Brandt-Platz umgetauft, in ehrendem Gedenken an den charismatischen ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, SPD-Vorsitzenden, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und Friedensnobelpreisträger, der am 8. Oktober 1992 in Unkel am Rhein starb, einer von Kamens sieben Partnerstädten.
Abb. 16: „Markt“ auf dem Neumarkt
Ursprünglich fand der „Markt“ auf dem Markt statt, wo er traditionsgemäß hingehört. Dann bekam unsere Stadt den Neumarkt, der natürlich gleich zum Standort des „Marktes“ wurde, hier war schließlich das Neue, die Moderne. Hier blieb er, die Namensänderung zu Willy-Brandt-Platz änderte nichts. Abbildung neun zeigt, daß damals die Marktstände mit ihrer Rückseite zueinander standen, die Kunden also den großen Bogen außen herum machen mußten, um alle ihre Einkäufe erledigen zu können. Heute gehen sie zwischen den Ständen hindurch.
Dann wurde der „Markt“ zum alten Markt verlegt, weil sich im Jahre 2005 eine ganz neue Situation ergab, als deutlich geworden war, daß der alte Belag, „das […] bunte Gemisch aus Beton, Naturstein, Klinker und Asphaltflicken“ (HA vom 26.3.2018), den Ansprüchen einer zeitgemäßen Stadt nicht mehr genügten. Am 28. November 2005 tätigten Vertreter von Rat und Verwaltung den ersten Spatenstich für eine Grundsanierung der jetzt Bummelzone genannten Fußgängerzone. Das Düsseldorfer Landschaftsarchitekturbüro Scape überplante das ganze Gelände von ca. 22.000 m2 (darin sind auch angrenzende Straßen enthalten), teilte es in vier Bauabschnitte auf, fügte Bänke ein, Bäume, Spielgeräte und ersetzte den vorhandenen Brunnen durch ein Wasserspiel unter der großen Platane an der Ecke zur Weststraße. Eine Besonderheit waren die Leucht-Intarsien im zentralen Bereich, die aber schon sehr bald defekt waren. Zu groß war wohl die Belastung durch z.B. die schweren Schaustellerfahrzeuge bei Kirmessen. Der Clou aber war der aus China importierte Granit, der das Gros der veranschlagten gut 7 Millionen Euro verschlang. Einigen Ärger gab es, als drei Vertreter der Stadtverwaltung extra zur Begutachtung dieser Steine nach China flogen. Kostenpunkt: 3.000 Euro. Die vorausberechneten Kosten für die Innenstadtsanierung betrugen ca. 7,5 Millionen Euro, als die Schlußabrechnung um 380.000 Euro günstiger wurde, erstarb der Protest. Offizieller Fertigstellungstermin war der 9. Juli 2009. Eine Befragung der Markthändler ergab, daß eine Mehrheit wegen der Enge auf dem Markt wieder zum Willy-Brandt-Platz zurückkehren wollte.
Der Markt – das Attribut „alt“ braucht er nicht mehr – ist heute das Zentrum der Außengastronomie in Kamen, bei fast mediterraner Atmosphäre läßt es sich hier gut verweilen. Der Willy-Brandt-Platz ist eher Geschäftsbereich geworden, wo von der Sparkasse bis zu den meisten wichtigen Geschäften in Kamen vieles vertreten ist, vor allem auch, weil es von hier den direkten Anschluß an das Kamen Quadrat in der Kampstraße gibt.
Nachtrag:
Abb. 17: Gerade zu erkennen, der „Mohr-Pavillon“ (hellbraun) zwischen Schlecker und der Sparkasse
Inzwischen (Stand Anfang Juli 2019) hat der WBP eine Verwandlung erfahren. Der große Pavillon, der früher das Reisebüro Mohr beherbergte, wurde umgestaltet und den Anforderungen der heutigen Gesellschaft an ökologisch orientierte Mobilität angepaßt. Er ist jetzt ein Fahrradparkhaus mit Platz für 80 Fahrräder. Gegen € 20,00 Pfand erhält der Nutzer einen Chip, der ihn zur Nutzung dieses Hauses und aller weiteren Fahrradabstellplätze im Kreis berechtigt, die von der AWO-Tochterfirma DASDIES betrieben werden.
