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Kamen im Gedicht

von Klaus Holzer

Es gibt ein eigenes Genre Großstadtlyrik, entstanden zu Beginn des deutschen Kaiserreiches, als das Land sich anschickte, die Industrielle Revolution zu einem wirtschaftlichen Erfolg zu machen. Überall entstand Industrie, Arbeitsuchende strömten aus den ländlichen Provinzen des Reiches in die Städte und machten sie zu Großstädten. Dieses Wuchern der Bevölkerungszahlen provozierte die Naturalisten Otto Erich Hartleben und Johannes Schlaf u.a., das damit aufkommende neue Lebensgefühl – Vermassung, soziales Elend und die Vereinsamung des Einzelnen inmitten der Masse in den Großstädten – in ihren Gedichten zu beschreiben.

Bereits 1903 erschien die erste Anthologie deutschsprachiger Großstadtlyrik, die sich nicht mehr objektiv mit dem Thema befaßte, sondern es aus der subjektiven Sicht des einzelnen darstellte.
1920 änderte sich der Tonfall radikal, als Gedichte der Expressionisten im Sammelband „Menschheitsdämmerung“ Endzeitgefühle und Fortschrittsvisionen miteinander verbanden, als Gegenpole das eine ohne das andere ohnehin nicht denkbar, schon gar nicht, weil der Erste Weltkrieg gerade zu Ende gegangen war.

1931 dann waren es die Protagonisten der „Neuen Sachlichkeit“, die politische, soziale und wirtschaftliche Themen in ihrer Lyrik verarbeiteten.

Mit dem Beginn des Nationalsozialismus kam dieses Genre an sein Ende.

Kamen ist keine Großstadt, doch gibt es Lyrik, die sich ganz besonders mit unserem Städtchen beschäftigt. Es finden sich unter den Autoren keine Namen wie Kästner, Lichtenstein, Rilke, Trakl, Brecht, Heym, Benn, Ringelnatz oder Kalèko, dafür erscheint Kamen aber auch nicht als alles verschlingender Moloch, in dem nur monotones, eingeschränktes, d.h., unfreies Leben möglich ist. Kamen wird als liebenswertes Städtchen dargestellt, mit seinen Eigenheiten, seinen typischen Bauwerken. Und eigentlich geht es nirgends ohne den schiefen Turm, der in seiner Monumentalität  auch heute noch stadtbildprägend ist. Immer spiegelt sich die Liebe des Autors zu seiner Heimat wider, immer wird gereimt, auf diese Weise das harmonische Grundgefühl betont. Und meist wird Kamen auch bewußt in Westfalen verortet.

In der Einleitung zu dem folgenden Gedicht heißt es 1956 in „Heimat am Hellweg“, dem Vorläufer des Heimatbuches des Kreises Unna: Aus „vereinter Liebe zur Poesie und Geographie“ hat Carl Hengstenberg, weiland Pfarrer zu Wetter in der Grafschaft Mark, im Jahre 1819 bei Bädecker in Essen seine „Geographisch-poetische Schilderung der Provinzen Westfalen und Rheinland“ erscheinen lassen. Mit Vergnügen ist diese gereimte Landeskunde noch heute zu lesen. Wir entnehmen dem kunstvollen Werk die folgenden Strophen, aus denen zuletzt auf Notgeldscheinen nach dem ersten Weltkrieg öffentlich im Hellwegkreis zitiert wurde.“ D. Schr.

Pfarrer Johann Heinrich Karl Hengstenberg (1770 – 1834) war ab 1799 einige Jahre Prediger an der Fröndenberger Stiftskirche.

Wo sich die Ruhr durchs Tal der Weiden windet,
Die Lenne schnell durch Hochgebirge rauscht,
Die Lippe still den Weg zum Rheine findet,
Die Emscher durch Getreideebnen lauscht,
Wo an der Volme laut die Hämmer schallen,
Wie an der Enn’pe lebensvollem Rand,
Wo Zesicke und Ahse langsam wallen,
Da ist Westfalens Mark, ein schönes Land.
.
Die Kohle wird in Erdennacht gegraben
Und röthlich strahlt die sichre Feuerglut,
Leicht schwimmt die köstlichste der Landesgaben
Zum fernen Rheine auf des Hauptstroms Flut.
Reich fließt zu Königsborn des Salzes Quelle,
Sie rinnt zu Sassendorf im Korngefild;
Im Süderland trinkt aus des Baches Welle,
Aus der Forelle Aufenthalt das Wild.
.
Schwer zieht in Unna ein der Erntewagen,
Reich fließt der Salzquell zu in Königsborn,
Hier winkt ein Soolenbad in heitern Tagen,
Hier träufelt manche Wand von schwarzem Dorn.
Gleich Unna baut sein Feld das nahe Camen,
und hat wie Piesa seinen schiefen Turm.
Der Bürger streut voll Hoffnung reichen Samen
Die Zesicke bleibt ruhig selbst beim Sturm.


Ein wenig abgewandelt und illustriert von „J. Simon“* und „E. Rei.“* erscheint es im 20. Jh. in dieser Form:

Abb. 1: Kamener Heimatspruch

Offenbar begründet Hengstenberg damit eine Tradition, denn schon drei Jahre später erscheint im „Westdeutschen Musenalmanach“ für 1824, herausgegeben von Johann Baptiste Rousseau(1802 – 1867)  ein „Trinklied“, das ausgerechnet den Märkern einen Hang zur Abstinenz andichtet. Da er sie am Ende aber auffordert, zu prüfen, wie weit er recht hat, vermutet er wohl nicht zu Unrecht, daß vom erwähnten „klaren Wasser“ der Märker vielleicht nur den Klaren  trinkt und das Wasser wegläßt. Heinrich Heine jedenfalls stellt fest (s.u.), daß sie gut trinken und meint bestimmt nicht Wasser, sind sie doch gemeinsam mit Heine „unter die Tische gesunken“.

Abb. 2: In der Mark trink ich klares Wasser

Der größte, der wohl je über Westfalen geschrieben hat, ist Heinrich Heine (1797 – 1856). Es fällt auf, wie sehr er die Westfalen schätzt. Am deutlichsten wird das wohl in der Formulierung „sentimentale Eichen“. Für ihn sind sie treu und wacker, stehen mit beiden Beinen auf dem Boden, doch hofft er, daß sie vor Helden und Heldentaten bewahrt werden, aber auch, daß die hübschen Mädchen unter die Haube kommen – bei Heine geht es nie ohne Ironie.

In Caput X (lat.: Abschnitt, Kapitel) von „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (1844) heißt es:  (zitiert nach: Heinrich Heine, Werke, Erster Band, S. 445f, Frankfurt/M. 1968)

 Caput X.
.
Dicht hinter Hagen ward es Nacht,
Und ich fühlte in den Gedärmen
Ein seltsames Frösteln. Ich konnte mich erst
Zu Unna, im Wirtshaus erwärmen.
.
Ein hübsches Mädchen fand ich dort,
Die schenkte mir freundlich den Punsch ein;
Wie gelbe Seide das Lockenhaar,
Die Augen sanft wie Mondschein.
.
Den lispelnden westfälischen Akzent
Vernahm ich mit Wollust wieder.
Viel süße Erinnerung dampfte der Punsch,
Ich dachte der lieben Brüder.
.
Die lieben Westfalen, womit ich so oft
In Göttingen getrunken,
Bis wir gerührt einander das Herz
Und unter die Tische gesunken!
.
Ich habe sie immer so lieb gehabt,
Die lieben, guten Westfalen,
Ein Volk so fest, so sicher, so treu,
Ganz ohne Gleißen und Prahlen.
.
Wie standen sie prächtig auf der Mensur
Mit ihren Löwenherzen!
Es fielen so grade, so ehrlich gemeint,
Die Quarten und die Terzen.
.
Sie fechten gut, sie trinken gut,
Und wenn sie die Hand dir reichen
Zum Freundschaftsbündnis, dann weinen sie;
Sind sentimentale Eichen.
.
Der Himmel erhalte dich, wackres Volk,
Er segne deine Saaten,
Bewahre dich vor Krieg und Ruhm,
Vor Helden und Heldentaten.
.
Er schenke deinen Söhnen stets
Ein sehr gelindes Examen,
Und deine Töchter bringe er hübsch
Unter die Haube – Amen!


Zwischen Unna und Kamen bestand seit Jahrhunderten eine Rivalität, wie man sie zwischen Nachbarstädten oft findet. Kamen war im MA lange Zeit die reichere und stärkere Stadt: Man hatte mehr Burgmannshöfe, ein Stadttor mehr, hatte die längere Stadtmauer und eine Reihe Privilegien, deren sich Unna nicht rühmen konnte. Die eine Stadt maß sich immer an der anderen. Und man neckte einander, durchaus nicht nur freundlich. Riefen die Unnaer ihren Nachbarn spöttisch „Kömsche Bleier, Kömsche Bleier“ hinterher, revanchierten sich diese mit „Esel Unna, Esel Unna“. Dann jedoch ging Kamens Stern im Verlaufe des 16./17. Jh. unter (Krieg, Pest, viele Stadtbrände), und Unna rückte vor und gab diese Stellung im Verhältnis zu Kamen auch nicht mehr ab.

So verstand man es dort, wie die Kamener Zeitung im November 1927 berichtete, vor allem im 19. Jh. vorzüglich, Behörden und sonstige Anstalten in seine Mauern zu holen: Landwirtschaftliche Winterschule, Katasteramt, Kulturamt, Bergrevieramt u.a. Da kam es ganz schlecht an, daß Kamen plötzlich in dieser Beziehung auch Ehrgeiz bekam und es schaffte, das Bergrevieramt von Unna nach Kamen zu holen. Da war man in Unna äußerst ungehalten. Als Kamen sich dann auch noch erdreistete, einen offiziellen Protest gegen eine Verlegung des Landratsamtes von Hamm nach Unna einzulegen, erboste sich der Unnaer „Bürger E…“ so sehr, daß er ein Schmähgedicht gegen die Kamener in einer Unnaer Zeitung veröffentlichte:

Der Protest
.
Ein Bleier war versunken
Tief in Philosophie.
Sein Hirn sprüht Licht und Funken
Denn er war ein Genie.
.
Er gab dem Esel Dalles*
Und fand es unerhört,
Daß dieser, statt des Stalles,
Ein Landratsamt begehrt.
.
Ein jeder Bleier brummte
Ihm Beifall ernst und fest,
Die Seseke selbst summte
Bei solchem Sturm Protest.
.
Sogar der Kirchturm zeigte
Sich voll Respekt und tief
Er still sein Haupt verneigte,
Er steht noch heute schief.

