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Das Geheimnis der Turmspitze ist enthüllt

von Klaus Holzer

Abb. 2: Blick von der Turmspitze über Kamen (Panorama)

Daß Kamen die Pauluskirche hat, weiß jeder Kamenser. Daß Kamen von 1873 bis 1983 eine Zeche namens Monopol hatte, weiß auch (noch fast) jeder Kamenser. Daß diese beiden Kamener Wahrzeichen auch miteinander zu tun hatten, wissen vielleicht nicht so viele.

Am 14. Mai 1922 zogen die Bergleute von Monopol die neuen Glocken in den Turm hinauf. Entgegen allen Gepflogenheiten wurde die mittlere Glocke ihnen zum Dank und zu Ehren „Glückauf-Glocke“ getauft. Daß es heute ein weithin sichtbares, wenngleich unbekanntes Zeichen der Verbundenheit gibt, weiß vermutlich niemand außer denen, die es veranlaßt haben. Immer sehen wir die neue Messingkugel (besonders schön bei Nacht, wenn sie im Dunkel zu schweben scheint) mit der auf ihr stehenden Wetterfahne. 

Aber wer nimmt schon wahr, daß die Wetterfahne, wie es für evangelische Kirchen nicht untypisch ist, auf einem Kreuz befestigt ist? Und die Inschrift auf diesem Kreuz ist natürlich nicht zu erkennen: „Zeche 1949 Monopol“. Und von unten auch nicht, wie angefressen die Wetterfahne ist, die, wie auch die Turmkugel, aus vergoldetem Kupfer besteht.

Abb. 3: Die ganze Turmspitze

Das erkennt man erst, wenn das Auge einer Drohne sich der Kirchturmspitze nähert, ihr so nahe kommt, wie es kein Mensch kann. Dann erkennt man die Einzelheiten und erhält einen atemberaubenden Blick über die Stadt. Und wie der Turm von oben aussieht – wer hat das schon einmal gesehen?

Abb. 4: Der Turm von oben

Wo kommt die Inschrift her, was hat sie zu bedeuten? Der Pauluskirchturm wurde durch zwei Bomben am 24. Februar 1945 stark beschädigt, sämtliche Fenster im Chor wie im Langhaus wurden zerstört. Es dauerte bis 1953, bis die Kirche vollständig wiederhergestellt war. Der Kamener Kirchenhistoriker Wilhelm Wieschhoff schreibt im November 1982 in seiner kleinen Ergänzung zur Geschichte der Pauluskirche: „Das Turmkreuz ist eine Spende der ehemaligen Zeche Monopol aus dem Jahre 1948.“ Offenbar geht die Schenkung auf das Jahr 1948 zurück, wurde aber erst 1949 umgesetzt. In der Sache hat Wieschhoff sicher recht. Die Verbundenheit zwischen den Bergleuten von Monopol und der Pauluskirche war anscheinend so groß, daß sie selbst nach einem Vierteljahrhundert noch eine Bindung zur Kirche verspürten und das Kreuz selbst schmiedeten und der Kirche schenkten. Damit sie nach der kriegsbedingten Beschädigung im alten Glanz wiedererblühen möge, das älteste Gebäude Kamens und das Wahrzeichen der alten Stadt.

Hier sei noch etwas nachgetragen (vgl. Artikel „Pauluskirche“ unter www.kulturkreiskamen.de): 

Im Jahre 1995 wurde der Turm grundsaniert und seine Höhe neu vermessen. Ergebnis: Vom Erdboden bis zur höchsten Spitze der Wetterfahne beträgt die Turmhöhe etwa 60m, 50 cm mehr als vor der Sanierung 1995.

KH

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Zum Namensjubiläum – 100 Jahre „Pauluskirche“

von Klaus Holzer

Zum Namensjubiläum – 100 Jahre „Pauluskirche“

Abb. 1: Der Turm der Pauluskirche 

Der Turm der Pauluskirche ist das älteste Gebäude der Stadt, zwischen 1100 und 1130 als Wehrturm und Fluchtburg gebaut. Er ist gut 60 m hoch, Turmstapel und Helm je 30 m. Erbaut ist er aus Anröchter Sandstein, die Mauern sind an manchen Stellen bis knapp unter drei Meter dick. Die Länge im Innenraum beträgt 38,40 m, die Breite 17,80 m.