Abb. 18 : Der kleine Pavillon
Weiterhin ist der kleine Pavillon verschwunden, in dem früher der kleine Tabak- und Lotto/Totoladen Pankoke bestand. Danach gab es mehrere Versuche, neues Gewerbe anzusiedeln, alle mißlangen. Jetzt wird es hier einen neuen Zugang zur Tiefgarage geben. Sei Verschwinden trägt dazu bei, dem WBP den überwiegenden Charakter einer Straße zu nehmen und ihn mehr wie einen „Platz“ aussehen zu lassen.
KH
Quelle der Abb.: Abb.1: Stadt Kamen; Abb. 2: Heinz Stoob, Städteatlas Bd. 10, Dortmund 1975; Abb. 3, 5, 6, 8, 16, & 17: Stadtarchiv Kamen; Abb. 4, 7, 10, 12, 13 & 14: Archiv Klaus Holzer; Abb. 9, 11, 15 & 18: Photo Klaus Holzer
Sie wissen, daß es eine Mühlenstraße in Westick gibt? Aber Sie wissen nicht, daß es auch in Kamen-Mitte (damals noch ohne „Mitte“) eine Mühlenstraße gab? Kein Wunder, gibt es sie doch seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. nicht mehr. Es handelt sich bei ihr um das obere Stück der Bahnhofstraße, vom Markt bis zur Maibrücke. Sie führte also vom Mittelpunkt der Ackerbürgerstadt zu einem der wichtigsten Handwerke einer jeden mittelalterlichen Stadt: dem Müller. Eike von Repgow legt in seinem ca. 1220/30 entstandenen „Sachsenspiegel“ dar, für wie wichtig Mühlen damals gehalten wurden. Daraus ging klar hervor: Auf Mord, Beraubung einer Kirche, einer Mühle oder eines Friedhofs steht die Strafe des Räderns! Das war die schlimmste vorstellbare Strafe. Ausrauben einer Mühle wurde mit Mord, Schändung von Kirche und Friedhof gleichgestellt!
In dieser Abbildung ist übrigens die Ähnlichkeit des Mühlrades mit dem Kammrad im Kamener Stadtwappen, das aus derselben Zeit stammt, frappierend.
Abb. 1: Eike von Repgow, Sachsenspiegel
Die Mühlenstraße war Teil des wichtigen Straßenkreuzes in Kamen, Ost–, Nord–, Weststraße, dazu Am Geist, die Diagonale über den Markt, und die Fortführung nach Süden zum Hellweg über die Mühlenstraße. Sie führte als einzige Straße über die Seseke und war durch ihre Lage und Bedeutung wohl die am stärksten frequentierte Straße. Dreimal in der Woche war in Kamen Markt, zweimal für je eine Woche Jahrmarkt, von Graf Adolf I., Grafen von der Mark, der zwischen 1249 und 1277 regierte, zugestanden und von Graf Adolf II am 4. Juli 1346 bestätigt. Dannströmten Händler, Gaukler und Bauern in die Stadt, um Geschäfte zu machen, die Kamener mit allem zu versorgen, was sie nicht selber herstellen konnten, sie zu unterhalten und natürlich auch mit den neuesten Nachrichten aus aller Welt zu versorgen.
Abb. 2 – 4: Kaufleute, Gaukler und Bauern hatten alle ihren festen Platz in der Stadt
Die Brücke muß man sich bis gegen Ende des 18. Jh. als einfache Holzbrücke vorstellen, die jedoch den damaligen Ansprüchen wohl genügte, schließlich waren auch die Fuhrwerke der Händler meist recht bescheidene Fahrzeuge, deren Last nicht sehr hoch war. Pferde mußten siebei jedem Wetter über unbefestigte Straßen ziehen können, die beim leichtesten Regen zu Schlammlöchern wurden.