*Armut, Not, Geldverlegenheit

Doch ließ die Antwort eines unbekannten Kameners nicht auf sich warten. Der reimte bissig zurück:
Des „Bleiers“ Antwort
.
Ist denn ein Bleier je versunken?
Nein, Esel, dies sahst Du nie!
Doch deines Hirnes Geistesfunken,
Die zieren wahrlich kein Genie.
.
Und hast du noch dazu den Dalles*,
Dann ist es wirklich unerhört,
Daß man statt eines Eselstalles
Ein hohes Landratsamt begehrt.
.
Und wenn der Bleier wirklich brummte,
– Er brummt noch öfter ernst und fest, –
Und wenn sogar die Ses’ke summte –
Das, Meister Langohr, war Protest.
.
Sogar der Kirchturm sich verneigte,
Er macht aus seinem Zorn kein Hehl.
Er neigt sein altes Haupt und zeigte
Dem Esel nur sein – Achterdeel.
.
Drum, Nachbar Esel, laß dir raten,
Dein „Kohl“ reicht nicht an uns heran.
Die Tauben werden erst gebraten,
Bevor man sie genießen kann.
1851 schrieb der Hofrat am Oberlandesgericht Hamm, Moritz Friedrich Essellen (1796 – 1882), in seiner „Beschreibung und kurzen Geschichte des Kreises Hamm und der einzelnen Ortschaften in demselben“ über Kamen:
„Einer Sage nach erhoben die Bewohner von Camen, als die Erbauung von Unna begonnen wurde, dagegen mit den Worten Einspruch: „dat is us to nahe“ und daraus soll sich der Name Unna gebildet haben“, was aber eher unwahrscheinlich ist. Volksetymologie wird so etwas genannt und ist in der Regel eine hübsche Geschichte, die zu erzählen sich lohnt und die Eingang in den örtlichen Erzählschatz findet, doch einer wissenschaftlichen Grundlage entbehrt.
Emil Busch* veröffentlichte im Westfälischen Anzeiger am 26.11.1943 folgendes Gedicht auf Platt, das damals wohl noch von den meisten Kamenern gesprochen, mindestens aber verstanden wurde. Er personifiziert den schiefen Turm, macht ihn zum liebevollen Beobachter, dem seit dem MA vom Treiben der Kamener in den Straßen und Gassen des Städtchens nichts entgeht.
De scheiwe Turm van Komen
.
In welke Strote man auk steiht,
et süht de scheiwe Turm –
un wat do um de Wiäge geiht,
hei weit en Liäwenssturm!
.
Domet hei bietter liuschen kann.
het hei sik sachte döppt –
diu meinst, hei wüßte nichts dovan,
gläuf jo nich, dat hei schlöppt!
.
Hei hiät all manchet leiwe Johr
dat Spielwerk sich beseihn,
bläos dat hei schweigen deit dovan –
dorüm kast diu die frein!
.
Op’t Liuschen da iss hei bedacht,
vannt Oller an de Tiet, –
doch nimm en biettken di in acht,
dat hei nich alles süht!
Übersetzung:
.
In welcher Straße man auch steht,
Das sieht der schiefe Turm –
Und was da auf den Wegen g’schieht,
Es weht ein Lebenssturm!
.
Damit er besser lauschen kann,
hat er sich leicht geneigt –
Du meinst, er wüßte nichts davon,
glaub ja nicht, daß er schläft.
.
Er hat so manches liebe Jahr
die Spielereien sich besehn
bloß daß er schweigen tut davon –
Darüber kannst du dich doch freu’n!
.
Aufs Lauschen, da ist er bedacht,
von alters her bis heute hin –
Doch nimm ein bißchen dich in Acht,
daß er nicht alles sieht.
KH
Nachträgliche Anmerkung:
Wolfgang Freese bietet für Z.4 folgende Übersetzung an:
„Er kennt einen Lebenssturm.“ „weit“ wird als „kennen, wissen“ verstanden, was auch mit der Lautentwicklung übereinstimmt:
t → s (vgl. water → Wasser). Diese Zeile würde dann also bedeuten: Er kennt/weiß etwas vom Leben. Was auch gut zur letzten Zeile des Gedichts passen würde.
Die 1000 Jahre zwischen 1933 und 1945 stellten in fast jeder Hinsicht eine Zäsur dar, gedichtet wurde aber auch danach noch. Kamen war zu beträchtlichen Teilen zerstört. Viele Leute waren in den Bombennächten zu Tode gekommen, viele Häuser zerstört, und Flüchtlinge aus dem Osten strömten in die Stadt. Da paßte es wunderbar, als man 1948, kurz nach der Währungsreform, eine Feier zum 700-jährigen Bestehen Kamens als Stadt feiern konnte. Ja, wenn’s denn so gewesen wäre.
Es ist heute nicht mehr feststellbar, ob die Kamener nach einer Gelegenheit suchten, solch eine Feier zu veranstalten, um ihrer Stadt eine Perspektive für die Zukunft zu geben oder ob es nur der versehentliche Zahlendreher war, der sie die 700-Jahrfeier 1948 statt 1984 feiern ließ. Und dabei gibt es eigentlich kein festes Datum, das die Erhebung Kamens zur Stadt belegt. Fest steht nur, daß das erste Stadtsiegel aus dem Jahre 1284 stammt und es da bereits 40 Jahre lang die Stadtmauer gab.
Gleichgültig, wie es nun wirklich war – es wurde wieder gedichtet. Zur 700-Jahrfeier 1948 erschien das folgende Gedicht von Pfarrer Friedrich Hagemann (17.10.1900 – 7.7.1987) im Festheft:
Unsere alte Stadt
.
Eng sind die Winkel und die Straßen,
die Häuser verwittert und alt,
in denen die Väter schon saßen.
Der Schritt der Vergangenheit hallt.
.
Marktplatz und Rathaus inmitten,
ganz nahe der schiefe Turm,
durch ihn wohl gedeckt, ist erstritten
der Sieg oft im härtesten Sturm.
.
Stand nicht die Burg dort des Grafen? –
Die Wehren sind längst gesprengt.
Weit offen die Tore dem Braven,
der ehrlich und rechtschaffend (sic!) denkt.
.
Gerber und Schuster weit trugen
den Namen der Stadt ins Land,
der Ruf von dem treuen und klugen,
dem fleißigen Handwerkerstand.
.
Neben den Bürgern die Bauern,
bestellten, so zäh, das Feld.
Ihr Hof in dem Schutze der Mauern,
die Äcker im freien Gezelt.
.
Brach eine größere Stunde
dann an für die kleine Stadt!
Da drunten im düsteren Grunde
verborgen sie Schatzkammern hat.
.
Sind zu ihr Knappen gezogen,
die trieben den tiefen Schacht,
sie spannten der Querschläge Bogen.
Zu Tag ward die Kohle gebracht.
.
Da ist die Stille vergangen:
Du, Kamen, bist Bergmannsstadt.
Jahrhunderte in die erklangen.
Glück denn zur ferneren Tat!
Lediglich am Ende der ersten und der zweiten Strophe klingt vielleicht unterschwellig die jüngste Vergangenheit durch, sonst bezieht der Dichter sich ausschließlich auf die frühe Vergangenheit. Sicher ist sicher.
1958 feierte das Städtische Neusprachliche Gymnasium Kamen ganz offiziell sein 100-jähriges Bestehen. Damit war man eigentlich recht bescheiden, kann man doch, mit einigem Recht, auch eine mehrhundertjährige Vergangenheit annehmen, wie es Bürgermeister Beckmann und Stadtdirektor Heitsch in ihrem Geleitwort zur Festschrift tun: „… und schließen auch die Präzeptoren der alten Lateinschule, die sich bis in die vorreformatorische Zeit zurückverfolgen läßt, mit ein.“ Hier schließen sie das 16. Jh. und den ersten nachgewiesenen Rektor der damaligen Kamener Lateinschule, Antonius Praetorius (vgl. Artikel Antonius Praetorius), mit ein. Offenbar waren damals mehr Leute darauf eingestimmt, Gedichte zu konkreten Themen und Anlässen zu schreiben, denn wieder erschien in der Festschrift ein Gedicht, dieses Mal verfaßt von Karl („Pömm“) Schulze-Westen (23.5.1886 –  22.12.1969), der von 1916 – 1953 an der Kamener Schule* unterrichtete, zuletzt als Oberstudienrat:
Die alte Schule
.
Ein Epilog
.
Ihr wandted heute sinnend Euren Blick
zurück; und was die Schule einst gewesen,
und was die Gegenwart bewirkt und will:
auf diesen Blättern habt Ihr es gelesen.
.
Die Schule ist nicht Haus nur oder Raum –
gewechselt haben sie im Gang der Zeiten;
durch immer andere Pforten sah man hier
die Jugend froh zum Quell des Wissens schreiten.
.
Es wandelten der Name sich, die Art,
der Plan und Weg, die zeitgebundnen Normen;
doch eines blieb sich gleich als Sinn und Ziel:
in Geist und Zucht ein Menschenbild zu formen.
.
Es zieht durch manch Jahrhundert schon sich hin
der Schulgeschlechter lange Ahnenreihe,
und stets aufs neue hat die Jugend hier
gespürt des strengen Denkens Hauch und Weihe.
.
So traten sie von dieser Schule her
voll Zukunftsplänen hin ins freie Leben
und bauten freudig weiter auf dem Grund,
den Lehrer schufen, nun in eignem Streben.
.
Verschieden wurde ihres Schicksals Bahn:
der eine stieg, ein andrer ist gesunken;
und mancher hat in früher Jugendzeit
des Schlachtentodes bittren Kelch getrunken.
.
Die Stätte, wo die Burg einst stand, ist leer –
der neuen Zeit Symbol sind Zechenschlote;
und nur der Kirchturm, fest aus Quaderstein,
verblieb als grauer Zeiten letzter Bote.
.
Du, Schule, aber, aus der gleichen Zeit
entstammt, wirst auch im Takt der Stahlmaschinen,
der unsre Tage ruhelos durchpulst,
in dieser kleinen Stadt dem Ganzen dienen.
In seinem Buch von 1997 „Wenn ein Bergwerk erzählen könnte …“ erzählt Günter Stahlhut (2.7.1943 – 10.6.2007) die Geschichte der Zeche Monopol und erläutert ihre Bedeutung für Kamen. Sein Buch ist voller Wehmut über das Ende des Bergbaus in Kamen und auch er kann sich nicht enthalten, ein Gedicht ans Ende seines Buches zu setzen. Er nimmt die Position „seiner“ Zeche ein und reimt in der Ich-Form, wie schon Emil Busch zuvor, personifiziert „seine“ Zeche, zeigt seine enge Verbundenheit, ja seine Identifizierung mit ihr, bringt eine politische Stellungnahme zu Papier:
Zum Abschied
.
Tod und Sterben liegt nicht in unserer Macht,
doch daß es mich so schnell ereilt, hätte ich nicht gedacht.
Ich fühlte mich wohl, ich war gesund,
trotzdem kam für mich das Aus, ganz ohne Grund.
Unter dem Namen Monopol war ich bekannt,
mit meinen Schächten nach Grillo und Grimberg benannt.
Ich gab den Menschen hier Arbeit und Brot,
nur helfen konnte ich ihnen nicht, in ihrer Not.
Der falschen Politik waren sie unterlegen,
denen verzeiht man nicht, noch wird man ihnen vergeben.
Mein Name war gut und weithin bekannt 
und meine Kumpels sind für mich gerannt,
haben gemahnt und demonstriert,
haben sich ihrer Meinung nicht geniert,
um mich am Leben zu erhalten
und gemeinsam die Zukunft zu gestalten.
Doch die Ohnmacht, die Sorgen drücken schwer,
hieß es doch bald, man wollte mich nicht mehr.
Undank ist der Welten Lohn und Preis,
wen kümmern hundert Jahre Kumpelschweiß.
Wo sind die Freunde geblieben, wo sind sie hin,
wer gab ihnen Verrat und anderen Sinn.
Ich bin des Kämpfens müde und lege mich zur Ruh,
deckt ihr mich, mit Eurem Gedenken, auf meinem Sterbebette zu.
Vergeßt mich nicht und meinen Lebenslauf,
ich wünsche Euch allen, von Herzen „Glück auf“!
Folgendes Gedicht nimmt nicht explizit Bezug auf Kamen, doch ist es hier entstanden und preist die Kamener Molkerei, an die sich heute kaum noch jemand erinnert (vgl.a. Artikel „Westicker Straße“).
Dieses Gedicht ist der Festschrift „60 Jahre Molkerei“ vorangestellt, deren Jubiläum am 25. Oktober 1950 begangen wurde. Der Name des Autors wird nicht genannt, doch ist der Text recht interessant, weil der Tonfall noch ganz eindeutig der der alten Zeit ist, die noch nicht lange vorbei war.
Prolog
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DAS WERK
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In 60jährigem harten Ringen
Das schöne Werk schuf Bauernfleiß,
Die Opfer, Not und der Gegenwillen
Bezwang am Ende doch der Bauernschweiß.
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Schwer war das Werk, das die Väter einst begannen,
schwer war die Last und schwer die Saat,
Doch ihre Saat trägt nun reichlich Samen
Und lohnte Gott der Väter gute Tat.
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Und wenn wir einst von hinnen scheiden
Stehn soll das Werk, das der Bauer schuf
Es soll dem Bauer nimmermehr entgleiten
Drum horchet auf der Mahner Ruf.
.
Das Werk soll fernerhin begleiten
Echt deutsche Einigkeit und Treu
Und Friede auch, in allen Zeiten
Dies unser Wunsch zum Geburtstag sei.
Kamen führte früher „Westfalen“ auch als Bestandteil der postalischen Adresse:  (21 b) Kamen i. Westf., es definierte sich immer deutlich als westfälisch, und die Westfalen verstanden sich schon immer als ganz eigener Volksstamm. Westfälischer Schinken und  Pumpernickel sind westfälische Köstlichkeiten, doch dürfen auf keinen Fall die dicken Bohnen mit Speck vergessen werden. Über sie gibt es sogar ein Gedicht, geschrieben vom Dortmunder Verleger und Schriftsteller Karl Prümer (1846 – 1933), „dem plattdeutschen Dichter der westfälischen Mark“.
Lob der Dicken Bohnen
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Ihr Lieben, die ihr scharenweise
jetzt aus den samt’nen Zellen springt,
ihr seid’s wohl wert, daß man euch preiset
und euch ein frohes Liedchen singt.
Des Sommergartens gold’ne Kronen
seid ihr, beliebte Dickebohnen.
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Wenn sie gleich schmucken Kavalieren,
mit Helm und Harnisch angetan,
auf blanker Schüssel paradieren,
fängt nicht das Herz zu hüpfen an?
Seht doch, wie lieblich sie uns winken,
mit dem Kumpan, dem warmen Schinken.
.
Es sehnet sich nach euch ein Jeder,
sei jung er, alt, arm oder reich.
Der Jan liebt euch im Wams von Leder,
Marie im Hemdchen zart und weich.
Wer kein Porz’llan hat, speist von tonen
Geschirren euch mit Lust, ihr Bohnen.
.
Kenn’ keine Speise, die so deftig
den Körper nährt und ihn macht stark.
Drum sind die Menschen auch so kräftig
bei uns, hier in der Grafschaft Mark.
Viel rüst’ger als in heißen Zonen,
wo nicht gedeihn die Dickebohnen.
.
Wenn ich den schweren Hammer schwinge
von morgens früh, bis’s Mittag ward,
so bin ich gleichwohl guter Dinge,
weiß ich doch, was nun meiner harrt:
die Frau wird meinen Fleiß belohnen
mit schwarzgeköppden Dickebohnen.
.
Ihr Erdengötter auf den Thronen,
ihr seid doch wirklich übel dran,
denn ihr kriegt niemals Dickebohnen,
die hier erfreun den Handwerksmann.
Die Ananasse und Melonen, –
was sind sie gegen Dickebohnen!
.
Im Gasthof speist’ ein Herr aus Brüssel,
der – denkt euch! – kannte sie noch nicht.
Da bracht’ der Kellner eine Schüssel,
auf welcher dampfte das Gericht:
„O, wie das schmeckt! Hier möchte’ ich wohnen,
im schönen Land der Dickebohnen.“
.
Manch Schlanker unter den Notabeln
(Kenn’ manchen Bürgermeister auch)
wünschet sich einen respektablen
und stattlichen Beamtenbauch.
Ihr Herrn, laßt euch die Bohnen munden,
so wird bald euer Bauch sich runden.
.
Nun, Freunde, füllet die Pokale
mit Klarem, das dem Fels entsprang,
stoßt an, beim Dickebohnenmahle.
Zum Himmel steige unser Sang!
Auf, jung und alt, auch ihr Matronen!
Ein „Vivat hoch“ den Dickebohnen.
.
Laßt – apropos – uns nochmals klinken,
(Hätt’ ich es bald vergessen doch)
den Braven, die den guten Schinken
uns liefern, ihrer denket noch.
Greift noch einmal zu den Pokalen:
Ein „Hoch“ den Brüdern in Westfalen!
Es gibt auch einen direkten Bezug zwischen den dicken Bohnen und Kamen. Wie wir alle wissen, gibt es seit Jahrhunderten in Kamen Kirchen der beiden großen christlichen Bekenntnisse: die Severinskirche (seit 1920 Pauluskirche) seit dem Beginn des 12. Jh., die Lutherkirche seit 1744 und die Kirche Hl. Familie seit 1902. Das größte Geläute hängt in der ältesten Kirche, das zweitgrößte in der Hl. Familie, und die Lutherkirche hat das kleinste, hellste Geläut. Sie sollen zusammen den Vers läuten:
Pauluskirche: Graote Baonen mit Speck (2x)
Heilige Familie: Die mag ich nicht (2x)
Lutherkirche: Dann gib sie mir (2x)
Und das, obgleich die „graoten Baonen mit Speck“ eher im Münsterland zu Hause sind, und nördlich der Lippe ist man bekanntlich katholisch.
Bei allen Gedichten über Kamen scheint immer durch, was der zweite Kamener Stadtchronist, Friedrich Pröbsting, 1901 ans Ende seiner „Geschichte der Stadt Camen und  der Kirchspielsgemeinden von Camen“ setzt:
„Es giebt nur ein Camen!“
Oder wie die Kamener es selber aussprachen, auf Platt nämlich:
„Et giet men ein Komen!“


* Zum ersten Mal veröffentlicht im Heimatbuch des Kreises Unna, Jg. 1927.  Emil Busch wurde 1897 als Sohn eines Anstreichers in Heeren geboren und begann 1912 eine  Maler- und Anstreicherlehre. 1929 legte er die Meisterprüfung als Malermeister ab. Im Dezember 1944 starb Emil Busch in Werne. Emil Busch illustrierte in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg  zahlreiche Heimatkalender, von denen wiederum in den 1980er Jahren etliche von der WAZ neu aufgelegt wurden. Außer zahlreichen Federzeichnungen, Aquarellen und Gemälden fertigte Busch auch Gedichte an, ein Gedichtband hieß „Sturm und Stille “ und wurde im Montanus Verlag in Wuppertal veröffentlicht. Außerdem malte er zusammen mit seinem Bruder den Altarraum der Lutherkirche aus.

* Wer unter den Lesern weiß, wer die Illustratoren dieses Gedichts (vgl. Abb. 1) sind: J. Simon und E. Rei.?

* Das heutige Städtische Gymnasium Kamen hatte in seiner Geschichte, je nach Status, verschiedene Namen: vor dem II. Weltkrieg Städtische Oberschule für Jungen; ab 1949 Städtisches Neusprachliches Gymnasium; seit der Enttypisierung 1973 Städtisches Gymnasium Kamen.

Vielleicht gibt es noch mehr Gedichte und Lieder aus und über Kamen? Ich würde mich freuen, wenn Leser dieser Zusammenstellung einige Lücken füllen und eventuell weitere Gedichte und Lieder beisteuern könnten.

KH

Das 14. Zeitzeichen des KKK

von Klaus Holzer

So voll war es noch bei keinem der vorangegangenen Zeitzeichen  des KKK. Alle Stühle des Museumssaales waren besetzt, nicht wenige Besucher standen, und dennoch mußten mehrere Dutzend wegen Platzmangels wieder gehen. Offenbar traf das Thema „50 Jahre Neue Stadt Kamen – 50 Photos alte Stadt Kamen“ einen Nerv. Zum ersten Mal ging es bei einer solchen Veranstaltung nicht um die mittelalterliche Kamener Geschichte, sondern um die Zeit seit dem Krieg, also um eine Zeit, die viele Besucher, bestimmt die älteren unter ihnen, aus eigener Anschauung kannten, die allmähliche Veränderung einer Stadt, die uns während der Abriß– und Bauphase lästig ist, die wir aber, sobald wir uns an das Neue gewöhnt haben, bald vergessen.


Abb. 1: Im Haus der Kamener Stadtgeschichte, 19. April 2018 (Photo: Christoph Volkmer für KamenWeb.de)

Eingebettet war der Abend in die Reihe der städtischen Veranstaltungen zur 50-Jahrfeier „Neue Stadt Kamen“, daher stellte der Referent des Abends, KKK-Sprecher Klaus Holzer, einen kurzen historischen Rückblick auf die kommunale Neuordnung vor 50 Jahren voran.