Abb. 2: Kamen in der Uraufnahme von 1827 mit dem Kernoval (unten)

Direkt davor befand sich früher der Funkenhof, der Anfang Kamens als eines besiedelten Ortes. Hier stand die erste Burg der Grafen von der Mark, die auch diese Kirche bauen ließen, eine „ecclesia propria“ (= Eigenkirche; dafür hatte der Graf auch das Recht der Investitur: er ernannte die Priester), weil es wohl hohen Bedarf an Gottesdiensten und geistlicher Betreuung, aber keine ausreichenden kirchlichen Strukturen gab. Immerhin aber wurde eine Pfarrei in Kamen schon 1188 in einer Urkunde des Erzbistums Köln erwähnt. Natürlich war die Pauluskirche vor der Reformation einfach eine christliche Kirche – die Unterscheidung in katholisch und evangelisch kam ja erst nachher – und hieß St. Severinskirche. Dieser Name wurde von ca. 1130/35 bis in die 1590er Jahre verwendet. 

Abb. 3: Der heilige Severin (von Köln)

St. Severin ist der Schutzheilige Kölns, gestorben 397, sein Tag ist der 23. Oktober. Kamen gehörte bis 1821 zum Erzbistum Köln, seitdem zu Paderborn. Severin wurde als Schutzpatron gegen Hochwasser verehrt, was auch für Kamen äußerst passend war, herrschten doch hier oft Überschwemmungen. Nach ihm benannt, gibt es jedes Jahr im Herbst in Kamen die „Severinskirmes“.      

Die heutige Kirche ist die vierte an dieser Stelle: die erste war eine Holzkirche auf einer ehemaligen heidnischen Opferstätte. Sie stammte vermutlich aus der Zeit Karls des Großen, der nach der Zwangschristianisierung der Sachsen (Wendepunkte in diesem Prozeß waren: 723 die Fällung der Donareiche in Fritzlar/Nordhessen durch Bonifatius, 772 die Fällung der Irminsul, einer großen Säule in Obermarsberg, frühmittelalerliches Heiligtum der Sachsen, und die Taufe des Sachsenherzogs Widukind im Jahre 785) die alten Gaue in neue Kirchspiele ordnete, dabei aber die Grenzen unangetastet ließ, und auf alten heidnischen Opferplätzen christliche Kirchen errichten ließ, auch um zu zeigen, daß die heidnischen Götter durch den neuen christlichen Gott besiegt waren. 

Abb. 4: Der Romanische Maueransatz 

Die zweite, eine romanische Kirche stand bis 1376 – im Dachstuhl des Kirchenschiffs kann man den Dachansatz des romanischen Schiffs erkennen – ihr Turm steht noch heute. Im Jahre 1376 brannte diese, vermutlich einschiffige, romanische Hallenkirche ab. Und weil nun neu gebaut werden mußte und keine Kirche für die Gottesdienste zur Verfügung stand, gestattete der Kölner Erzbischof für vier Jahre die Benutzung von Tragaltären. 

Abb. 5: Die einzig erhaltene Abbildung des gotischen Kirchenschiffs

Abb. 6: Das gotische Kirchenschiff  (Skizze des Abrisses)