Abb. 5: Ein Wagen, wie ihn die Hansekaufleute benutzt haben
Preußen hatte 1717 die Akzise wieder eingeführt, eine Steuer auf Waren, die beim Eintritt in eine Stadt zu entrichten war. Das machte man nun in jeder Stadt, überall hatten Händler diese Steuer zu entrichten, was die Geschäfte beträchtlich behinderte. Schon damals taten sie daher etwas, was auch heute noch Usus ist: sie schlugen die Kosten der Akzise auf den Preis auf (heute ist das die MWSt). Schließlich erkannten die preußischen Behörden das Problem und schafften die Steuer gegen Ende des Jahrhunderts wieder ab.
Das scheint zu einem Anwachsen des Handels geführt zu haben, vielleicht auch zu größeren Fuhrwerken. Wie auch immer, es fällt auf, daß die Stadt Kamen zur selben Zeit, 1797, die Notwendigkeit erkennt, die „Homeybrücke“1 zu erneuern, und nicht nur wieder eine Holzbrücke, sondern jetzt eine richtige Steinbrücke zu bauen.
Aber Kamen ist arm, der Glanz und Reichtum der Hansezeit sind lange dahin. Man tat das, was ebenfalls auch heute noch üblich ist: man nimmt Darlehen auf. Aber es gibt noch keine Sparkassen und Banken. Man muß sich das Geld bei reichen Bürgern leihen.
Hier eine Aufstellung dieser Darlehen:
10. Juni 1797, 500 Reichsthaler von Doktor Proebsting2, städt. Einnahmen als Pfand,
10. Juni 1797, 500 Reichsthaler von Prediger Hecking in Bönen, städt. Einnahmen als Pfand,
10. Juli 1798,395 Reichsthaler von Stadtkämmerer Rediger, städt. Einnahmen als Pfand,
10. Juli 1798, 200 Reichsthaler vom Armenhospital in Kamen, städt. Einnahmen als Pfand, 14 Tage später von der Kriegs- und Domänenkammer in Hamm3 genehmigt. Insgesamt lieh sich die Stadt also 1595 Reichsthaler.4
Die zwei Darlehen vom Juni 1797 sind ausdrücklich zur Bezahlung der Kosten für die neue Steinbrücke über die Seseke gedacht, die beiden von 1798 ebenfalls für die Steinbrücke, doch auch, und das ist bemerkenswert, für das Straßenpflaster. 1798 wird die Mühlenstraße als erste Straße in Kamen mit einem Steinpflaster versehen!
Es dauerte lange, bis Kamen diese vier Darlehen getilgt hatte. Das an Hecking war am 15. November 1825 getilgt, das Rediger-Darlehen am 2. Dezember 1829, das des Armenhospitals am 9. Juli 1838. Von der Tilgung des Darlehens von Dr. Proebsting ist in diesen Urkunden nichts zu finden.
Im Vergleich zu der Gewaltleistung, die der Bau der Stadtmauer bedeutete, waren der Bau der Brücke und die Pflasterung der Straße sicherlich leicht zu bewältigen5. Spätestens Anfang des neuen Jahrhunderts dürfte beides fertig gewesen sein. Bis 1923 war diese Brücke die einzige Straßenbrücke in Kamen. Sogar die Kleinbahn UKW6 hat sie noch erlebt. Dann aber war sie unrettbar beschädigt. Sie mußte abgerissen und eine neue gebaut werden.
Abb. 6: Die alte Maibrücke, 1985
2001 wurde sie saniert und vom motorisierten Verkehr befreit. Heute ist sie Bestandteil des neuen Sesekparks, der im Jahre 2018 der Kamener Bevölkerung übergeben wurde.
Abb. 7: Die neue Maibrücke
Quelle der Abbildungen:
Abb. 1: aus: Aufruhr 1225! Das Mittelalter an Rhein und Ruhr, Darmstadt 2010; das Mühlenrad (oben) auf einer Darstellung im Sachsenspiegel des Eike von Repgow aus den 1220/30er Jahren, wie es auch im Kamener Stadtwappen zu sehen ist.