Eine der treibenden Kräfte hinter der kommunalen  Neuordnung in NRW, wenn nicht einer der Gründerväter der Idee, war der damalige Landrat des Kreises Unna, Hubert Biernat. Er hatte frühzeitig klar erkannt, daß die erste Kohlekrise Ende der 1950er Jahre nur Symptom einer tiefer gehenden Krise der heimischen Region war. Ihre wirtschaftlichen Strukturen würden auf Dauer nicht ausreichen, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen der zukünftigen Entwicklung zu bewältigen. Die klassische Industrie des Landes NRW, Kohle und Stahl, sei eine sterbende Industrie. Man dürfe aber die Wirtschaft nicht allein der Wirtschaft, d.h., den freien Kräften des Marktes, überlassen, da müsse die Politik die Initiative ergreifen und die richtigen Weichen stellen.

Um also innerhalb des gerade einmal 20 Jahre alten Bindestrichlandes NRW wirtschaftlich starke, gesunde, wachstumsfähige Regionen zu schaffen, die, so war gewünscht, sich auch in ihrer wirtschaftlichen Stärke aufeinanderzuentwickeln würden, setzte er sich stark für die kommunale Neuordnung ein.

Der Zusammenschluß der bis dahin selbständigen Gemeinden Methler, Heeren-Werve, Südkamen, Rottum und Derne kam durch das „Gesetz  zur Neuordnung des Kreises Unna“ mit Gültigkeit zum 1. Januar 1968 zustande. Lerche, das sich jahrhundertelang nach Kamen hin orientiert hatte, wurde allerdings gegen seinen Willen Hamm zugeschlagen.

Es fiel den Gemeinden, vor allem ihren Bürgermeistern und Ratsvertretern schwer, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Setzen wir stattdessen Souveränität ein, dann erleben wir wieder die gleiche Sache: heute wollen viele Menschen die staatliche Souveränität nicht auf Brüssel übertragen. Vielleicht erklärt sich u.a. daraus die Renaissance des Begriffs Heimat. Vielleicht beschleicht den einen oder anderen ein heimeliges Gefühl, wenn er Photos seiner alten Heimatstadt sieht.

In diesen 50 Jahren hat sich Kamen, heute muß man wohl sagen: „Kamen-Mitte“, stark verändert, begriff es sich doch selber gleich nach der Vergrößerung als „die schnelle Stadt“, öffnete sich dem Neuen in der Architektur, dem Auto im städtischen Raum. Als Wendepunkt erweist sich das Jahrzehnt von 1965 bis 1975, das Wirtschaftswunder wirkte sich in Kamen aus. Das Fahrrad kam aus der Mode, wer Fahrrad fuhr, war arm, man konnte sich ein Auto leisten.

Ausgehend von einem Luftphoto von 1958, das Kamen noch fast unverändert in seinen Grenzen als kleines Landstädtchen zeigt, führte der Referent Entwicklungslinien Kamens zur heutigen Form auf. Nachdem die Kriegsschäden in der Innenstadt beseitigt waren, ging es ernsthaft an die Modernisierung der Stadt, der so viel Altes zum Opfer fiel, daß es stellenweise nur als Kahlschlag bezeichnet werden kann: Nordstraße, Nordenmauer, Teile der Kirchstraße. Und künstlerisch durchaus anspruchsvolle Denkmale (das Sedandenkmal, das Löwendenkmal, das Denkmal im Eingang des alten Rathauses) fallen der Modernisierungswut zum Opfer. Kamen wollte mit aller Macht die „Schnelle Stadt“ werden. Daher lautete auch ein zentrales Argument für den Abriß des Sedandenkmals auf dem Markt, daß es ein „Verkehrshindernis“ darstelle.

Abb. 2: Das Sedandenkmal von 1872, abgerissen nach einem Ratsbeschluß vom 8.11.1956

Und als ein Haus von 1737 in der Kirchstraße einem gesichtslosen Neubau weichen mußte, titelte der HA: „Neue Zeit verlangt ihr Recht.“ Und das wunderschöne Fachwerkhaus des Bäckers von der Heyde, Markt 23, mit einer großen Brezel auf der Front dekoriert, wurde für den Durchstich vom Markt zur 1974 eröffneten Fußgängerzone und zum Neumarkt (seit 1993 Willy-Brandt-Platz) abgerissen. Kuriosum am Rande: bis sie Fußgängerzone wurde, war di8e Weststraße für Auto frei befahrbar, Motor– und Fahrräder durften jedoch nicht durchfahren!

Abb. 3: Das Haus Kirchstraße 4, das für einen gesichtslosen Neubau abgerissen wurde

Brutale Waschbetonarchitektur entsprach dem Geschmack der 1970er Jahre, selbst Blumen, glaubte man, kämen in solchen Betonkästen besser zur Geltung.

Abb. 4: Mode der 1970er Jahre: alles in und aus Beton

Im Bereich der Burgstraße gab es einen großen Garten, den Koepeschen Garten, Eigentum einer einstmals bekannten, wohlhabenden Kamener Familie: heute ein Parkplatz. Der Kappenberger Hof an der Ecke Weststraße/Dunkle Straße abgerissen: heute ein Parkplatz. Der Markt, früher (und Gottseidank heute wieder) ein zentraler Platz für die Bürger der Stadt, wurde: ein Parkplatz.

Abb. 5: Der Marktplatz, die gute Stube der Stadt, ein Parkplatz: Vorfahrt fürs Auto

Die vielen abgerissenen Fachwerkhäuser, ansehnlich und wohlproportioniert, wichen in der Regel gesichts– und charakterlosen „modernen“ Häusern, oft durch Beton „verschönert“.

Eines fällt generell auf: gleichgültig, welche Straße auf einem Photo der 50/60er Jahre abgebildet ist, immer zählt das Auge 3,4 oder gar 5 Kneipen auf ganz kurzer Strecke. Und alle Dortmunder Brauereien waren vertreten, und das waren damals 9. Kamen hatte damals einen Ruf zu verteidigen, der schon auf das Jahr 1722 zurückgeht, und das tat es bravourös.

Die Bahnhofstraße war bis in die 1970er Jahre noch in beiden Richtungen befahrbar. Begegnungsverkehr zweier Busse führte zum Verkehrskollaps. Die Maibrücke trug noch bis ins neue Jahrtausend die volle Verkehrslast.

Und nicht wenige Besucher das Abends, die jüngeren zumeist, staunten nicht schlecht, als sie erfuhren, daß Kamen bis in die 1970er Jahre eine eigene Molkerei hatte, und erst 1987 der städtische Schlachthof ab gerissen wurde. Daß die Glückaufschranke werktäglich wegen des dichten Zugverkehrs über 11 Stunden, selbst an Sonntagen noch über 8 Stunden geschlossen war, ist für den heutigen Benutzer der Hochstraße nicht mehr vorstellbar.

Abb. 6: Der Postteich in den 1960er Jahren

Seit den 1920er Jahren verfügte Kamen über zwei große Teiche, den Koppel– und den Postteich. Beide waren im Zuge der Kanalisierungsarbeiten der Seseke entstanden, sie wurden .a. für Ausgleichsmaßnahmen bzgl. der Höhe des Wasserspiegels gebraucht. Im Sommer waren sie idyllische Orte zur Naherholung, im Winter willkommenes Gelände zum Schlittschuhlaufen. Ihre Funktion zur Regulierung der Wasserhöhe konnten die beiden Teiche indes nicht recht erfüllen. In der zweiten Dezemberwoche 1960 überflutete dieses Flüßchen die ganze Stadt und setzte sogar Schulen unter Wasser.

Zum Schluß zeigte der Referent Photos verfallender oder schon verfallener Häuser in Kamens Altstadt und solche, deren Abriß die Zeitungen schon ankündigten und stellte die nicht ganz unberechtigte Frage: Wie lange können wir Kamener noch von einer Kamener Altstadt sprechen?

Wegen des unerwartet großen Zuspruchs wird diese Veranstaltung am Donnerstag, 14. Juni, 19.30 wiederholt. Ort der Veranstaltung ist wieder der Saal des Kamener Hauses der Stadtgeschichte, Bahnhofstraße 21.

KH

Abb.: Archiv Klaus Holzer

Siegeroth

von Klaus Holzer

Südlich der Südkamener Straße, zwischen der Bückeburger Straße und Schulze Berge, heißen viele Straße nach Philosophen: Schopenhauer, Schelling, Feuerbach, Hegel, Fichte, Nietzsche. Doch stößt der Spaziergänger dort auch auf „Lütge Heide“, „Auf den Kämpen“, „Siegeroth“. Und die südlich davon heißt „Auf der Heide“. Wie paßt das zusammen?

In den Randgebieten kleiner Städte wie auch in Dörfern dienten oft alte Flurnamen der Orientierung. Solche Namen waren Gebrauchsnamen, die nur lokal bekannt waren und Sinn ergaben. So erwähnt der Kamener Konrektor Craemer 1929 in der „Zechenzeitung der Schachtanlagen Grillo und Grimberg“ ein „Ziegenröttchen“ bzw. „Siggenröttchen“. Ein „roth/rodt oder röttchen“ (es gibt viele verschiedene Schreibweisen) ist ein Stück gerodetes Land. Alle Rodungsnamen sind sehr alt, da sie auf die Zeit zurückgehen, als man in ganz Europa in großem Stile daranging, bewaldetes Land für die Landwirtschaft nutzbar zu machen, also nach der Zeit der Völkerwanderung, etwa ab dem 7. Jh. AD.

Zusammen mit dem ersten Bestandteil (Ziegen, Siggen) ergibt sich somit die wahrscheinliche Bedeutung: „gerodetes Land, auf dem Ziegen weideten“. Die ehemalige Südkamener Ortsheimatpflegerin Ursula Schulze Berge bestätigt diesen Gebrauch: „So haben mein Mann und ich immer darüber gesprochen.“ Die anderen Namen belegen diese Bedeutung. „Lütge Heide“ und „Auf der Heide“ sind Indizien für die Richtigkeit der Annahme, da eine „Heide“ immer ein sehr karges Stück Land ist und nur Ziegen selbst dort noch etwas zu fressen finden.

Und „Auf den Kämpen“ ist eine nahe Verwandte, umfaßt aber im Gegensatz zu den „Heiden“ fruchtbares Land. Das so urwestfälisch erscheinende Wort stammt aus dem Lateinischen, wo „campus“ so viel wie „freie, unbebaute, offene Fläche“ bedeutete. Als es im 9. Jh. erstmals in Westfalen auftauchte, hatte es schon einen Bedeutungswandel hinter sich und bezeichnete jede Art von bewirtschaftetem Feld bzw. Ackerland, wie aus frühen Rechtsbüchern hervorgeht, und war „umzäuntes Siedlungsgelände, Viehpferch und umzäunter Acker“. Wahrscheinlich mußte solch ein Stück Land vor den nebenan grasenden Ziegen geschützt werden.

Hier haben sich alte Flurbezeichnungen unter Philosophen gehalten. Wie schön.

Klaus Holzer

Lit.: Gisbert Strootdrees, Im Anfang war die Woort, Flurnamen in Westfalen, Bielefeld 2017

Kamens Hochstraße ist 40 geworden

von Klaus Holzer

Abb. 1: Die Hochstraße, Blick nach Norden

Gerade erst gab es in Kamen ein Jubiläum zu feiern, doch keiner hat es gemerkt. Und dabei betraf es eine Sache, die seit 40 Jahren immer noch viele Gemüter erregt. Am 16. Dezember 1977 wurde die Hochstraße offiziell dem Verkehr übergeben, am nächsten Tag in der Kamener Lokalpresse als „Jahrhundertwerk“ gefeiert. Die Übergabe geschah im Rahmen eines großen Volksfests mit Kirmes, das 2.500 Leute auf der neuen Straße feierten, aus Freude darüber, daß das größte Ärgernis in Kamen ein für allemal beseitigt war, die Glückaufschranke, die die Kreuzung der B 233 mit der Köln-

Abb. 2: Die Glückauf-Schranke

Mindener Linie der Deutschen Bundesbahn für etwa 11 Stunden an Werktagen und für 6½ Stunden an Sonntagen versperrte. Dann staute sich der Verkehr kilometerweit in beiden Richtungen. Das bedeutete ärgerliches Warten für alle am Verkehr Beteiligten, und Lärm und Gestank für alle Anwohner. Die Fahrpläne der VKU waren großenteils Makulatur, obendrein verursachten die Wartezeiten und der damit verbundene Schleichverkehr hohe zusätzliche Kosten. Betriebsleiter Werner König schätzte den zusätzlichen Dieselverbrauch auf 25.000 Liter und 20.000 DM pro Jahr, und das, obwohl die Fahrer die Motoren abstellten, so oft es möglich war.

Abb. 3: Verkehrschaos bei geschlossener Schranke

Ein solches Unternehmen war damals und ist heute ein schwieriges Unterfangen. In diesem Brei rührten viele Köche: die Stadt Kamen, der Kreis Unna, das Bundesverkehrsministerium, das Wirtschaftsministerium NRW, der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, die Deutsche Bundesbahn (wie sie damals noch hieß), vertreten durch die Bahndirektion Essen, die Straßenbauverwaltung NRW und das Landesstraßenamt Hagen.

Die Planungen für die Hochstraße begannen im Jahre 1962, als das beginnende Wirtschaftswunder den Verkehr rasant anschwellen ließ, auf der Straße wie auf der Schiene. Von Anfang an standen zwei Varianten zur Diskussion, eine Unterführung und eine Überführung, die der Landschaftsverband Westfalen-Lippe zunächst ablehnte und durch seinen Vorschlag einer ganz neuen Trasse östlich der B 233 bereicherte. Sie sollte direkten Anschluß an die Werner Straße im Osten der Stadt bekommen. Doch konnte er sich damit nicht durchsetzen. Ende 1962 entschied das Landesstraßenbauamt, daß die zu bauende Hochstraße direkt in den Westring münden sollte, weil die Koppelstraße für einen vierspurigen Ausbau zu schmal sei.

Im Sommer 1963 war der Entwurf fertiggestellt, doch wurde dann noch einmal eine Kostengegenüberstellung Hochstraße – Tiefstraße in Auftrag gegeben. Diese ergab

DM 19.591.000,- für die Tiefstraße, DM 18.832.000,- für die Hochstraße. Das führte im Sommer 1965 endgültig zur Festlegung auf die Hochstraße.

Dann jedoch stellte man in Kamen fest, daß der vorliegende Entwurf das städtische Leben, die Erreichbarkeit von Ortsteilen erheblich erschweren würde, weil man für die neue Straße einen langen Damm würde aufschütten müssen. Im Sommer 1966 wurde deshalb eine neue Variante entwickelt, die „eine größere Durchlässigkeit der neuen Straße gewährleistet“. So kam es dann im November 1967 zur endgültigen Entscheidung für die Hochstraße in ihrer heutigen Form, ein großer Teil der 1,95 km langen Strecke als Brücke aufgeständert. „Die Mehrkosten von DM 10,5 Mill. […] erscheinen […] angemessen und vertretbar.“

Abb. 4: Brücke über die Bundesbahn; das Brückenfeld mußte in Hochlage eingebaut und dann abgesenkt  werden, damit der Bahnverkehr ungehindert weiterlaufen konnte

Nachdem dann alles bürokratisch Notwendige vom Planfeststellungsverfahren bis zum Finanzierungsplan erledigt war, erfolgte im Sommer 1973 der Planfeststellungsbeschluß. Ein Jahr später wurde die Vereinbarung über das Projekt Hochstraße zwischen allen Beteiligten unterzeichnet. Noch im selben Jahr fand der erste Spatenstich statt, und anders, als das bei Großprojekten heute oft der Fall ist, wurde die veranschlagte Bauzeit leicht unterschritten, der Kostenrahmen nicht überschritten und die Hochstraße nach 3½ Jahren Bauzeit am 16. Dezember 1977 offiziell dem Verkehr übergeben, der allerdings wegen letzter Aufräumarbeiten, darunter auch die Reste des Eröffnungsvolksfestes, erst ab Dienstag, 20. Dez. 1977 auf der neuen Straße rollen konnte.