Da inzwischen die Gotik, deren neue Bauverfahren viel größere und leichtere Bauten mit großen Fenstern ermöglicht, auch nach Kamen gekommen war, wurde das alte durch ein neues, jetzt gotisches Kirchenschiff (= die dritte Kirche an dieser Stelle) ersetzt. Die Maße im Inneren: 44,50 m lang, 20,90 m breit, 14 m hoch. Der auffälligste Unterschied zum vorhergehenden Langhaus sind die durch die neue Bauweise möglich gewordenen großen Fenster und die Zwerchhäuser (gaubenähnliche Dachaufbauten) auf dem Dach, die in Nord-Südrichtung gebaut und daher recht windanfällig waren. Der Turm blieb stehen, er hatte wohl ursprünglich eine romanische, d.h., flachere Turmabdeckung. Weil der alte, romanische, Turmhelm nun für das neue Kirchenschiff viel zu klein war, die Proportionen nicht mehr stimmten, erhielt der Turm vor 1380 die noch heute erhaltene, gen Westen geneigte Turmhaube: so entstand unser „Schiefer Turm“, der heute als Wahrzeichen Kamens dient. Die Spitze ist zwei Meter aus dem Lot, bei 30 m Höhe des Helms!

Abb. 7: Beispiel eines  romanischen Helms: die Margaretenkirche in Methler, etwa zur gleichen Zeit wie der Pauluskirchturm erbaut

Die Legende will wissen, daß der Baumeister beim Bau unachtsam war und ihm der Turmhelm mißlang. Als er das bemerkte, habe er sich an einem Strick im Gebälk des Turmhelms aufgehängt. Eine weitere hübsche Anekdote ist: als der Brauch aufkam, in Weiß zu heiraten, fragte der Pastor eine Braut, ob sie denn auch noch Jungfrau sei, was diese bejahte. Da aber der Turm alles wußte, krümmte er sich aus Scham über die Lüge, nahm sich aber vor, sich wieder gerade aufzurichten, wenn einmal wieder eine in Weiß gekleidete Braut bei der Heirat Jungfrau sein sollte. 

Diese Neigung aber ist wohl gewollt: Wenn der Turmhelm einmal fallen sollte, würde er nicht auf das Schiff fallen. Zwei Annahmen stehen im Raum, die aber nicht widersprüchlich sind: Der Turm ist gegen die Hauptwetterseite, daher auch gegen die Hauptwindrichtung geneigt; Kirchtürme waren immer weit und breit die höchsten Gebäude, mit einem metallenen Kreuz, Hahn, einer Wetterfahne auf der Spitze, in die oft der Blitz einschlug. Brannte nun der Turm, konnte man auf diese Weise seine Fallrichtung bestimmen. Wie auch immer, wer einmal die höchst komplizierte Konstruktion des Dachgebälks gesehen hat, versteht unmittelbar, daß der Baumeister kein Stümper war, sondern ein Meister seines Fachs. 

Abb. 8: Der Dachstuhl des Turmhelms

Vor der damaligen Severinskirche befand sich Kamens frühester, d.h., eigentlicher öffentlicher Platz, der auch die Funktion eines Marktplatzes hatte, gleichzeitig aber, und vor allem, zur Demonstration kirchlicher Macht diente. Das ärgerte die Kamener, als sie das Stadtrecht erhielten – 1284 besaß Kamen ein eigenes Siegel,  bereits seit 1247 eine eigene Stadtmauer – setzten sie einen noch größeren Marktplatz vors Rathaus: Zeichen erwachenden Bürgerstolzes. Und unser Marktplatz ist ja selbst heute noch für eine Stadt wie Kamen richtig groß. (vgl. Abb. 2)

Die Größe des Kirchturms beweist Kamens Bedeutung im MA. Er war zu der Zeit von Kamens Anfang der bei weitem sicherste Ort der kleinen Siedlung. Bei Gefahr, z.B. durch marodierende Banden, floh man in den Turm, (daher auch die Redewendung „türmen gehen“, wenn man sich in Sicherheit bringen will), selbst Vieh wurde hineingetrieben, hinter diesen dicken Steinmauern konnte ihm nichts passieren. Anfangs wurden in diesem Turm alle wichtigen Dokumente aufbewahrt: Kirchenbücher, Verträge, Besitzurkunden, Nachweise über Bürgschaften u.a., aber auch das Wichtigste: das Saatgut für das kommende Jahr, das vor Mäusefraß und Feuchtigkeit geschützt werden mußte.