Abb. 2: Bernd Fuhrmann, Die Stadt im Mittelalter, Stuttgart 2006, S. 57
Abb. 3: Bernd Fuhrmann, Die Stadt im Mittelalter, Stuttgart 2006, S. 27
Abb. 4: Stadtarchiv Kamen
Abb. 5: Archiv Klaus Holzer
Abb. 6: Wikipedia
Abb. 7: Photo Klaus Holzer
1 Zur Erklärung des Namens vgl. Artikel „Maibrücke“
2 Wahrscheinlich Dr. med. Philipp Ludwig Pröbsting, geb. 26. Mai 1735, gest. 23. April 1812, der Großvater des bekannten Stadtchronisten.
3 Die Reichs- und Domänenkammern wurden in Preußen 1723 als Provinzialbehörden eingeführt, ab 1815 in die preußischen Bezirksregierungen umgewandelt.
4 Auch wenn heute nicht mehr sinnvoll erschlossen werden kann, wieviel diese Summe seinerzeit wirklich bedeutete, wird aber im Verhältnis ersichtlich, was für eine gewaltige Summe das war, wenn man einmal die Zahlen für einen städtischen Haushalt damit vergleicht. Pröbsting führt in seiner Kamener Stadtgeschichte detailliert auf, wie die Zahlen für 1702 sind: Einnahmen – 867 Thaler, 45 Stüber; Ausgaben: 963 Thaler, 9 Stüber; das ergibt einen Negativsaldo von 96 Thalern, 4 Stübern! Auch wenn die Zahlen fast 100 Jahre später vielleicht etwas andere sind, die prekäre Situation wird deutlich. Versuch der Annäherung des Wertes des Reichsthalers um jene Zeit: 1818 erhielt ein Schullehrer, der gleichzeitig Organist und Küster war, 100 Reichsthaler im Jahr.
5 vgl.a.Artikel „Mühlentorweg“
6 So hieß die Straßenbahn, die von 1909 bis 1950 zwischen Unna, Kamen und Werne verkehrte.
Bei der folgenden Zusammenfassung handelt es sich um Teil IV des 15. ZZ des KKK, verfaßt und vorgetragen von Dr. Heinrich-Wilhelm Drexhage
Am 23. Mai 1949 wurde in Bonn vom Parlamentarischen Rat das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Dieses Datum markiert den Beginn der längsten Periode von Frieden, Freiheit und Demokratie in der Geschichte Deutschlands.
Abb. 1: Der Parlamentarische Rat
Dieses GG ist auf den schrecklichen Erfahrungen der deutschen Geschichte aufgebaut: wie die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, zwischen den extremen rechten und linken Parteien zerrieben wurde, zu ihrem Spielball wurde, obgleich, oder auch weil, sie in ihrer Verfassung eine besonders freiheitliche Grundordnung aufwies. So scheiterte sie wegen ihrer großen Liberalität und ging schließlich im Wüten der Nationalsozialisten unter. Damit gab es keine Freiheit mehr.
Erst nach der Zerstörung Deutschlands besannen sich die Männer und Frauen des Parlamentarischen Rates auf die Ideen der Denker früherer Jahrhunderte und verfaßten ein GG, das allgemeine Gültigkeit beanspruchte. Daher lautet der erste, so einfache, aber folgenschwere Satz des GG:Art. 1(1) „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Damit ist der Grundton vorgegeben: der einzelne Mensch steht im Mittelpunkt alles staatlichen Handelns. Ein Satz mit einer Tragweite, der sich in keiner anderen Verfassung in der Welt findet. Die Menschenwürde ist als „vorstaatlich“ gegeben, als von Natur aus vorhanden.