Bei diesem Anlaß zeigten sich Bürgermeister Ketteler und Stadtdirektor Rethage besonders erfreut, daß der lange Kampf der Stadt Kamen, das Verkehrsnadelöhr zu beseitigen, endlich von Erfolg gekrönt war. Jetzt konnte Kamen seinen Slogan „KAMEN – die schnelle Stadt“ verwenden, ohne höhnische Kommentare der vor der geschlossenen Schranke Stehenden zu ernten. Die Kamener selbst hatten sowie eine einfache Erklärung für ihren Namen: „Du hast Glück, wenn sie auf ist.“

Aus einer zu diesem Anlaß von der Stadt Kamen und dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe herausgegebenen kleinen Dokumentation geht hervor, wie stolz alle Beteiligten auf das Projekt waren. Immerhin sieben Grußworte sind ihr vorangestellt, und sie spiegeln den Geist der Zeit perfekt wider, denn nur eins davon erwähnt die Fußgänger – und auch der in nur einem Satz – für deren Sicherheit in absehbarer Zeit ein Tunnel gebaut werden sollte. Aber damals waren alle auf das Auto fixiert, jede Stadt wollte modern sein, d.h., autogerecht.

Abb. 5: Rampe Bahnhofstraße

In dieser Dokumentation werden neben der zügigen, termingerechten Erledigung der Arbeiten und der hervorragenden Zusammenarbeit aller Beteiligten besonders die Straßenbeleuchtung – von ihr versprach man sich Unfallfreiheit – und die sogenannte Immissionsschutzkappe hervorgehoben, von der man sich weitestgehenden Schutz der Anwohner vor Lärmbelästigung versprach. Seit ein paar Jahren ist diese Beleuchtung abgeschaltet, und seit 2017 gibt es eine Ampelanlage, die eine inzwischen aufgrund der veränderten Verkehrssituation erforderliche neue Verkehrsführung erlaubt.

Auch heute noch gibt es vereinzelt Stimmen, die die Hochstraße für eine Fehlleistung halten, weil sie die Stadt durchschneidet und in zwei Hälften teilt. Das stimmt natürlich auch, doch wenn man sich die Alternative vor Augen hält, wird deutlich, daß die gegenwärtige Lösung das bedeutend kleinere Übel ist. Wer wollte heute die B 233 mit ihren Tausenden von Motorrädern, Pkw, Bussen und Lkw in der Stadt haben? Lünener Straße und Westring kombiniert auf der Koppelstraße?

Es ist wohl richtig, daß sich nur Brückenbauingenieure vorbehaltlos für die Eleganz des Betonbauwerks begeistern können, doch für alle anderen gilt: freuen wir uns an ihrem 40. Geburtstag, daß es sie gibt. Sie bedeutet ein Stück Kamener Lebensqualität. Wenn auch erst auf den zweiten Blick.

Abb. 6: Zufahrt Bahnhof- und Koppelstraße

KH

Zitate und Abbildungen aus: Die neue Hochstrasse in Kamen, Hrsgg. von der Stadt Kamen in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Stadtarchiv Kamen

Bollwerk

von Klaus Holzer, auf der Grundlage eines Artikels von Edith Sujatta

 Bollwerk

Es gibt zwei Möglichkeiten für die Entstehung einer Stadt, die eine ist die Gründung durch einen Grundherrn, wie zum Beispiel Lippstadt (früher Lippe). Hier fand Graf Bernhard einen strategisch günstigen Ort, um seine Stadt zu gründen. Dann gibt es Orte, die sich aus einer besonderen Situation heraus entwickelten, an Furten, Brücken oder Wegkreuzungen. Hier treffen sich Menschen, die Überwege müssen  begehbar gehalten werden, diese Engstellen sind gefährlich, sie müssen gesichert werden. So hat es in Kamen angefangen.

Abb. 1: Nur Kamen liegt wegen der Besiedelung an der Furt südlich wie nördlich der Seseke

Die Straße „Am Bollwerk“, seit 1928 so benannt, ist eine ehemalige Torstraße, die durch das „Wünnentor“1 aus der Stadt herausführte, das älteste Stadttor, das aber schon 1660 abgebrochen wurde.

Abb. 2: Blick von der Vinckebrücke: etwas unterhalb der Ziegelmauer war die Furt, Kern Kamens

Bollwerk kommt von „Bohl(en)werk2 und bedeutet hier eine kleine Brücke über die flache Seseke und einen mit Bohlen ausgelegten Steg über den dahinter liegenden Sumpf, „Die lange Brücke“. Dieses „Bohl(en)werk“ war natürlich für die Reisenden nicht mehr erkennbar, wenn die Seseke, was sie oft tat, Hochwasser führte. Damit er aber seinen Überweg dennoch finden konnte, steckten die „Betreiber“ dieses Überganges links und rechts des Weges lange Stecken in den Sumpf, so wie es in Schneeregionen heute noch gemacht wird. Das übliche Hochwasser, zweimal im Jahr, floß in den tiefer gelegenen Süden, Richtung Unna. Wenn es wieder ablief, hinterließ es ein Sumpfgebiet. Dies ist auch der Grund dafür, daß sich die Menschen auf der nördlichen Seite der Seseke niederließen.

Der Knüppeldamm mußte ständig repariert, mit neuen Holzlagen erneuert werden. Wer macht das schon umsonst? Also mußte der Reisende eine „Maut“ bezahlen, wohl meistens mit Naturalien. Was lag da näher, als weitere Dienste anzubieten? Reparaturen an Wagen und Pferdegeschirr, etwas zu essen, ein Lager für die Nacht. Und dafür brauchte man natürlich weitere Leute, die mithalfen. So entstand fast ganz von allein der Kern einer kleinen Siedlung.

Solch eine Siedlung zog auch immer marodierende Banden an. Für die Sicherheit, aber auch einfach der besseren Übersicht über das schwierige Gelände halber, baute man hier zuerst eine sogenannte Motte, einen künstlichen Hügel, von Wasser umgeben, mit einer sogenannten Bohlenburg, einem Turm aus Holz, oft auf einem Steinsockel. Die Reste dieses Turms sind noch hinter dem ev. Gemeindehaus zu sehen. Hier saßen nun die germanischen „Edelinge“, kassierten Wegezoll und hielten Wache. Die Arbeit an der Brücke war wohl eher die Aufgabe der Hörigen.

Abb. 3: So ungefähr muß man sich die „Motte“ vorstellen (Abb. zur Verfügung gestellt von Edith Sujatta)

Abb. 4: Ein Stück der ältesten Mauer Kamens, vor 1100

Abb. 4a: Detail der ältesten Mauer

Im Mittelalter entwickelte sich aus dem sicheren, aber als Wohnung höchst unbequemen, weil kalten und zugigen, Turm die erste Burg mit ihren Wirtschaftsgebäuden, später nach ihren jeweiligen Besitzern genannt, z.B. Wetholz’scher Hof. In unmittelbarer Nähe entstand später die Grafenburg am heutigen Kirchplatz, die wiederum mehr Schutz bot, Bedarf an weiteren Handwerkern hatte und damit zur Keimzelle der späteren Stadt Kamen wurde.

1 Das „Wünnentor“ führte auf die städtischen „wünnen“, die Wiesen.

2 Das „Bohl(en)werk“ wanderte im Laufe der Jahrhunderte nach Westen, über die Niederlande nach Frankreich. Als Baron Haussmann in der Mitte des 19. Jh. Paris zu der modernen Metropole ausbaute, die wir heute kennen, legte er breite, von Bäumen gesäumte Straße an, die er, in Anlehnung an das Aussehen der „Bohl(en)-werke“ „boulevards“ nannte. Kurze Zeit später wanderte dieses neue, nunmehr französische, Wort wieder als Boulevard zurück zu uns.

Abbildungsnachweis:

Abb. 0,2,4 & 4a: Klaus Holzer; Abb. 1: nach Theo Simon, Kleine Kamener Stadtgeschichte, Kamen 1982; Abb. 3 zur Verfügung gestellt von Edith Sujatta

KH

Das 13. Zeitzeichen des Kultur Kreises Kamen am Donnerstag, 27. April 2017

von Klaus Holzer

Das 13. Zeitzeichen des Kultur Kreises Kamen

am Donnerstag, 27. April 2017

Abb. 1: Dr. Falko Herlemann beim Vortrag

Sehr erfolgreich verlief das 13. ZZ des KKK am 27. April 2017 im Haus der Stadtgeschichte Kamen. Immerhin 32 Zuhörer fanden sich im Saal des Museums ein, um Dr. Falko Herlemann aus Herne zu lauschen, der seinen Vortrag unter den Titel gestellt hatte, „Lucas Cranach der Ältere: Mehr als ein Maler der Reformation“. Und im Laufe des Abends wurde klar, wieviel mehr er war. Der uns Heutigen vor allem als Maler der Reformation geläufige Cranach war zugleich Kaufmann, Politiker, Diplomat, Drucker und Verleger, verstand sich aber zunächst als Handwerker. Und war vor allem vielseitiger Künstler.

Er wurde um den 4. Oktober 1472 (neuere Forschungen sprechen von 1475) in Kronach in Oberfranken geboren, des Hans Malers Sohn Lucas, der später seine Gemälde mit „Lucas Cranach“, was wohl heißen sollte: Lucas aus Kronach, signierte. Über seine Jugend ist kaum etwas bekannt, aber immerhin, daß Vater Cranach einmal eine deftige Strafe für „ungebührliches Verhalten“ seiner Söhne bezahlen mußte. Als nächstes ist er als Handwerkslehrling bekannt, ging dann „auf die Walz“ und war 1502 in Wien. Uns mag es verwundern, aber damals war der Künstler zuerst Handwerker, der während seiner Lehrzeit lernen mußte, seine Farben selber herzustellen (Ölfarben gab es noch nicht, die sind eine Erfindung aus der Mitte des 19. JH.): Pigmente zerkleinern, Malgrund vorbereiten, kurz alles, was der Maler später, wenn er seine Aufträge abarbeitete, brauchen würde. Erst nach der Wanderschaft durfte ein Geselle seine eigene Werkstatt eröffnen, was wegen der handwerklichen Zunftbindung aber immer noch mit Schwierigkeiten behaftet war.

1505 wurde Cranach Hofmaler des Kurfürsten Friedrich von Sachsen. Normalerweise ist das ein Knochenjob, weil man in den Hofalltag fest eingebunden war und u.a. die vielen Hoffeste organisieren mußte. Cranach jedoch hatte Glück, weil sein Brotherr ihm die Freiheit gab, sich auf seine Kunst zu beschränken und ihm sogar gestattete, seine Bilder auf dem freien Markt zu verkaufen.

Abb. 2: Lucas Cranachs Wappen

1508 erhält er vom Kurfürsten ein eigenes Wappen, eine gekrönte und geflügelte Schlange mit einem Rubinring im Maul, dessen genaue Bedeutung bisher nicht ganz erschlossen ist. 1510 eröffnet er seine eigene Werkstatt. Zwei Jahre später heiratet er die Tochter des Gothaer Bürgermeisters. Er eröffnet einen Weinausschank, eine Apotheke, wird Verleger und freundet sich mit Martin Luther an. Sie werden so enge Freunde, daß Lucas Trauzeuge der Luthers wird und später auch Pate ihres ersten Kindes. Jetzt ist Lucas „angekommen“. Er wird Kämmerer in Wittenberg, Ratsherr und sogar von 1537 – 1544 Bürgermeister.

Abb. 3: Albrecht Dürers Porträt von Lucas Cranach

1524 trifft er Albrecht Dürer in Nürnberg, der ihn porträtiert. Zusammen mit dem Nürnberger Großmeister illustriert er eine Bibel für Kaiser Maximilian. Derweil treten seine beiden Söhne, Hans und Lucas, in seine Werkstatt ein.

1547 verliert „sein“ Herzog, jetzt sein dritter Dienstherr, Herzog Johann Friedrich der Großmütige,  die Schlacht von Mühlberg gegen den Kaiser und wird erst nach Augsburg, dann nach Innsbruck in die Gefangenschaft geschickt, wohin Cranach ihm folgen muß.

Aus der Cranach-Werkstatt sind etwa 5.000 Gemälde bekannt, davon ca. 1.000 vom Meister selber. Hinzu kommen ca. 350 Zeichnungen und Holzschnitte und auch Kupferstiche. Es sind viele Dokumente überliefert, die detailliert Preise für seine Werke verzeichnen. Ein kleines Bild aus seiner Werkstatt kostet demnach nicht mehr, als der Wochenlohn eines Steinmetzen beträgt. Jedes Bild ist mit seinem Wappen signiert, gleichgültig, ob Cranach selber oder einer seiner Gesellen es  gemalt hat, während Dürer nur seine eigenen Werke mit dem bekannten AD signieren ließ. Es wird schon hieran deutlich, wie sehr Cranach sich an Marktgesetzen orientierte.

Religiöse Themen:

Um 1500 sind religiöse Themen besonders beliebt und daher modern. Die Menschen waren tief religiös, kirchliche Regeln bestimmten ihren Alltag. Den dabei entwickelten Konventionen folgt Cranach zunächst, weicht aber dann davon ab und zeigt schon in seinem Frühwerk, daß er ein eigenständiger Künstler ist. Stehen in der Konvention z.B. die drei Kreuze von Jesus und den beiden Schächern frontal zum Betrachter, schafft Cranach eine ganz neuen Raumwirkung, indem er die beiden seitlichen Kreuze schräg stellt. Plötzlich entsteht ein Raum, eine neue Perspektive. Hinzu kommt eine besonders expressive Darstellung, Jesus leidet, die Darstellung besticht durch ihre Drastik.

Abb. 4: Lucas Cranach, Die Kreuzigung Christi

Des weiteren legt er in seinen Gemälden die Landschaften ganz neu an, in mehreren Ebenen nach hinten gestaffelt, z.B. im Bild des Hl. Hieronymus. Für seine Kurfürsten (es waren insgesamt drei: Friedrich der Weise, Johann der Beständige und Johann Friedrich der Großmütige) schuf er Altar– und Marienbilder, die ganz konventionell die Hl. Sippe ins Zentrum stellen bzw. Maria, er, der Maler der Reformation! Doch plötzlich tauchen bei ihm auf den Außenflügeln reale, wiedererkennbare Menschen auf: Kurfürsten, Kaiser usw. Damit beginnt Cranachs Porträtmalerei, in der er ganz deutlich die neue Zentralperspektive verwendet.

Überraschenderweise finden sich bei Cranach auch richtiggehende Kopien z.B. von Hieronymus Bosch. Dazu muß der heutige Betrachter wissen, daß es damals erstens kein Urheberrecht gab und zweitens das galt, was chinesische Kopierer heute noch zu ihrer Entschuldigung vorbringen: eine Kopie ist Ausdruck von Hochachtung für die Qualität des Originals.  Cranach aber geht einen Schritt weiter, er betrachtet seine Kopien als Motivkästen für zukünftige Gemälde und verwendet motivische Elemente von Bosch in späteren Gemälden zur Illustration z.B. der Hölle.

Besonders häufig finden sich bei Cranach Doppelporträts, z.B. eine Professor und seine Frau mit den typischen Attributen: Mütze, Buch und Pelzkragen bzw. Haube und Brokatbesatz; einen Adligen mit Schwert und Jagdhund und seine Frau mit ihrem Hündchen, dem Symbol ehelicher Treue. In solchen Symbolen erzählt der Künstler die Geschichte der Porträtierten.

Was sich schon in den Mariendarstellungen und vielen Altarbildern andeutete, findet auch auf der aktuellen Ebene statt: der Lutherfreund Cranach porträtiert 1526 Kardinal Albrecht von Brandenburg, der ein erklärter Gegner Luthers ist und schließlich sogar ein Kirchenverfahren gegen ihn einleitet. Cranach verhält sich hier als Handwerker und Kaufmann, nicht anders als ein Tischler, der Bänke für eine Kirche anfertigt. In den Gemälden wird erkennbar, daß Cranach bestimmte immer wiederkehrende Bildelemente zur Gestaltung verwendet, was die quasi-industrielle Produktionsweise seiner Werkstatt erst ermöglicht.