Abb. 9: Ein Treppengang in der romanischen Mauer 

Am Trinitatissonntag (28. Mai) 1553 war Hermann Hamelmann der erste, der die Lehre nach Luther verkündete. Der Pfarrer und Kamener Chronist Friedrich Pröbsting glaubte, daß Geldgier und Lotterleben der Pfarrer und die allgemeine sittliche Verrohung der Grund für den Zulauf zur Reformation gewesen seien: „Leider gab die Geistlichkeit oft ein böses Beispiel. So liegt eine Urkunde vor vom 11. Nov. 1536, durch welche das Nonnenkloster dem Vikar Wegener ein Wohnhaus für seine natürlichen Kinder überließ; desgl. ein Kontrakt vom 4. Dez. 1530, wonach derselbe Vikar für seine Kinder ein Scheffel* Land (Anm.: * in Kamen ca. 1700 qm (lt. Schütte): = die Fläche, die mit einem Scheffel Korn eingesät werden konnte, ist also auch vom Scheffel als Maßeinheit abhängig (in Hamburg ca. 4200 qm) kaufte. Auch bezeugt ein Urteil des Magistrats vom Jahre 1555, daß die beiden Vikare Gert Klotmann und Jürgen Crappe sich wegen grober Unsittlichkeit/Laster mit Geldstrafen abfinden mußten.“ Und sein Vorgänger als Stadtchronist, Friedrich Buschmann kommentiert: „Daß dergleichen Verhandlungen ungescheut und ungerügt gepflogen werden konnten, zeugt unverkennbar von einer beklagenswerten religiösen Gleichgültigkeit, und einem eingerissenen, sehr großen Sittenverderben.“ 

Abb. 10: Eine Grabplatte der Familie  von der Recke im Turmeingang

Der Droste von der Recke verwies Hamelmann auf Anweisung des Herzogs von Kleve, Nachfolger der ausgestorbenen Linie der Grafen von der Mark, der Stadt. Erst zwei Jahre später zog die Reformation ein, als die Pfarrer Johannes Buxtorf und Hermann Schomburg und der angesehene Kamener Bürger Johann Wagner den Durchbruch schafften, bis die Lehre nach Luther offiziell eingeführt wurde. Buschmann schreibt: „Allmählig ward der Marschall, Freiherr von Reck, auch für die gereinigte Lehre gewonnen, und trat im Jahre 1567 zu den Evangelischen über. Jetzt ermunterte er selbst die Prediger Buxtorf und Schomberg, die evangelische Lehre freudig auszubreiten, die Sacramente nach Christi Worten deutsch zu administriren und deutsche Lieder singen zu lassen.“ 

In den folgenden 60 Jahren gab es aber nur zwei normale Ernten, daher herrschte große Not. Frost und Schnee reichten bis weit ins Frühjahr hinein, setzten schon im Spätsommer erneut ein, die Sommer waren verregnet, Getreide und Gemüse verfaulten auf dem Feld, Menschen und Vieh verhungerten. In Unkenntnis der naturwissenschaftlichen Ursachen vermutete man als Ursache die Strafe Gottes für sündiges Leben und schloß sich der strengen Lehre Calvins an. So erhoffte man sich wieder Gottes Wohlgefallen und vermied, eine Hexe als Sündenbock zu verbrennen, was damals weit verbreitete Praxis war. 1589 kam der erste Reformierte Prediger, Heinrich Bock, nach Kamen. Die Reformierten entfernten alle 11 Seitenaltäre und auch den Namen des Hl. Severin. Ab jetzt hieß sie die Reformierte Kirche. Bis 1613 durften auch die Katholiken ihren Gottesdienst in ihr feiern, danach zerstritt man sich und die Katholiken hatten jetzt nur  noch das Klosterkirchlein gegenüber. Auch die wenigen verbliebenen Lutheraner – 1715 waren es nur noch 10 Familien – waren nunmehr heimatlos.