Weitere grundlegende Artikel: Art. 2 (1) „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
Art. 4(1) „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“
Art. 5: (Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk-, Film-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit)
(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugängigen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
Diese Grundrechte bilden den Prüfstein für ein funktionierendes Staatswesen und eine freie pluralistische Gesellschaft. Da das Bunderverfassungsgericht festgestellt hat, daß das „Kommunikationsrecht zu den vornehmsten Menschenrechten überhaupt“ gehöre, werden die Grenzen hier sehr weit gezogen. Es gibt nur sehr wenig, was in Deutschland nicht gesagt werden darf, das wichtigste: Leugnung des Holocausts und Verherrlichung des Nationalsozialismus sind unter Strafe gestellt, Ergebnis historischer Erfahrung.
Bei der folgenden Zusammenfassung handelt es sich um Teil III des 15. ZZ des KKK, verfaßt und vorgetragen von Dr. Heinrich-Wilhelm Drexhage
Der Begriff der Freiheit: Kurzer kultur- und ideengeschichtlicher Überblick
Im zweiten Teil des Abends gab Dr. Drexhage einen Überblick über die Entwicklung des Begriffs der Freiheit in den letzten zweieinhalbtausend Jahren, beginnend mit Perikles (um 500 – 429 v.Chr.) in der klassischen griechischen Antike. Er erläuterte ausführlich das Verständnis von Freiheit dieses bedeutenden Staatsmannes und wie sich dieser Begriff im Alltag Athens darstellte: die griechische Polis ist der Schlüssel zum Verständnis der griechischen Antike und ihrer politischen Kultur. In ihr gab es zum ersten Mal eine freiheitliche demokratische Grundordnung, die alle Männer, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und gesellschaftlichen Stellung, in die politischen Entscheidungsprozesse einbezog.
Abb. 1: Perikles & die Akropolis
Im römischen Reich hat es hingegen niemals eine demokratische Verfassung gegeben, allenfalls eine gewisse Unabhängigkeit der „coloniae“, der Städte, in Deutschland Köln, Xanten und Trier. Immerhin stellten Marc Aurel und Seneca, die die um 300 v.Chr. gegründete griechische Philosophenschule der Stoa für Rom adaptierten, fest, daß es für den Menschen keine äußere Freiheit geben könne, da er ihre Voraussetzungen nicht kontrollieren könne, weswegen seine innere Freiheit entscheidend sei.
Abb. 2: Seneca & Marc Aurel
Im Hochmittelalter herrschte eine streng gegliederte Ständeordnung, die kaum Freiheit ließ. 90% der Bevölkerung waren Bauern und damit „Unfreie, Leibeigene, Hörige“. Erste Ansätze gab es in England, wo 1215 die „Magna Charta Libertatum“ („Große Urkunde der Freiheiten“) dem Adel grundlegende politische Freiheiten gegenüber dem König verbriefte.
In Deutschland verfaßte zwischen 1220 und 1235 der Ritter und Rechtskundige Eike von Repgow das Rechtsbuch „Sachsenspiegel“, in dem er feststellte: „Als man zum ersten Male Recht setzte, da gab es noch keinen Dienstmann und waren alle Menschen freie Leute […]. Ich kann es auch mit meinem Verstande nicht für Wahrheit halten, daß jemand das Eigentum eines anderen Menschen sein soll.“
Abb. 3: Eike von Repgow
Und als im 12. Jh. in Deutschland mehr und mehr Städte, und damit Bürger, entstanden, gab es auch immer mehr Freiheit: „Stadtluft macht frei.“
Im Spätmittelalter begannen die Menschen zunehmend, ihre Unfreiheit als bedrückend, als Belastung zu empfinden, was in den Bauernkriegen 1525 kulminierte. Die Aufstände wurden jedoch von den Fürsten brutal unterdrückt, die Feudalordnung hatte weiter Bestand.
Abb. 4: John Locke
Erst die Aufklärung bringt deutlichen Fortschritt. Ein früher Aufklärer, der Engländer John Locke (1632 – 1704) beschrieb die Grundvoraussetzungen für eine gedeihliches Staatswesen: dieses habe nur den Zweck, Freiheit, Eigentum, Leben und körperliche Unversehrtheit seiner Bürger zu schützen. Und er formulierte as erster, alle Gewalt im Staate müsse vom Volk ausgeübt werden.