Antike Themen:

In Italien hatte die Renaissance längst ihren Höhepunkt erreicht oder gar überschritten, als Cranach zu malen anfing. Italienische Künstler hatten die antike griechische Mythologie wiederentdeckt, vor allem in den überkommenen griechischen Skulpturen oder den erhaltenen römischen Kopien. Cranach war der erste, der diesen Trend in Deutschland aufgriff. In vielen Bildern gestaltete er „Apollo und Diana“, „Venus und Amor“ usw. Es fällt auf, daß seine Frauenkörper wenig anatomische Ähnlichkeit mit richtigen Frauenkörpern aufweisen, aber es gab damals eben keine Aktmodelle, nach denen man hätte zeichnen und malen können, nur Skulpturen, und da waren Frauen meist, zumindest teilweise, bekleidet. Ganz anders die männlichen Körper. Hier konnte die griechische Skulptur als Modell dienen. Männliche Nacktheit war für die Griechen normal.

Abb. 5: Lucas Cranach, Venus & Amor

Cranachs Frauengestalten tragen immer eine modische Frisur, idealisierte Landschaften bilden den Hintergrund. Und damit er dem Markt genügen kann, fertigt er Schablonen an, die als Versatzstücke für viele Gemälde verwendet werden können, was den Arbeitsprozeß wesentlich beschleunigt: „Apollo und Diana „ fünf Mal, „Venus und Amor“ gar 30 Mal. Der Markt verlangte danach, die Werkstatt mußte bezahlt werden, seine Lehrlinge und Gesellen verlangten regelmäßigen Lohn. Und dabei variierte er. Amor war nicht nur der Knabe, der Liebespfeile abschoß, sondern auch der Honigdieb, der, von den Bienen geplagt, flehentlich zu seiner „Mama“ Venus aufschaut. So transportiert er das antike Motiv in seine Gegenwart. Er ist aber ein zu guter Maler, als daß er 30 Mal bloß kopiert hätte. In den zahlreichen Variationen entstehen immer wieder originale Kunstwerke.

Abb. 6: Lucas Cranach, Liegende Quellnymphe

Andere antike, immer wiederkehrende Motive: die „Liegende Quellnymphe“ (22 Mal), die in ihrer räkelnden Nacktheit fast schon pornographisch wirkt; das „Urteil des Paris“, das er in eine thüringische Phantasielandschaft stellt; die „Drei Grazien“ u.a.

Abb. 7: Lucas Cranach, Drei Grazien 

Allegorische Bilder/ Themen:

Hierher gehören Themen wie das „Paradies“, das „Goldene Zeitalter“ u.ä., die Projektionen dieser Zustände in die Zukunft darstellen. Mensch und Tier leben in Frieden, der Löwe frißt das Lamm nicht. Oder „Caritas“, die Nächstenliebe, kümmert sich als Frau um viele Kinder – das Publikum will so etwas und kauft es.

Bilder der Reformation:

Es sind vor allem die vielen Porträts seines Freundes Martin Luther (und seiner Frau Katharina). Am Anfang steht der Kupferstich, der Luther als Augustinermönch darstellt, als einen hageren Menschen mit Tonsur. Auch dieses Motiv wird mehrfach variiert: Luther mit Hemd, in einer Nische usw., als Kupferstich, weil dieser hohe Auflagen ermöglichte. Und daraus erwuchs die weite Verbreitung, die Werbung für die Reformation mit sich brachte, gar Propaganda. Martin Luther, der Reformator, ist in Wort und Bild überall präsent. Cranach illustriert Luthers Schriften, seine Flugblätter und Bücher, die alle in hohen Auflagen erscheinen. Buchdruck und Cranach werden für die Reformation enorm wichtig.

Daß es auch viele Kopien dieses Kupferstichs gibt, ist leicht daran zu erkennen, daß identische Abbildungen seitenverkehrt auf dem Markt waren, was an der Technik des Kupferstichs liegt. Diese Kopien werden aber auch vom jeweiligen Kopierer verändert: der Reformator, vom heiligen Geist beflügelt, mit einer Art Heiligenschein dargestellt usw.

In der zweiten Phase wird der Mönch vom Junker Jörg abgelöst. Kurfürst Friedrich der Weise hatte Luther auf der Rückreise vom Wormser Reichstag entführen und vor Kaiser und Papst in Sicherheit bringen lassen. Auf der Wartburg übersetzte „Junker Jörg“ dann in nur 11 Wochen das NT. In diesen Darstellungen wird die konventionelle Ikonographie angewendet: der bärtige Junker verfügt über ein Schwert.

Erst in der dritten Phase dominiert Martin Luther, der Reformator, nun nicht mehr der hagere und asketische Mönch, sondern der wohlgenährte Reformator und Ehemann, dem das Bier gut schmeckt, das sein „Herr Käthe“ ihm braut.

Abb. 8: Doppelporträt Martin  & Katharina Luther

Cranach malt Hochzeitsbilder und eine Reihe Doppelporträts der Luthers. Etwa alle zwei Jahre entsteht so ein Gemälde, in der Form eines 9,5 cm großen Medaillons, immer mit den typischen Merkmalen des Arbeitens mit Schablonen: während die Gesichter altern, bleibt ihre Kleidung gleich. Ein Doppelporträt gibt es auch von Luther und seinem wichtigsten Mitarbeiter Philipp Melanchthon. Es steht ganz in der Tradition der Doppelporträts des Ehepaars Luther, indem es die enge Beziehung zweier Menschen zum Ausdruck bringt.

Die Reformation:

Lucas Cranach der Ältere besitzt quasi ein Monopol auf Martin Luther und die Reformation.

Cranach ist der Drucker und Illustrator der Reformation, ohne ihn hätten wir keine bildliche Vorstellung jener Zeit, sei es von frühen Bibeln, Flugblättern oder Porträts. Vor allem die farbigen Illustrationen waren sehr aufwendig, da Text und Bild nicht zusammen gedruckt werden konnten und von Hand koloriert werden mußten. Eine Auflage von 3000 Stück verlangte also eine gewaltige Kraftanstrengung, und das mußte zu einem erschwinglichen Preis geschehen. Wer lesen konnte, konnte sich in der Regel so etwas leisten. Durch Cranach wurde die Reformation zum ersten großen Medienereignis der Geschichte. Zusammen mit den vielen anderen Druckern und Nachahmern und Kopierern wurden Graphiken und Flugschriften zu Hunderttausenden gedruckt und vertrieben. Was natürlich einen gewaltigen Alphabetisierungsschub erzeugte.

Abb. 9: und die Ehebrecherin

Daß Cranach auch thematisch revolutionär sein konnte, zeigt z.B. sein Gemälde „Christus und die Ehebrecherin“, die, wie es biblisch belegt ist, gesteinigt werden soll. Der häßliche Mann am linken Bildrand hält die Steine bereits in der Hand, doch Jesus begnadigt sie. Oder das Bild mit Christus und einer Gruppe Kinder. Sie sind in seiner Darstellung nicht mehr mit der Erbsünde belastet, sündige Menschen von Geburt an, sondern unschuldige Kindlein, reine Seelen. Eine radikale Abkehr von der tradierten katholischen Lehre.

Es muß immer wieder betont werden, daß Cranach kein Ideologe war, sondern in seinem eigenen Verständnis Handwerker. Weil seine Brotherren, die Kurfürsten, die vermutlich größte Reliquiensammlung der Welt hatten, die sie im wohl ersten „Museum“ in Deutschland ausstellten, damit ihre Untertanen dorthin pilgern konnten, stellte er dafür Reklamezettel her. Das war ein Auftrag wie andere, Reformation und Freundschaft mit Luther hin oder her. Dieser Handwerker – Künstler bewies immer wieder seine Unabhängigkeit von Kirche, Bischof, Kaiser, den Mächten seiner Welt. Und begann ganz beiläufig, wenn auch nicht bewußt, die Emanzipation des Künstlers vom Handwerk und leitete ein völlig neues Selbstverständnis des Künstlers ein.

Abb. 10: Lucas Cranach im Alter von 77 Jahren, von seinem Sohn Lucas vollendet oder gemalt

Wie anregend der Vortrag war, zeigte sich anschließend in der Diskussion, in der ganz unterschiedliche Themen zur Sprache kamen: individuelle Beobachtungen an Gemälden, „Hexen“, Gegenreformation, Reformation oder Revolution, Luther und die Ablaßbriefe, 95 Thesen an der Kirchentür oder nicht, Maler und Handwerker, Nacktheit – Keuschheit – Unschuld in den Gemälden. Ein ergiebiger Abend.

Nachbemerkung: Am Ende seines Vortrags wies Herlemann auf eine lustige und bizarre Einzelheit hin. Teil des Lucas-Cranach-Grabes in Wittenberg ist eine Tafel, die ein Versehen oder eine Flüchtigkeit oder einen Fehler enthält. In der lateinischen Umschrift des Grabsteins in Wittenberg heißt es (ins Deutsche übersetzt): „Der schnellste Maler und Wittenbergs Bürgermeister, der seiner Tugend wegen drei sächsischen Kurfürsten und Herzögen lieb und teuer war.“ (Nach Meinung einiger Forscher beruht das Wort celerrimus – der schnellste – allerdings auf einem Schreibfehler in der Ausführung und sollte eigentlich „celeberrimus“ – der gefeiertste – heißen.

KH

Abb. 1: Klaus Holzer

alle anderen Abb. entstammen Wikipedia

Claude-Canaday-Straße & Bloomfieldstraße

von Klaus Holzer

Zwei Straßen auf der Lüner Höhe, es gibt sie seit 1978/79, dicht beieinanderliegend, obgleich sie nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, außer vielleicht, daß beide englisch klingen. Wie ist es zu diesen beiden Straßennamen gekommen, und warum ist es richtig, daß sie direkt nebeneinander liegen?

10. April 1945. Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands nach dem verlorenen Krieg stand noch einen Monat lang aus, Kamen jedoch kapitulierte an diesem Tag, hißte die Weiße Fahne und ergab sich den Amerikanern. Es begann eine harte, entbehrungsreiche Zeit mit Wohnungsnot und Mangel an allem, was die Menschen zum Leben brauchten. Alles verschärft durch den Zuzug von Flüchtlingen aus den Ostgebieten. Es ging einfach um das nackte Überleben.

Kamener Bürgermeister war der seit 1944 bis zum 19.5.1945 amtierende Ernst Fromme. Die britische Militärregierung, die inzwischen das Kommando von den Amerikanern übernommen hatte, setzte am 19.5.1945 Gustav Adolf Berensmann ein, der bereits von 1924 bis 1932 Kamener Bürgermeister gewesen war. Bevor Gustav Adolph Wieczoreck im Herbst 1946 Bürgermeister wurde, übernahm der dienstälteste Beamte der Kamener Stadtverwaltung, der ehemalige Stadtbaurat Gutsav Reich kommissarisch die Leitung der Stadt.

Abb. 1: Gruß Claude Canadays vom 28. Oktober 1948

In dieser Funktion erreichte ihn aus der Bezirkshauptstadt Arnsberg die Anfrage, ob Kamen gewillt sei, Hilfe aus Bloomfield, einem 16.000-Einwohnerstädtchen (das stellte sich später als Übertragungsfehler heraus, man hatte eine Null zuviel angehängt; vgl.a. die Entstehung der Partnerschaft mit Montreuil-Juigné) in Nebraska/USA, anzunehmen. Dort gebe es einen Farmer namens Claude Canaday, der sich vorgenommen habe, in Deutschland eine ausgebombte Stadt und ihre darbenden Einwohner in der schweren Nachkriegszeit mit Hilfslieferungen zu unterstützen. Reich sagte ja, und es setzte eine lange Reihe von Carepaket-Lieferungen nach Kamen ein. Bloomfield übernahm für Kamen eine Stadtpatenschaft, die Kamen über die schwere Nachkriegszeit hinweghalf und immerhin dazu führte, daß Reichs Tochter und einer seiner Söhne noch im Sommer 1968 nach Bloomfield fuhren und den Kontakt erneuerten. Jahrzehntelang gab es diesen Kontakt, der aber u.a. auch wegen der großen Entfernung zwischen Westfalen und Nebraska niemals richtig ins Laufen kam.

Jetzt aber dürfte es außer diesen beiden Straßennamen kaum noch Gemeinsames zwischen Kamen und Bloomfield geben. Alle Mitglieder der Familie Canaday, die direkten Kontakt mit Kamen hatten, und besonders mit der Familie Reich, sind tot: Claude Canaday, der sie aus tiefem Mitgefühl für die notleidenden Kamener 1946 begründete, sein Enkel Paul 2015, und jetzt als letzter Julian, Claudes Sohn, der am 7. Juli 2016 starb.

Abb 2: von rechts nach links: Herbert Reich, Reinhild Reich, Grace Canaday, Claude Canaday, der Bürgermeister Bloomfields und seine Frau betrachten gemeinsam das Geschenk an die Gastgeber, einen Druck der ältesten bekannten Darstellung Kamens aus den 1840er Jahren, von Süden her gesehen.

Gustav Reich starb 1970, sein Sohn Herbert am 17. Februar 2016. Reinhild Reich, hochbetagte Tochter Gustav Reichs, ist die letzte Lebende, die die alten Bande noch mitgestaltete und bei einem Besuch in Nebraska 1968 für eine Weile intensivierte. Sie betrachtet die frühere Patenschaft, die für sie immer eine Partnerschaft war, als erloschen, da ihrer Ansicht nach auf Kamener Seite kein Interesse daran mehr vorhanden ist.

Robert Badermann, Leiter des Kamener Stadtarchivs, das über zwei dicke Aktenordner zu diesem Thema verfügt, gibt auf Nachfrage an, man habe Bloomfield zu seinem 125jährigen Bestehen gratuliert, doch sei keine Reaktion erfolgt. Es ist also wohl so, daß auf beiden Seiten nicht mehr viel vorhanden ist, das eine engere Beziehung zwischen den beiden Städten erlaubte.

Nachdem also fast alle direkt Beteiligten gestorben sind und die Nachkriegszeit lange zurückliegt, ist es vielleicht auch kein Wunder, daß diese Beziehung zu Ende gegangen ist. Die Besuche in beiderlei Richtung waren immer auf einen kleinen Personenkreis beschränkt und waren auch sehr selten. Die junge Kamener Generation weiß von der Großzügigkeit Bloomfields nichts. Kamener, die von den Lebensrettungsaktionen Claude Canadays und seiner Mitbürger für den besiegten Feind in Deutschland profitierten, gibt es nur noch sehr wenige, und die sind alt. Und die räumliche Entfernung trug das Ihre zur zeitlichen bei. Ein Kapitel Kamener Nachkriegsgeschichte scheint abgeschlossen.

KH

Abb. 1 & 2: Reinhild Reich

Einladung zum 13. Zeitzeichen des KKK

Der Maler Lukas Cranach im Zeitalter der Reformation

Wie kaum ein anderer Künstler seiner Zeit ist Lukas Cranach der Ältere (1472-1553) mit der Reformation  verbunden. In seinen Bildern spiegeln sich die Themen des reformierten Christentums. In
seinen Drucken und Flugschriften kritisiert er die Institution Kirche. Seine Portraits von Martin Luther prägen bis heute unser Bild des Reformators. Doch Cranach ist weitaus mehr als nur der Maler der Reformation. Er arbeitet ebenso  für die „alte Kirche“ und deren Vertreter.  Seine Bilder zeigen auch die Hinwendung zur Antike. Alles das macht ihn zu einem der erfolgreichsten und produktivsten Künstler der Zeit. Gerade in Cranachs Werken wird der kulturelle und gesellschaftliche Umbruch der Zeit deutlich.

Der Referent des Abends ist Dr. Falko Herlemann, der Kunstgeschichte, Philosophie und  Archäologie in Bochum studierte, mit Magister Artium und Promotion abschloß. Er ist durch zahlreiche Publikationen zur aktuellen Kunst hervorgetreten, hält Vorträge, führt in Ausstellungen ein und ist als Kurator, Journalist und Dozent für Kunstgeschichte am IBKK Bochum tätig.