Abb. 11: Die Pauluskirche noch mit der Turmuhr von 1839 (vor 1920)

Um die Reformierte Kirche herum lag früher der Kirchplatz, auf einem Teil, dem Kirchhof, wurden auch die Toten bestattet, hier waren sie „näher bei Gott“. Dort fand man in den 1920er Jahren Überreste von Baumbeerdigungen, die aber leider, da man sie unsachgemäß behandelte – man maß ihnen damals keinen Wert bei – zu Staub zerfielen. Selbst noch in den 1950er Jahren, als der Grund für die Verlegung der Kanalisation aufgerissen wurde, fand man dort menschliche Knochen.

Über einen Eintrag im ältesten Kirchenbuch Kamens ist noch zu berichten: unter dem 17. Dez. 1624 steht eingetragen: „Spring ins Felt des Soldaten Söhnlein ist Hanß Jürgen genanndt“. Hierbei handelt es sich offenbar um den Sohn des Titelhelden des Romans „Der seltzame Springinsfeld“ von Hans Christoffel von Grimmelshausen, des bekannten Romanautors aus dem Dreißigjährigen Kriege. Dieser ist also keine Romanerfindung, sondern war als Soldat in Kamen. Er war zunächst brandenburgischer Soldat, d.h., protestantisch, was durch die Kirchenanmeldung belegt ist, später kaiserlicher Soldat also katholisch – man verdingte sich als Landsknecht eben dort, wo es zuverlässig am meisten Geld zu verdienen gab, und dieser Verdienst bestand oft genug in Plündereien, daher war es ratsam, sich dem Sieger anzuschließen, dann konnte man öfter plündern – und daran beteiligt, Dortmund, Hamm, Unna und Kamen einzunehmen. Als „Jäger von Soest“ führte er hier viele Raubzüge aus.

Abb. 12: Hans Jakob Christoffel von  Grimmelshausen 

Abb. 13: Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch (1669)

Sowohl die romanische wie die gotische Kirche wurden gebaut, als Kamen auf dem Höhepunkt seiner Größe stand, die zweitwichtigste Stadt der Grafschaft Mark war, nach Hamm, der Residenz der Grafen. Spenden kamen von bedeutenden und reichen Kamener Hansekaufleuten aus Lübeck und Bergen. Doch mit dem Niedergang Kamens – durch Brände, Epidemien, Veränderung der Handelswege: nach der Entdeckung Amerikas von der Ostsee weg hin zum Atlantik verlor die Hanse an Bedeutung – wurde die finanzielle Last, die eine solche Kirche immer bedeutete, zu hoch.

Zu Beginn des 18. Jh. wurde eine preußische Garnison nach Hamm verlegt, eine Abteilung nach Kamen, alles Lutheraner, die die wenigen verbliebenen Kamener lutherischen Familien verstärkten, so daß es 1714 zur Gründung einer lutherischen Gemeinde kam und 1744 zur Einweihung der Lutherkirche als preußische Straßenkirche, fortan die „kleine evangelische Gemeinde“. 

Abb. 14: Die Lutherkirche 

Im Zuge der napoleonischen Kriege, 1796, wurde die Kirche als Korn- und Materiallager benutzt. Die französischen Soldaten trieben ihre Pferde hinein, raubten das silberne Abendmahlgerät und richteten in der ganzen Kirche großen Schaden an. Bis zu dieser Zeit war der Turmhelm mit Blei gedeckt, doch Blei war wertvoll, es konnte zu Munition u.a. verarbeitet werden. 1795 wurde es durch den billigeren Schiefer ersetzt, der 200 Jahre lang das Bild des Turms weithin prägte. Erst 1995 erhielt das Dach wieder seine Originalbedeckung, Blei, und zwar 32.600 kg! Seither schimmert er wieder mattsilbrig und vermittelt, zusammen mit der neuen Messingkugel auf der Spitze, den würdevollen Eindruck, der in einem Gedicht über „De scheiwe Turm von Camen“ zum Ausdruck kommt (vgl.a.Artikel „Kamen im Gedicht“ unter www.kulturkreiskamen.de)

Schon 1817 gab es die erste Anordnung einer Kirchenunion vom König in Preußen (seit 1815 gehörte Kamen zur Preußischen Provinz Westfalen). 1824 treten die beiden Kamener evangelischen Gemeinden der Preußischen Union bei und heißen nur noch die größere und die kleinere evangelische Gemeinde bzw. Kirche. Allerdings änderte das kaum etwas am kirchlichen Alltag in Kamen, man war und blieb getrennt.