In Frankreich war es vor allem Montesquieu (1689 – 1755) der die Grundlagen für den modernen Verfassungsstaat legte. Sein Landsmann Voltaire (1694 – 1778) kämpfte zeitlebens für Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz.
Abb. 5: Immanuel Kant
In Deutschland war es vor allem Immanuel Kant (1724 – 1804), für den Freiheit, Vernunft bzw. Verstand zentrale Begriffe seiner Philosophie waren: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Daher gelte: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Und weiter: „Zu dieser Aufklärung wird aber nichts mehr gefordert als Freiheit […], nämlich die, von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Der öffentliche Gebrauch der Vernunft muß jederzeit frei sein und der kann allein Aufklärung unter Menschen zustande bringen.“ Damit war die Grundlage für die Würde des Menschen und seine Freiheit gelegt.
Abb. 6: John Stuart Mill
Besonders wirkungsmächtig war im 19. Jh. der englische Philosoph und Politiker John Stuart Mill (1806 – 1873). Er legte überzeugend dar, daß menschliches Glück entscheidend vom Grad der Freiheit abhänge, die in einem liberalen Staatswesen gewährt werde. Nur in zwei Fällen dürfe man sich in die Handlungsfreiheit eines Menschen einmischen: um sich selber zu schützen oder die Schädigung anderer zu verhindern. Das ist sein noch heute in der anglo-amerikanischen Welt akzeptiertes Mill-Limit.
(Zusammenfassung Klaus Holzer)
Bildquellen: Abb. 1: N. Harris, Antikes Griechenland; Abb. 2: Gipsabdruck Archäologisches Museum Münster, J. Martin, Das alte Rom (Marc Aurel); Abb. 4, 5 & 6: Wikipedia
Das Verständnis von Freiheit ist, wie andere Dinge auch, eng mit der eigenen historischen Erfahrung verknüpft. Es gibt eben doch Dinge, die mit dem Begriff der Nation zusammenhängen. Wer wollte leugnen, daß das Leben, die typischen Dinge des Alltags wie auch der grundsätzlichen Ideen, in anderen Länder andere sind als bei uns. Ich weiß, das gerät in die Nähe des politisch verbrannten Begriffs der Leitkultur, aber ich glaube, daß das vor allem daran liegt, daß er schnell mit deutscher Überlegenheit assoziiert wurde, mit „Deutschland, Deutschland über alles“. Was wiederum dem Engländer selbstverständlich ist: Man begegnet immer wieder dem dankbaren Stoßseufzer: Was für ein Glück, daß ich als Engländer geboren bin. Oder den Amerikanern, die sich in „God’s own country“ wähnen. Und wer wollte ernsthaft bestreiten, daß das Leben in Frankreich oder Italien oder Spanien oder England sich erheblich von dem hier unterscheidet?
Auf unterschiedlichen historischen Erfahrungen ergeben sich auch unterschiedliche Auffassungen von Freiheit:
GB:
Abb. 1: Zwei Flaggen vereint – ein Land entzweit
Die Briten streben u.a. deswegen aus der EU, weil nicht wenige von ihnen immer noch Ideen des Empire nachhängen, Ideen von Weltmacht, Unabhängigkeit.Seit 1066 ein Reich, mit zentraler Regierung, wurde nie erobert, hatte nie eine Invasion zu erleiden, war immer selbständig, erträgt also keine supranationale Institution, deren Spielregeln sie zu folgen hätte, war Sieger in beiden Weltkriegen, wurde dabei arm, verlor aber nie seine Würde, zieht daraus sein Selbstbewußtsein.
Abb. 2: Pro-Brexit-Demonstration
Abb. 3: Anti-Brexit-Demonstration
Ein weiterer Grund ist das englische Recht: englische Richter sind absolut unabhängig: sie entscheiden auf der Grundlage des Common Law (vgl.a. common sense, heute zunehmend durch statute law ergänzt), d.h., durch Präzedenzfälle geprägt, womit jedes Urteil tendenziell wieder zum Präzedenzfall wird. Sie möchten nicht vom EuGH mit seinem geschriebenen Recht abhängig sein.