Termin: Donnerstag, 27. April 2017, 19.30 Uhr, im Museum Kamen, Bahnhofstraße 21 

Eintritt: € 3,00

KH

 

„Die Primitiven“

von Klaus Holzer

Nach der 1000 Jahre währenden kulturellen Starre, nach der totalen Niederlage Deutschlands 1945, nachdem der Wiederaufbau des zerstörten Kamens tatkräftig angegangen worden war und das begann, was später das „Wirtschaftswunder“ genannt werden sollte, hatte man auch in Kamen den Willen und die Zeit, sich Neuem zu öffnen. Nach der pompös-kitschigen Kunst der Nationalsozialisten griffen junge Kamener Künstler begierig die meist aus den USA herüberströmenden neuen Ideen auf und widmeten sich der abstrakten Kunst, trafen jedoch auf viel Unverständnis (vgl. Artikel „Die Gruppe Schieferturm“).

Und auch im Alltagsleben der 1950er Jahre tat sich viel. Der Lebensstil vor allem der Jugend änderte sich, der der Alten wurde offen abgelehnt. Zu Hause stand die Tütenlampe neben dem Nierentisch, an einer repräsentativen Stelle in der „guten Stube“ die Musiktruhe. Radio war das normale Medium für die ganze Familie, an Sonn– und Feiertagen wurden die fünf oder sechs Schallplatten aufgelegt, die man besaß. Viele besaßen auch schon ein neues Auto, natürlich einen Käfer, was denn sonst? Man wußte: „der läuft und läuft und läuft“! Und allmählich bürgerte es sich ein, damit in den Urlaub zu fahren, besonders gern nach Rimini auf den „Teutonengrill“ an der Adria. Wer noch keinen Käfer hatte, fuhr mit Touropa nach Oberstdorf oder Ruhpolding.

Der Toast Hawai war der kulinarische, weil exotische, Höhepunkt vieler Speisekarten. Zu Hause gab es jetzt oft was Neues zum Nachtisch: Ananas oder Mandarinen aus Dosen, am besten mit Schlagsahne, die oft von der italienischen Eisdiele am Markt geholt wurde. Manchmal auch Joghurt, von dem man wußte, daß Ilja Rogoff so uralt geworden war, weil er ihn jeden Tag mit Knoblauchpillen aß. Und zum Essen zu Hause (Ausgehen zum Essen gab es so gut wie nicht) leistete man sich nun einen guten Tropfen lieblichen Weins. Kam die Verwandtschaft am Sonntagnachmittag zu Besuch, gab es nach Kaffee und Kuchen Eierlikör oder Eckes Edelkirsch(likör) für die Frauen, die Männer zogen Asbach Uralt („Im Asbach Uralt liegt der Geist des Weines“) Chantré vor. Bei Gesellschaften gab es Erdbeerbowle. Man war wieder wer. Vor allem nach der Fußball-WM 1954, wo alle Zimmermanns „Rahn müßte schießen! Rahn schießt! TOOOR! TOOOR! TOOOR!“ hörten.

Die Jugend saugte begierig alles Amerikanische auf. Man kaute Kaugummi, ganz lässig. Als Musik kam der Rock’n Roll auf, ein ganz neuer Klang und Rhythmus, zu dem man tanzen konnte, wozu immer auch akrobatische Einlagen gehörten. Bevor Elvis Presley bekannt wurde, waren es vor allem Bill Haley and His Comets, die für Furore sorgten. Wer war nicht elektrisiert von Liedern wie; „Rock Around the Clock“ und „See you later, Alligator“? Und Elvis Presleys „Shake, Rattle and Roll“? Im Kino waren Filme wie „Die Saat der Gewalt“, „Jenseits von Eden“, „…denn sie wissen nicht, was sie tun“ und „Giganten“ Erfolge, vor allem wegen eines jungen Schauspielers, der alles zu verkörpern schien, wonach sich viele sehnten: den jugendlichen, aufsässigen Helden, der sich nicht unterkriegen ließ von den etablierten Mächten: James Dean. Viele Jungen trugen seine Frisur und seine Hosen, die damals „Nietenhosen“ hießen und der Jugend vorbehalten waren. Heute sind sie als Jeans an Jung und Alt gleichermaßen zu sehen, aber nicht immer zu bewundern. Für Mädchen (die damals noch nicht „junge Frauen“ waren) kamen natürlich Hosen gar nicht in Frage, das war „unmädchenhaft“, sie trugen Kleid oder Rock, und wenn sie sich „feinmachten“ oder in die Tanzstunde gingen, immer mit Petticoat, der sich 10 Jahre lang bis zum Siegeszug des Minirocks hielt.

Da die allermeisten Jugendlichen schon ab dem Alter von 14 Jahren arbeiteten, war Ausgehen auch für sie selten, und wenn, dann ging’s in den italienischen Eissalon am Markt 17 oder in die Milchbar, die in der Bahnhofstraße 58 unter den Arkaden war. Das war etwas so Neues, daß Oberstudiendirektor Günter Schwabe des hiesigen Städtischen Neusprachlichen Gymnasiums per Rundlauf durch alle Klassen bekanntmachte, daß sich kein Schüler seiner Anstalt dort sehen lassen dürfe, bei Androhung eines Schulverweises! Verruchter Ort! Und dabei gab es dort keinen Alkohol, sondern nur Milchmixgetränke! Und hier, wie auch in allen Kneipen im „sündigen Kamen“, von denen es wahrhaftig genug gab, sorgten Musikboxen dafür, daß Bill Haley und, mehr und mehr, Elvis Presley ständig zu hören waren. Für 20 Pfennige gab es eine Single, für 50 Pfennige drei zu hören. Und dazu schlürfte man seinen Milk Shake per Strohhalm, der oft genug tatsächlich noch aus Stroh war.

Tja, das war’s mit der Unterhaltung für Jugendliche in Kamen, außer Sport, den es immer und überall gab. Um nicht nur herumzuhängen, suchten alle nach nicht-sportlichen Freizeitbeschäftigungen. Da traf es sich gut, daß in einer Jungenklasse des Gymnasiums (von Koedukation war keine Rede, Jungenklassen waren die – klar – a, Mädchenklassen die – natürlich – b) mehrere Schüler saßen, die verschiedene Instrumente spielten und sich eines Tages einfach zusammensetzten und gemeinsam spielten, in der merkwürdigsten Besetzung, von der die europäische Musikgeschichte weiß:

Gunter „Einstein“ Hagemann– Trompete, Waldhorn

Dietmar „Lutz“ Scherff– Klavier

Klaus „Ede“ Holzer– Akkordeon

Reinhard „Nelly“ Elger– Gitarre

Hans Günter „Justus“ Liebich– Kontrabaß

Theo van Vügt– Schlagzeug

 

Anfangs durchaus angemessen war wohl der Name, den die Gruppe sich gab: „die primitiven“. Was die sechs spielten, ist nicht überliefert. Und auch nicht, ob sie als einheitliche Combo auftraten, doch zeigen alte Photos, daß zu ihrer Musik eifrig getanzt wurde. Ihr erster Auftritt war beim Klassenfest der UII a (Untersekunda, heute Klasse 10) am 7. Dezember 1957 im Hotel Biermann (heute Hotel „Stadt Kamen“) am Markt. An Mädchen für solche Veranstaltungen zu kommen, war gar nicht schwer, gehörte doch der Tanzkurs zu den quasi Pflichtveranstaltungen, die Jungen der U II a (Untersekunda, Klasse 10) lernten Tanzen mit den Mädchen der OIII b (Obertertia, Klasse 9).

Was sie spielten und wie diese Instrumente miteinander harmonierten, ist ebenfalls nicht überliefert. Für einen ganzen Abend reichte das Repertoire nicht, zwischendurch wurden Schallplatten aufgelegt, damit die Musikusse auch tanzen konnten. Und es herrschte auch Unsicherheit, ob man eventuell andere Instrumente brauchte. Es wurde experimentiert. Einer probierte dieses aus, ein anderer ein anderes.

Aber diese Musik, zufällig und „stillos“, konnte auf Dauer nicht befriedigen. Sie suchten nach Neuem und fanden es, wie die gleichaltrigen bildenden Künstler der „Gruppe Schieferturm“, in dem, was aus Amerika kam, dort der abstrakten Kunst, hier dem Jazz, den sie konsequent „jazz“ und nicht „dschäss“ aussprachen. Zwar war die vorherrschende Richtung des Jazz in den 1950er Jahren bereits der Bebop, doch so modern wollten die Jungs nicht sein. Ihnen gefiel der traditionelle Jazz, der mitreißende Dixieland, besser. Er ist glatter, eingängiger und, weil schwungvoller, besser zum Tanzen geeignet als der Bebop, also genau das, was Jugend zu der Zeit suchte. Und noch etwas, das vor allem heutige Jugendliche befremden dürfte: es gab keine Mikrophone, keine Verstärker, keine Lautsprecherboxen, keinen Soundcheck, kein Mischpult, an dem ein Techniker für die „richtige“ Verteilung der Stimmen sorgte. Und Schummeln per Karaoke also auch nicht. Alles mußte echt sein, das, was das Publikum hörte, mußten die Musiker auf der Bühne direkt produzieren.

Was ist das eigentlich, Dixieland Jazz? Im Kern ist das eine epigonale Musikgattung. Das Original war der „schwarze“ New Orleans Jazz, der seit den 1890er Jahren von Marching Bands bei den Beerdigungen (Funeral Marches) und dem Mardi Gras (Karneval in New Orleans/Louisiana, das ursprünglich eine französische Kolonie war) entstanden war und wesentliche Elemente des Blues enthielt, z.B. das 12-taktige Harmonieschema. Die bekanntesten Bands waren Joe „King“ Oliver’s Creole Jazz Band (Kreolen brachten das spanisch-französische Element in diese Musik), Kid Ory’s Olympia Band, „Jelly Roll“ Morton’s Red Hot Peppers (eher am Ragtime orientiert), die New Orleans Rhythm Kings und, natürlich, Louis Armstrong’s Hot Five und Hot Seven.

Diese Marching Bands begründeten auch die typische Instrumental-besetzung, mußten es doch Instrumente  sein, die sich beim Marschieren mitführen und spielen ließen: die Trompete bzw. das Kornett führte, spielte die Melodie, die bewegliche Klarinette umspielte sie, die Posaune gab das harmonische Fundament, setzte glissando-ähnliche Schleiftöne und unterstützte die Rhythmusgruppe, die zumeist aus Banjo, manchmal auch Gitarre, Tuba bzw. Sousaphon und Schlagzeug bestand. Wenn in geschlossenen Räumen gespielt wurde, ersetzte oft der Kontrabaß das Sousaphon und das Klavier wurde zum Mittler zwischen Melodie– und Rhythmusgruppe. Wichtig war, daß die Schläge auf 2 und 4 kamen, nicht auf 1 und 3, wie in der hiesigen Musik.

Diese Musiker begründeten den Ruhm so vieler „Themen“ wie Tiger Rag, When the Saints go Marchin’ in, St. Louis Blues, At the Jazz Band Ball, Darktown Strutters’ Ball, Memphis Blues, Tin Roof Blues, Muskrat Ramble. Besonders berühmt, und ein Muß für jeden Klarinettisten, der auch nur eine Spur Selbstachtung hatte, war das Klarinettensolo in High Society von Alphonse Picou, einem kreolischen Musiker aus New Orleans. Was natürlich den Klarinettisten der „primitiven“ anstachelte, zu üben, zu üben, bis es saß. Und der Ton durfte nicht „rein“ sein. Um möglichst authentisch zu sein, setzte er seine Stimmbänder als begleitendes Brummen beim Klarinettenspiel ein. Das klang erwünscht rauh.

Weiße Musiker fanden diese „schwarze“ Musik so mitreißend, daß sie sie imitierten, aber gleichzeitig glätteten. Die hieß dann Dixieland Jazz nach der Bezeichnung für die Südstaaten der USA: Dixieland. Und der wanderte nach Norden, wurde zum Chicago Jazz, aber auch in New York heimisch.

Und mit den amerikanischen Siegertruppen kam er nach Deutschland und somit auch nach Kamen. Im September 1958 ging’s los, im „Bandkeller“ im Haus Mühlenweg 1 (heute Mühlentorweg). Und die anfangs fünf Jungen („Einstein“ Hagemann war am Ende der Untersekunda mit seiner Familie weggezogen) merkten schnell, daß so etwas ohne regelmäßiges Üben nicht ging. Zu Hause mußte jeder versuchen, sein Instrument technisch so gut zu beherrschen, wie es eben ging, bei der wöchentlichen gemeinsamen Probe einigte man sich auf die Auswahl der Stücke und das Ensemblespiel. Wie ging das vor sich? Jazz wurde ja nicht in Noten niedergeschrieben, die man einfach kaufen konnte, und dann spielte man vom Blatt ab. Jazz ist eine Improvisationsmusik, d.h., es gibt wohl eine melodische und harmonische Struktur, die einem Stück zugrundeliegt, vor allem beim Dixieland, doch muß jeder einzelne damit kreativ umgehen können, diese Melodie paraphrasieren, abwandeln, frei umsetzen, kurz, etwas Neues daraus machen.

Der erste Schritt war immer: man mußte ein Stück hören und nachspielen. Also saß jeder zu Hause vor dem Plattenspieler und hörte und hörte und hörte Jazz, bis verzweifelnde Eltern das Ende der Veranstaltung durchsetzten. Und regelmäßig saßen alle vor dem Radio und lauschten der obersten Autorität in Sachen Jazz in Deutschland, dem Journalisten und Jazzkritiker Joachim

E.(rnst) Behrend. Der hatte auch das damals in Deutschland maßgebliche Buch über die Geschichte des Jazz verfaßt, „Das Jazzbuch“ von 1953, das für den einen oder anderen „primitiven“ zur Bibel und ständigen Lektüre wurde. Und wenn die Trompete die Melodie „draufhatte“, war es vor allem Nelly Elger, der sich die Mühe machte, die Harmoniefolge zu ergründen, sofern es nicht der einfache 12-taktige Blues war. Dann kam der entscheidende Augenblick, zu dem man aus der Schallplattenmusik etwas eigenes machen mußte. Jetzt mußte das neue Stück arrangiert werden: Melodieführung, Tutti, Soli, Chorus, Breaks, Dynamik usw.

Vorbilder für die Kamener Jazzer waren, natürlich, Louis Armstrong und seine Hot Five und Hot Seven, besonders sein Posaunist Jack Teagarden hatte es ihnen angetan. Er konnte beim Übergang von einer Phrase zur nächsten seine Posaune so markant über eine Quart oder sogar Quint „hochziehen“, daß allen ganz heiß wurde. Dauernd wurde der arme Justus Liebich bekniet, genau so zu spielen. Der aber war auf dem Weg, Berufsmusiker (er landete später bei den Bamberger Symphonikern!) zu werden und befürchtete, seinen „Ansatz“ (Stellung der Lippen auf dem Mundstück) zu beschädigen. Er „entschädigte“ die anderen dafür mit einem Lippentriller („Das ist extrem schwer“), den diese jedoch für nicht jazzmäßig hielten, ob schwer oder nicht. Zu den Vorbildern gehörten auch Eddie Condon, Pete Fountain und die Dukes of Dixieland. Dazu der damals schon in Paris (Paris hatte seinerzeit eine überaus lebendige Jazzszene. Jazz in Jazzkellern und Existenzialismus gehörten zusammen) lebende schwarze Amerikaner Sidney Bechet mit seinem Sopransaxophon.

Selbstverständlich gab es auch europäische Dixieland-Vorbilder. Das waren meistens Engländer: Chris Barber’s Jazz Band (bekanntestes Stück: Ice Cream), Acker Bilk (schnell als etwas süßlich empfunden), Ken Colyer (zum Big Band Jazz neigend), Monty Sunshine (der von Chris Barber kam und mit seinem „Petite Fleur“ einen Verkaufserfolg hatte), Kenny Ball (der aber nicht die Popularität der anderen erreichte), und ganz besonders auch die holländische Dutch Swing College Band (die für die Kamener unerreichtes Ziel blieb). Später auch noch die dänische Papa Bue’s Viking Jazzband (die aber schnell langweilig zu werden drohte, weil ihre Musik zu glatt war).