Abb. 4: Magna Charta, 1215
Ein bedeutender Teil der Magna Carta (Magna Charta oder Magna Carta Libertatum, dt. „Große Urkunde der Freiheiten“) ist z.T eine wörtliche Kopie der Charter of LibertiesHeinrichs I. von 1100, die dem englischen Adel bereits entsprechende Rechte gewährte. Die Magna Carta verbriefte grundlegende politische Freiheiten des Adels gegenüber dem englischen König, also hat GB auch eine 900-jährige Geschichte der Freiheit; daher kommt wohl auch wenigstens z.T. die Aversion der Briten gegen die EU mit ihrem beträchtlichen Demokratiedefizit.
Die Mehrheit der Briten wehrt sich entschieden gegen die Einführung von Personalausweisen, weil sie die als zu starke staatliche Kontrolle empfinden, es gibt kein Meldesystem, z.B. bei Umzug; ein Problem dabei: es gibt kein abschließendes Wählerverzeichnis, man läßt sich registrieren, das wird durch das Kataster vollzogen: Fragebögen kommen in jedes Haus und Wahlberechtigte bekommen dann ihre voting card.
In einem Roman von 1855 (The Warden, Anthony Trollope) wird ein ganzes Kapitel der Macht der Presse gewidmet, und „Pressefreiheit“ kommt ausdrücklich darin vor! Und daß jedermann sein Recht vor Gericht erstreiten kann!
Meinungs- und Redefreiheit auch in GB heute in Gefahr, beschnitten zu werden: am 23.2.19 las der nigerianische Prediger Oluwole Ilesanmi in London aus der Bibel und predigte öffentlich darüber, was gesetzlich erlaubt ist. Ein Moslem nahm Anstoß daran, weil er den Islam verhöhnt glaubte. Er rief die Polizei, die den Prediger gesetzwidrig festnahm, in Handschellen fesselte und weit außerhalb Londons einfach aussetzte. Zunehmend ist konkurrierende Gesetzgebung aus politisch korrekten Gründen zum Problem für Presse- und Redefreiheit.
USA:
Abb. 5: Declaration of Independence
We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.
Die erste deutsche Übersetzung der Unabhängigkeitserklärung veröffentlichte einen Tag nach ihrer Verabschiedung die deutschsprachige Zeitung Pennsylvanischer Staatsbote in Philadelphia. Sie gab diesen Abschnitt folgendermaßen wieder:
„Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“
Entscheidend: Freiheit ist nach dem Leben das erste unveräußerliche Recht, und das 1774! Noch vor der Französischen Revolution! Zu einer Zeit, da es in Deutschland noch ca. 300 Staaten gab, Hunderte reichsunmittelbare Ritter, dazu die reichsfreien Städte, bis auf diese alle absolutistisch eingestellt.
Abb. 6: Die Unabhängigkeitserklärung wird verfaßt (lks. Benjamin Franklin)
Wahlrecht: Die Amerikaner wählen den mächtigsten Mann ihres Landes, den Präsidenten nicht selber, sondern das tut ein Wahlmännergremium (electoral college).
Hintergrund: Die ersten Wahlen fanden im 18. Jh. statt, da konnten keine allgemeinen Wahlen auf Millionen Quadratkilometern organisiert werden. Es wurden in allen Regionen Männer gewählt, die dann nach Washington reisten und den Präsidenten wählten. Heute eher unpraktisch, doch gibt man seine Traditionen nicht so leicht auf, weil man, wie die Engländer, eine ungebrochene Geschichte hat.
Abb. 7: The Puritans
Pilgrim Fathers – Puritans: Die ersten Einwanderer waren wegen religiöser Verfolgung und Unterdrückung aus England geflohen, daher war es für sie besonders wichtig, „to worship God in their own way“.
Grundsätzlich: Der Kongreß garantiert „absolute Religionsfreiheit, uneingeschränkte Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit; jeder Glaube muß frei sein: Scientology bei uns vom Verfassungsschutz beobachtete Sekte, dort Kirche (es braucht, es gibt keine staatliche Anerkennung, jeder kann seine Kirche gründen), daher auch kein Blasphemiegesetz; heute strikte Trennung von Kirche und Staat, keine Kirchensteuer, dafür religiöse Privatschulen oder Sunday Schools; es gibt in den USA keine religiösen Feiertage außer Weihnachten (Thanksgiving ist nicht religiös begründet)
Abb. 8: The Cowboy
Frontier/Westward Ho!: Der Cowboy, die Inkarnation des Westward H0! Eroberung des unerforschten Westens ohne staatliche Organisation und Rechtsrahmen verlangte privates Handeln in absoluter Freiheit, z.T. als Willkür, nur mit Waffengewalt –daher ist das Recht auf Selbstverteidigung heute noch verfassungsmäßig garantiert.
First Amendment (to the Constitution):
Congress shall make no law respecting an establishment of religion or prohibiting the exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press;or of the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.
(Der erste Zusatz (zur Verfassung): Der Kongreß soll kein Gesetz erlassen, das die Gründung einer Religion zum Gegenstand hat oder die freie Ausübung derselben behindert; oder die Redefreiheit beschneidet, oder die Pressefreiheit; oder das Recht der Menschen, sich friedlich zu versammeln, und eine Petition an die Regierung zu richten, um die Abstellung von Mißständen zu verlangen.)
Second Amendment:
A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed.
(Der zweite Zusatz: Da eine wohlgeordnete Bürgerwehr für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.)
Die USA haben ein ganz anderes Verständnis von Freiheit als wir: Sie kennen kein Feudalwesen mit Bindung an Herkunft, Namen und Überlieferung, während Europa sich doppelter Gefahr ausgesetzt sah, weil es ja keine Verfassungen, und damit Rechtssicherheit, gab: nach oben zu schielen, sich Fürstenlaunen und Herrengunst anzupassen, was bedeutete, daß man nach unten sich den aufstrebenden Teilen des Volkes gegenüber abriegelte und auf gesellschaftliche Vorrechte pochte. Ergebnis: Liebedienerei und Erbengesinnung statt freiheitlichen Denkens in Deutschland.
Abb. 9: Absolute Rede- und Demonstrationsfreiheit
Absolute Meinungs- und Redefreiheit: In Deutschland sind nationalsozialistische Haltung/Äußerungen/Symbole verboten.
(In Estland und Lettland sind sowjetische/kommunistische Symbole verboten, beides aus der historischen Erfahrung heraus; ein aktuelles Beispiel: Die NATO stellt Truppen an den Grenzen zu Rußland auf. Bei uns wird das von vielen heftig als Kriegstreiberei kritisiert, bei Polen und Balten dagegen als Garantie für Freiheit angesehen, nämlich wegen ihrer ganz besonderen Erfahrungen mit der UdSSR bzw. Rußland.)
Das Verbot resultiert aus unserer historischen Erfahrung, in USA jedoch sind diese Gedanken durch Meinungsfreiheit gedeckt: nur weil jeder Idiot seine wirre Meinung frei sagen darf, darf ich auch sagen, was ich will; z.B. hat der Supreme Court festgestellt: Die amerikanische Flagge steht u.a. für das Recht, diese Flagge zu verbrennen. Der Engländer Richard Williamson, früherer Bischof der Piusbruderschaft, bestritt 2009 im schwedischen Fernsehen den Holocaust. Er wurde in D dafür zu 1800 Euro Geldstraße verurteilt, ging bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit der Begründung dagegen an, seine Äußerung sei durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Im englischen und amerikanischen Denken ist es nicht die Aufgabe des Staates, die richtige Interpretation von Geschichte vorzugeben.
Die Tatsache des Holocausts wird in beiden Ländern anerkannt, doch ist seine Leugnung nicht strafbar.
Dieses sind nur einige Aspekte, den Unterschied in der Denkweise und staatlichen Organisation betreffend. Ich hoffe aber, daß zumindest im Ansatz deutlich geworden ist, wie diese Unterschiede zustand gekommen sind.