Daß Musik verbindet, eine Binsenweisheit, zeigte sich fast 30 Jahre später. Als der Klarinettist Mitte der 80er Jahre auf einer Reise in Nordengland war, verbrachte er auch zwei Nächte im City Hotel in Leeds. Als der Wirt an der Rezeption den Eintrag im Gästebuch las, stutze er und fragte: „Sie sind aus Bergkamen? Das kenne ich. Da habe ich schon mehrmals gespielt.“ „Was denn?“ „In einem Gasthaus auf dem Lande, Schmulling, glaube ich, hieß das. Ich bin Monty
Sunshine. Ich habe dort mit Chris Barber gespielt.“ Das gab einen herrlichen Abend voller Erinnerungen.

 

Seit Herbst 1958 wurde in neuer Besetzung musiziert:

Klaus „Ede“ Holzer (Klarinette, cl., Bandleader, bl. Damit war nicht viel Arbeit verbunden, man mußte bloß den Takt und damit das Tempo vorgeben, alles andere war gemeinsame Planung: wo treten wir auf, was spielen wir usw.),

Lothar Emminghaus (Trompete, tr.),

Hanns Günter „Justus“ Liebich (Posaune, tb.),

Dietmar „Lutz“ Scherff (Klavier, p.),

Reinhard „Nelly“ Elger (Banjo & Gitarre, bjo, g.),

Werner „James“ Morck (Baß, b.) und

Theo van Vügt (Schlagzeug, dr.).

Die Trompete wurde meist „Horn“ genannt, die Klarinette „Wurzel“, das Schlagzeug „Schießbude“. Der Name „die primitiven“ wurde nicht geändert. Zum einen war er eingeführt, zum anderen wollte man sich auch bewußt von all den Dixielanders, Stompers und Ramblers absetzen.

 

Es wurde intensiv geprobt, alle nahmen ihre Musik sehr ernst. Z.B. ist noch ein Zettel erhalten geblieben, mit dem sich der Posaunist Justus entschuldigte: „Habe heute von 2 – 6.00 in Dtmd. Probe. Kann also erst um 18.45 in Kamen sein. Entschuldige mich. Hanns.“ Am 30. Oktober 1958 wurde auch die Lokalpresse auf die neue Jazzband aufmerksam: zum ersten Mal in der Zeitung! In der Westfalenpost lasen die Kamener damals, daß diese Band beweise, daß sie keine Halbstarken seien, sondern eine „Rasselbande, die ihr Leben zu meistern versteht“. Alte Photos belegen, daß die Jungs zu allen Veranstaltungen Anzug, Hemd und Schlips trugen! Als Sechzehn–, Siebzehnjährige! Selbst, wenn es zum „Jammen“ in die Natur ging!

Im Frühjahr 1959 gab es den ersten, noch halböffentlichen, Auftritt in dieser neuen Formation, beim Klassenfest der OIIIb (Obertertia Mädchen). Doch am 30.4.1959 war es endlich soweit, der erste „richtige“ öffentliche Auftritt: Jazzbandball im Hotel Biermann am Markt. Die Eintrittskarten wurden selbst hergestellt. Der Besuch war gut, die Resonanz auf die Musik auch. Und dann ging’s Schlag auf Schlag: Jazzbandbälle am Abend, Jazztanztees (verbindet dieses Wort nicht wunderbar das Althergebrachte mit dem Modernen?) am Nachmittag. Es gab Veranstaltungen mit 250 – 300 Besuchern! Woher nahm diese „Rasselbande“ bloß die Courage, Hotelsäle auf eigenes Risiko anzumieten? Wenn etwas schiefgegangen wäre – Geld für einen wie auch immer gearteten Schadenersatz war nirgends in Sicht. Als Lothar Emminghaus die Band verließ, kam Dieter „Ditz“ Hanke als neuer Trompeter hinzu, und Peter Paul Schulze, allgemein „Beppo“ oder „Meier“ gerufen, mit dem Helikon, das er vom katholischen Posaunenchor geliehen hatte. Dort gab es auch Stunden, spielen mußte er dort natürlich auch. („Meier“ war am flexibelsten, er sprang immer dort ein, wo Not am Mann war und versuchte sich an der Gitarre, übernahm auch das Klavier, nahm immer wieder Stunden).

Inzwischen wuchs der Ruf der Gruppe, Engagements bei Vereinen und Organisationen folgten: SGV-Jugend, Landjugend Heeren, Kamener Skigilde, DAG-Jugend, DGB-Jugend, Junge Union, Lüner Jugendring, die Gemeinde Fröndenberg zum Besuch aus der französischen Partnerstadt Bruay, aber auch das Schulfest des Gymnasiums Kamen, über das die Westfälische Rundschau berichtete: „Als kurz nach Mitternacht die letzten flotten Tanzrhythmen verklangen, machte die Ansicht bei allen Teilnehmern bereits die Runde, eines der schönsten Schulfeste der letzten Jahre erlebt zu haben.“

Natürlich spielte die Band beim traditionellen Bücherverbrennen der Abiturienten 1960 auf dem Markt.

Und als im Westentor-Theater, einem der drei (!) Kamener Kinos, der Film „Jazz-Banditen“ gezeigt wurde, spielten „die primitiven“ als Vorprogramm.  Und es gab auch Privateinladungen. Z.B. spielten sie einmal in einer prächtigen Villa in Schwerte, von wo besonders viele besonders hübsche Mädels in Erinnerung blieben.

Immer wieder wird aus der Berichterstattung in den Kamener Zeitungen deutlich, eine wie fremde Musik der Jazz damals war. Es gab keinen Artikel, der nicht kurz erläuterte, was Dixieland Jazz sei, worin der Unterschied zum Modern Jazz bestehe, in dem Verwunderung darüber ausgedrückt wurde, daß auch Erwachsene zu solchen Veranstaltungen kamen. Und sie nannten den Jazz damals, halb das Fremde anerkennend, halb abwertend „Negermusik“, brachten ihn auch mit den wirklichen oder vermeintlichen Auswüchsen im Umfeld des Rock’n Roll in Verbindung, zählten doch jugendliche Musiker sonst generell zu den „Halbstarken“.

Natürlich wäre diese Band zerbrochen, wenn ihre Mitglieder sich nicht auch privat gut verstanden hätten. Gemeinsam fuhren sie in die Ferien, mit dem Fahrrad an den Möhne–,  den Sorpe– und den Edersee. Nie ohne Instrumente, selbst im Wald, beim Zelten, wurde gespielt.

Der Aufstieg ging weiter, nicht nur lokal, auch regional. Am 11. Oktober 1959 trat die Band bei einem Konzert in Schwerte auf, gemeinsam mit dem international bekannten Dortmunder Pianisten Günter Boas, der sogar schon mit der Jazzlegende Louis Armstrong zusammen gespielt hatte.

Außer Günter Boas mit seiner Rhythmusgruppe waren auch dabei: Papa Joe’s Jazz Babies, das Modern Jazz Quintet, „die primitiven“. Die hatten Erfolg mit folgenden Titeln: Sheik of Araby, Bluin’ the Blues, Thriller Rag, Down by the Riverside, Careless Love, The Eyes of Texas are Upon you. Vor diesem Konzert war Dietmar Scherff ausgeschieden, Beppo Schulze trat an seine Stelle, haute in die Tasten.

Es folgte „Strippe“ auf „Strippe“: Konzert, Tanz, Jam Session. Wolfgang Baer, Leiter des Kamener Bildungswerks (heute VHS; Wolfgang Baer trat später mit Jürgen von Manger auf, war sein ständiger Begleiter auf den Ruhrgebietsbühnen; auch „die primitiven“ traten einmal mit Manger auf, im damaligen Westentor-Theater, einem Kino an der Lüner Straße) lud im Herbst 1959 Glenn Buschmann (Kapellmeister und Klarinettist des Kammerorchesters der Stadt Dortmund, aber auch Jazzer) nach Kamen ein, um den Kamener Jungs etwas mehr Theorie und angeleitete Praxis angedeihen zu lassen: Harmonielehre, Improvisation, Ensemblespiel. Und „die primitiven“ lernten begeistert, ihr Bandname war inzwischen nur noch ironisch zu verstehen. So war es vielleicht gerechte Belohnung, daß sie das neue Jahr 1960 mit Jazz bei Biermann einleiten durften, zusammen mit dem Glenn-Buschmann-Quartet. Um Mitternacht wurde die Musik kurzerhand aus dem Saal nach draußen auf den Markt verlegt. Aus allen Kneipen rundherum kamen die Gäste ebenfalls nach draußen und tanzten. Kein Wirt ließ es sich nehmen, mit einem Tablett voller Bier zu kommen, und die Musiker griffen freudig zu. Eine Dreiviertelstunde lang war auf dem Markt eine Bombenstimmung.

 Und Wolfgang Baer lud die Wupper City Stompers und die Slant Tower Town Dixielanders, eine neue Kamener Formation, zusammen mit den „primitiven“ zum Konzert am Samstag, 2. April 1960 im Gymnasium Kamen ein. Die Aula im alten Gebäude (heute Diesterwegschule) war rappelvoll. Und weil die Bands sich gerade bei einer gemeinsamen Jam Session nach dem  Konzert

kennengelernt hatten, verabredete man sich für den Sonntagmorgen: bei wunderschönem Wetter gab es für die Kamener ein Gratiskonzert auf dem Markt, dem sogar eine Polizeistreife im Dienstwagen mit Vergnügen lauschte, statt wegen ruhestörenden Lärms einzuschreiten, auch wenn Wilhelm Busch einst dichtete: „Musik wird oft als Lärm empfunden, weil sie mit Geräusch verbunden.“ Und es tauchte ein inzwischen regelmäßiger Gast auf, Walter Schipper, ein Kamener, der im Dortmunder Sinfonieorchester als Geiger beschäftigt war, in seiner Freizeit aber als Trompeter viel populäre Musik spielte und u.a. bei den Tanztees der „primitiven“ regelmäßig mit seinem „Horn“ erschien und sich mit einem besonders spektakulären Stück einführte: „Cherry Pink and Apple Blossom White“, das Pérez Prado mit seinem Orchester 1955 populär gemacht hatte.

Das Beispiel der „primitiven“ machte Schule. Die Slant Tower Town Dixielanders spielten guten Jazz in der Besetzung Escher (Trompete); Jürgen Neff (Posaune), Herbert Storin, (Klarinette), Karl-Ernst Pekoch (Schlagzeug), Heiner Busch (Piano), Bille (Gitarre & Banjo) und Dietmar Scherff (Tuba). Und fast gleichzeitig gründeten sich auch die „Kellerasseln“: Norbert Köckler (Trompete), Fritz Borgmann (Klarinette), Rüdiger Noltmann (Posaune), Jochen Barz (Klavier), Reinhard Heimel (Gitarre) und Friedrich Schwakenberg (Schlagzeug).

Beim Jazztanztee am 10. Juli 1960, zusammen mit der Modern Swing Group, einer Profi-Band, war ein neuer Schlagzeuger zum

ersten Mal dabei, Peter „Pitt“ Fey, der neuen Schwung in die Rhythmusgruppe brachte, und der bald für seine dynamischen und rhythmisch sicheren Schlagzeug-Soli bekannt wurde und beispielsweise bei einem Jazzbandball im Casino in Unna 300 (!) Tänzer zu Begeisterungsstürmen  hinriß. Sie hörten auf zu tanzen und hörten fasziniert zu. Und es kam immer ganz besondere Stimmung auf, weil alle mitsingen konnten, wenn die Band Nummern spielte wie Chris Barbers „Ice Cream“, auf das sich für die Kamener „Sch… Cream“ reimte und „Dinah“ mit der Reimzeile „… ist viel länger als meinah“. Aber das passierte immer erst später am Abend.

Wie oben schon einmal erwähnt, fuhren die Freunde auch oft zusammen in die Ferien. 1961 war Scharbeutz an der Ostsee das Ziel. Alle fuhren mit der Bahn, nur Pitt hatte ein Auto, einen rassigen Karmann Ghia, dessen zweiter Sitz durch die Schießbude belegt war. Gleich am zweiten Tag gingen sie zur Strandpromenade in Timmendorfer Strand und machten auf dem Steg Musik. Es dauerte nur Minuten und das Tanzen ging los. Es herrschte eine so gute Stimmung, daß alle sich einig waren, morgen geht’s weiter. Am nächsten Abend jedoch lag eine große Motorjacht am Steg. Nach einer Weile Musik kam dann ein Mann aus dem Boot auf „die primitiven“ zu und lud sie ein, aufs Schiff zu kommen und dort weiterzuspielen. Für Getränke wäre gesorgt. Das Steg-Publikum protestierte heftig, aber die Kamener erlagen der Versuchung. Und trafen auf eine illustre Truppe: die Jacht gehörte dem Sohn von Oskar Kokoschka, einem bekannten Maler, der u.a. den damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer porträtiert hatte. Bei ihm war Gustav „Bubi“ Scholz, mehrfacher Deutscher und Europameister in verschiedenen Gewichtsklassen im Boxen, Bibi Johns, bekannte Schlagersängerin und Bully Buhlan, ebenfalls Schlagersänger und nicht minder bekannt. Es wurde ein prächtiger Abend, danach ein schwieriger Morgen, dazwischen eine große Lücke. Am nächsten Morgen war die Jacht weg, aber die Erinnerung wieder da.

Einige  Abende später gab es einen weiteren Höhepunkt. Damals gab es in allen Seebädern sogenannte „Jekami-Abende“, das „Jeder-kann-mitmachen“-Motto gab den Kurgästen (entsprechend war das Durchschnittsalter der Besucher) die Möglichkeit, ihre Talente zur Schau zu stellen und, natürlich, eine für den Veranstalter besonders preisgünstige Möglichkeit, die jeweilige Strandhalle zu füllen, da es über geglückte und auch nicht geglückte Vorführungen immer viel zu lachen gab und außerdem alle Freunde, Bekannten und die weiteren Gäste aus allen Pensionen mitkamen, um bei der Abstimmung über den Sieger ihre Freunde zu unterstützen. Zwischendurch spielte das Hausorchester gediegene Tanzmusik. Natürlich waren „die primitiven“ eines Abends dabei, in der Besetzung Trompete, Klarinette,Banjo, Piano, Schlagzeug. Die Band kam als letzter Wettbewerber des Abends dran. Keiner hatte mit Dixieland am Ende des Abends gerechnet, und schon gar nicht, daß das der Höhepunkt werden sollte. Eine Zugabe. Eine weitere Zugabe. Noch eine. Irgendwann war dann Schluß. Und die Band bekam ein richtiges Abendessen (da ansonsten, bei nicht sehr fortgeschrittenen Künsten, Selberkochen im Zelt angesagt war, hochwillkommen) und kostenlose Getränke.

In einem Städtchen wie Kamen, das damals nur rund 20.000 Einwohner hatte, kannte man sich, die Maler der „Gruppe Schiefertum“ und „die primitiven“. Man half einander. Damit die Musiker ihre Bälle und Tanztees mit Besuchern füllen konnten, mußte man ja werben. Plakate drucken? Wie bezahlen? Ulli Kett (vgl. Artikel „Ullrich Kett“ und „Die Gruppe Schieferturm“), ein ganz junger Maler, später sehr bekannt, der auch auf der Art Cologne ausstellte und verkaufte, malte zu jeder Veranstaltung der „primitiven“ 10 Plakate, einzeln, von Hand, individuell! Natürlich wären das heute Sammlerstücke! „Die primitiven“ revanchierten sich, indem sie im Sommer 1960 zur Eröffnung einer Kunstausstellung der „Maler unterm schiefen Turm“ vor der Martin-Luther-Schule am Koppelteich aufspielten.

 

 

 

Besondere Begeisterung herrschte unter den „primitiven“ immer, wenn bekannte Jazzgrößen zu Konzerten in der Gegend auftauchten, z.B. einmal George Lewis in Dortmund. Da muß man hin! Aber wie? Theo wußte von einem ausrangierten Lloyd-Kleinbus, abgemeldet, ohne Nummernschild, aber mit Zündschlüssel. Doch keiner der „primitiven“ hatte einen Führerschein. Einer der Bekannten aus der weiteren Umgebung der Musiker, Hermann, war der einzige Führerscheinbesitzer und übernahm gelegentlich Taxidienste für die Band. Also Hermann anheuern. Das Problem mit den Nummernschildern war schnell gelöst, die konnte man selber herstellen. Bei der Fahrt nach Dortmund merkten die „primitiven“ allerdings sehr schnell, warum der Wagen außer Betrieb gesetzt worden war. Hätte diese Fahrt nur etwas länger gedauert, wäre die Karriere der „primitiven“ an dem Nachmittag beendet gewesen. Sechs Leute saßen hinten drin, dicht eingehüllt in Abgas, das aus dem undichten Auspuff direkt in den Innenraum geblasen wurde! Alles hustete und stöhnte, die Augen tränten. Aber das Konzert war wunderbar.

Auch wenn nicht jede Zeitungskritik positiv ausfiel, manch ein Kritiker sehr kritisch war („Zu schwer für die primitiven“ lautete das Urteil nach einem Konzert in Weddinghofen, „Jazz aus Datteln und Kamen, wie er nicht sein soll“ nach einem in Lünen), die Band ließ sich nicht entmutigen, übte weiter, verstärkte ihre Bemühungen. Schließlich fühlte sie sich gewappnet, bei einem Wettbewerb am 15. Januar 1961 im Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen anzutreten. Der 4. Platz war die Belohnung. Und bei der Vorausscheidung zum 1. NRW JAZZ & SKIFFLE JAMBOREE in Borken wurde sie gar Erste! Das wurde gewaltig gefeiert, mit den Fans, bei Willi Neff in der Pilsstube. Daher lief’s beim  Wettbewerb am nächsten Tag (vor 3.000 Zuschauern und –hörern!) dann nicht ganz so gut, nur 5. unter sechs Wettbewerbern (die Juroren vom Samstag erkannten „die primitiven“ nicht wieder), aber das war kein Grund, Trübsal zu blasen, schließlich war man, wie die Zeitungen betonten, die einzige Kleinstadtband, die es ins Finale geschafft hatte.

Und auch die Fahrt nach Borken war ein Abenteuer, man sollte wohl eher sagen: ein neuer Gipfel an Leichtsinn. Wie gesagt, Autos waren rar, da nahm man, was so eben zur Verfügung stand. Die Rückfahrt, eine Nachtfahrt, ist in sehr (un)guter Erinnerung geblieben. In einem schon damals alten Käfer saßen wiederum sechs Jungen, zusammengekauert unter dem Kontrabaß, der vorn rechts beim Seitenfenster herausguckte. Es war eng, ungemütlich, kalt, Hermann kam nicht an den Schaltknüppel, schrie immer: „Den 2. Gang! Den 3.! Den 4.!“ und dann griff derjenige, der drankam, zu und schaltete, so gut es ging. Die Koordination war nicht ganz einfach. Und zwischendurch gingen immer wieder die Scheinwerfer aus, auf einer kurvenreichen Strecke! Aber auch diese Fahrt ging gut.

Die Band war viel herumgekommen und hatte andere Bands kennengelernt, Bekanntschaften, Freundschaften geschlossen. Für den 15. April 1961 kündigten die Kamener Zeitungen ein „Jazzereignis in Kamen“ an. Die Coal City Jazzband wurde für ein „Jam-Session-Stelldichein“ mit den „primitiven“ bei Biermann angekündigt. Die Bochumer galten als die „anerkannt beste Dixielandband in Nordrhein-Westfalen“. Sie waren Gewinner des Ruhrfestivals in Essen und hatten das Jazzjamboree um das „Goldene Kornett“ in Gelsenkirchen gewonnen. Der Saal war denn auch überfüllt, die letzten Besucher saßen auf Küchenhockern. Und wieder ging’s am nächsten Morgen auf dem Markt weiter. Hunderte Zuhörer verabschiedeten die Bochumer und riefen laut „Wiederkommen“. Schon eine Woche später spielten „die primitiven“ bei einem Jazzmeeting im „Studio 19“ in Lüdenscheid, 14 Tage später gelang es der Band, Eulen nach Athen zu tragen. Am 7. Mai 1961 waren sie als Band in die NATO-Radarstation in Herbern eingeladen und durften Soldaten vorspielen, die von dort kamen, wo auch die Musik herkam: Amerikaner genossen Kamener Jazz! Am Nachmittag gab es Musik im Freien, „die primitiven“ unterhielten Tausende Besucher der Radarstation, und am Abend tanzten die Amis im Kasino zu Dixieland aus Kamen. Sie genossen den Jazz, die Kamener lernten Bourbon Whiskey kennen. Beides kam gut an.

Am 28. Mai wieder einmal Jazzbandball bei Bergheim, danach Konzert und Tanz in Beckum, dann Ball im Casino in Unna, immer mit die erfolgreichste Veranstaltung mit bis zu 300 Besuchern! Und dieser Abend in Unna, der 1. Juli 1961, wurde ein trauriger Tag in der Geschichte der „primitiven“. Es war das letzte Mal, daß die Band in ihrer ursprünglichen Besetzung zusammen auftrat! Alle waren nun in dem Alter, da neue Lebenswege eingeschlagen werden: Meier geht zum Studium nach Berlin, James geht zum Studium nach Köln, Ede geht zum Studium nach Marburg, Pitt macht einen Meisterkurs als Zahntechniker, Justus geht als Berufsmusiker nach Basel, zwei sind noch Schüler.

Aber so ganz geht man nach so vielen Jahren und so einschneidenden, prägenden Erlebnissen nicht auseinander. In den Ferien treffen sich immer mal wieder zwei, drei alte Freunde, unternehmen etwas zusammen, machen z.B. eine Bahnfahrt mit dem Studentenreisedienst nach Lissabon. Das dauerte damals gut 2½ Tage! Natürlich fuhr man nicht ohne Instrumente. Das Banjo und die Klarinette lassen sich leicht mitnehmen, aber das Klavier? Das Helikon? Dann muß Meier eben schnell auf das Waschbrett umsteigen, ein richtiges Waschbrett, wie es in Skiffle Groups in Gebrauch war, der Mutter geklaut. Da setzte man sich metallene Fingerhüte auf alle 10 Finger und und schlug auf das Waschbrett und ratschte rauf und runter. Schließlich fanden die drei einen Zeltplatz in Costa de Caparica, einem kleinen Ort am südlichen Tejo-Ufer, direkt am Strand. Erst einmal gab es einen großen Schreck: die Klarinette war weg. Im Bus zum Zeltplatz liegengelassen! Es dauerte ein paar Tage, bis sie wieder da war, viel Fragen, viel Suchen, ohne ein Wort Portugiesisch. Dann aber ging’s zum Strand, gegen die Atlantikwellen wurde anmusiziert. In Nullkommanichts waren die drei von Dutzenden Jugendlicher umlagert, die alle im Takt mitwippten, da brauchte es keine Fremdsprachenkenntnisse. Dazu gab es Sardinen, in der Brandung gefangen und direkt auf dem kleinen, tönernen Holzkohlengrill gegart. Und spätabends kaperten die Kamener die in der Ortsmitte für Ferienunterhaltung aufgebaute Bühne und jazzten zur Freude der einheimischen und touristischen Jugend bis weit nach Mitternacht. Und alle schwooften! Daraus folgte die Einladung zu einem Sommerfest auf einer großen Finca. Und das war ein Erlebnis der ganz besonderen Art.

Es begann damit, daß die drei „primitiven“ von einem Chauffeur in Livrée abgeholt wurden. Auf allen vieren krochen sie aus ihren kleinen Zelten, auf den Rolls Royce zu, die Tür vom Chauffeur aufgehalten, Zylinder in der Hand! Sie schwankten zwischen völlig eingeschüchtert und Graf Koks von der Gasanstalt. Der Anblick des Festplatzes auf der Finca war atemberaubend: Fackeln erleuchteten den riesigen Platz, der von unterschiedlichen Gebäuden umgeben war, Hunderte Leute standen und wuselten umher, die avó saß majestätisch auf einem hohen Lehnstuhl und beobachtete das Treiben. Der Großmutter wurden die drei zuerst vorgestellt, nach Anweisung, wie das zu geschehen habe: mit Handkuß! Für jeden der erste und letzte Handkuß in seinem Leben. Danach dem Hausherrn und seiner Frau, dann kümmerte sich der Sohn Nando, der sie eingeladen hatte, um sie. Und das Essen! Gebratene Täubchen, kalte Gurken– und Melonensuppe, und viele Speisen, die den drei Freunden völlig unbekannt waren. Und Drei-Liter-Flaschen Cognac! Der Chauffeur würde sie ja zurückbringen. Und es folgten weitere Einladungen. Die Musik öffnete Türen.

Wer so lange Musik gemacht hat, kann nicht einfach aufhören. In wechselnden Besetzungen hielt die Band sich noch einige Zeit, und selbst heute, im Jahre 2017, können es einige immer noch nicht lassen. Nelly Elger spielt hin und wieder in einer neuen Gruppe Banjo, Pitt Fey tritt gelegentlich auf, ebenso Helmut Meschonat (vgl. Artikel „Helmut Meschonat“ und „Die Gruppe Schieferturm“), ein Künstler der Gruppe Schieferturm, der Nachfolger des Klarinettisten Ede Holzer wurde. Seit ein paar Jahren gibt es auch wieder gelegentliche Treffen der Ehemaligen, bei denen sie, wie könnte es auch anders sein, in Erinnerungen an „die schönste Zeit unseres Lebens“ schwelgen. Es war eine reiche Zeit, selbst gestaltet, selbst organisiert, mit Freundschaften fürs Leben, eine Zeit, die viel mitgab für den späteren Lebensweg, aus deren Erlebnissen alle lange zehrten, bis heute.

PS: 1964 war für „die primitiven“ wie auch die „Kellerasseln“ ein trauriges Jahr. Semesterferien, April, Zeit, Geld zu verdienen, Geld, das für das nächste Semester gebraucht wurde. Ferienjobs gab es reichlich in den Wirtschaftswunderjahren, links und rechts der Unnaer Straße (die Hochstraße wurde erst 10 Jahre später eingeweiht), bei Klein & Söhne („Große Tüten, kleine Löhne“) und Ketteler, beide längst aus Kamen verschwunden. In beiden Betrieben gab es Stanzen und Pressen für die Metallbearbeitung, und die waren nicht durchweg auf dem neuesten technischen Stand, sie funktionierten auf einfache Fußbedienung hin. Ede Holzer arbeitete bei Klein & Söhne. Freitagnachmittag, gegen 17.00 Uhr, nach 11 Stunden Akkordarbeit, Formen eines Blechteils in der Fünftonnenpresse, einen Augenblick nicht aufgepaßt, aus dem Rhythmus geraten, das 2½ mm starke Werkstück unter der Presse, zusammen mit dem rechten Zeigefinger. Fünf Tonnen drauf! Trotz intensiver Bemühungen von Dr. Gerçek im Kamener Krankenhaus war der Finger nicht mehr zu retten. Nach 14 Tagen war er schwarz, tot, mußte amputiert werden. „Die primitiven“ waren ihren Klarinettisten los.

Fritz Borgmann arbeitete bei Ketteler, auf der gegenüberliegenden Seite der Unnaer Straße. Drei Tage später, Montagnachmittag, gegen 15.00 Uhr, Fritz findet auf dem Tisch der Stanze ein Stück Finger und fängt an, den benachbarten Kollegen wegen des schlechten Scherzes zu beschimpfen, als er merkt, daß Blut an ihm herabtropft, daß es sein eigener Finger ist, ein Glied seines linken Zeigefingers. Er ist Linkshänder. Die „Kellerasseln“ waren ihren Klarinettisten auch los. Ein Wochenende, zwei Unfälle, zwei Bands ohne Klarinettisten!

Aber ganz schlimm war es, als sich alle, aus ihren Studienorten nach Kamen gekommen, am Montag, dem 13. November 1967, vor 50 Jahren dieses Jahr, auf dem Kamener Friedhof einfanden, zur Beerdigung ihres alten Freundes, des Bassisten Werner Morck, der wenige Tage vorher im Alter von 25 Jahren gestorben war, nur ein paar Wochen nach seinem Examen als Diplom-Kaufmann an der Universität Köln, gerade als er seine erste Stelle bekommen hatte.

Werner „James“ Morck, 13. März 1942 – 6. November 1967

KH

Dank an Nelly Elger, der als einziger der Truppe die Voraussicht hatte und auch den Fleiß und die Energie aufbrachte, (fast) alles zu sammeln, was es an Photos und Veröffentlichungen gab. Ohne seine beiden Bandalben wären diese Erinnerungen nicht zustande gekommen.

Dank auch an Pitt Fey, der noch ein paar zusätzliche Photos aus Alben kramte und, vor allem, noch im Besitz von 3 Originalplakaten ist, die Ulli Kett einst von Hand malte, wenngleich sie reichlich ramponiert sind.

Und Meier konnte mit Erinnerungen und präzisen Daten aufwarten.

Ich bitte die Leser, die z.T. schlechte Qualität der Bilder zu entschuldigen, z.B. bei der Wiedergabe alter Zeitungsausschnitte.

Die Lutherkassette des KKK – ab sofort erhältlich

Bisher 12 erfolgreiche Zeitzeichen des KKK, oft volles Haus. Zum Lutherjahr glaubte man, sich auf dieses Thema stürzen zu müssen. Aber dann zeigte sich, daß jede Kirchengemeinde, die VHS, jeder Verein und jede andere Gruppierung dieselbe Idee hatte und schneller war, und es wurde klar, daß es nicht noch einen Vortrag zum Thema „Luther“ geben konnte. Alles war da: Luther, der Reformator. Der Übersetzer der Bibel. Ein, vielleicht der, Schöpfer der deutschen Sprache. Luther und die Obrigkeit. Luther und die Juden. Luther und die Türken. Luther und Hexen. Luther und …. Und natürlich Vorträge all derer, die ein Denkmal von seinem Sockel holen wollen.

Es sollte und es mußte also ein besonderer Beitrag zum Lutherjahr werden. Und es ist einer geworden. Einzigartig. Unverwechselbar.

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13 Künstlerinnen und Künstler haben sich mit Martin Luther beschäftigt, aber nicht mit der Person des Reformators usw., sondern jeder von ihnen hat eins der vielen Lutherzitate gewählt und seine ganz persönliche Interpretation  in künstlerischer Darstellung zum Ausdruck gebracht.  Und jeder von ihnen wendet seine eigene Technik an: Tuschezeichnung, Federzeichnung, Collage, Siebdruck, Gipsdruck, Acrylmalerei, Computerzeichnung, Photographik ….

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Neben den 13 graphischen Blättern umfaßt das Kompendium ein Vorwort, einen konzisen Artikel über Martin Luther und sein Wirken sowie das Impressum mit Angaben über die beteiligten Künstlerinnen und Künstler. Und das alles kommt in einer eigens für diese Graphikmappe maßgefertigten Holzkassette mit farbig bedrucktem Deckel.
Alle Beteiligten opferten den 2. Adventssonntag und kamen, manche von weit her, in der Druckerei Kemna in Kamen zusammen und signierten die Graphiken. Zum Schluß mußten fast 1000 Blätter sortiert und in der richtigen Reihenfolge in die Kassetten gelegt werden. Deckel drauf. Einpacken. Kennblatt aufkleben. Fertig.

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Ein großes Dankeschön geht auch an die Druckerei Kemna in Kamen, die den Druck besorgte und für die große Qualität zu loben ist. Und daß Sabine und Klaus Heckmann auch noch den ganzen Nachmittag in ihrer Firma verbrachten und den KKK tatkräftig unterstützten und alle Anwesenden mit Kaffee und Keksen versorgten, zeigt, daß sie auch persönlich Anteil am Erfolg der Aktion nehmen.

Jetzt hofft der KKK, die Auflage von 50 Stück zum Preis von € 150,00 pro Kassette zu verkaufen. Sie ist erhältlich bei:

Klaus und Thea Holzer vom Kultur Kreis Kamen, Bahnhofstr. 50, 59174 Kamen. Nach telefonischer Absprache: Tel. 02307-797419

 

Klaus Holzer

PS: In drei Wochen ist Weihnachten. Diese Kassette ist ein wunderbares Geschenk.