1841 wurden so starke Veränderungen am Mauerwerk, an den Säulen und in einigen Gewölben sichtbar, daß ein Gutachten des Wegebaumeisters Hassenkamp aus Unna und des Kirchenbaumeisters Kriesche aus Hamm feststellte, „daß der Zustand der Kirche in verschiedenen Teilen wirklich recht baufällig und gefährlich erscheint.“ Sofortige Maßnahmen wurden für unbedingt erforderlich gehalten. 

Im selben Jahr erstellte Bauinspektor Buchholz aus Soest zusammen mit Hassenkamp einen  Zustandsbericht: „Alle Mauern sind nach außen gewichen, die Säulen haben sich nach außen geneigt und stehen durch Schwerpunktsverlagerung kurz vor dem Verlust ihrer Standfestigkeit. Die Gewölbe aus Ziegelsteinen sind voller Risse und hängen teilweise nur noch an Verankerungsbalken der Dachkonstruktion.“ Die Kirche wurde sofort geschlossen. Am 28. November 1841 fand der letze Gottesdienst in der gotischen Kirche „im Vertrauen auf den Schutz des Herrn“ statt. 

Jetzt zahlte es sich doch noch aus, daß die beiden evangelischen Kamener Kirchen seit 1824 durch die Union locker miteinander verbunden waren, konnte jetzt sonntäglicher Gottesdienst in der, allerdings viel zu kleinen, Lutherkirche abgehalten werden. Allerdings gab es immer wieder Probleme wegen der geringen Zahl an Sitzplätzen. So blieb die weiter entfernt wohnende Landbevölkerung häufiger den Gottesdiensten fern, weil man sehr früh aufzustehen hatte, den Weg hin und zurück zu Fuß zu machen – die größere Gemeinde umfaßte damals Camen, Bergcamen, Overberge, Lerche, Rottum, Derne und Südcamen – und obendrein in der Kirche noch zu stehen hatte. Zu der Zeit hatte Kamen 2772 „Seelen“.

Die Kirchengemeinde hatte das Geld für die Reparatur nicht, fungierten Kirchen doch zu damaliger Zeit auch als Sozialämter und kümmerten sich um die Armen. Die Stadt bzw. die Bürgerschaft hatte große Schwierigkeiten, das Geld für die Instandsetzung aufzutreiben. Zumindest das Geld für den Abbruch trieb man auf, indem man alles Material, Steine und. dergl., und die Einrichtung gut verkaufte. Derweil verarmten die Menschen, weil wieder einmal Mißernten und die Kartoffelfäule Nahrung knapp und teuer werden ließen. Gleichzeitig wurde die Köln-Mindener Eisenbahn gebaut, auch das wieder ein Glücksfall, hatten doch viele Menschen dadurch Arbeit und ein regelmäßiges Einkommen, so daß auch Spenden viel reichlicher flossen, als zu erwarten gewesen war. Allerdings reichte alles Geld nicht für den Putz der Außenwände. Der wurde erst 1986 nachgeholt, der Anstrich gar erst 2013/14.

Abb. 15: Grundriß und Aufriß der klassizistischen Kirche

Die Grundsteinlegung war am 26. August 1845. Am 22. März 1849 wurde sie feierlich eingeweiht, wurde der klassizistische Neubau (die vierte Kirche) als Saalkirche fertiggestellt und eingeweiht. Kosten: 16.200 Taler. Die Westwand besteht immer noch aus den alten Sandsteinen, das restliche Mauerwerk dieses Neubaus besteht aus 340.000 Ziegeln (Feldbrand), die im Mersch „vor dem Ostentor in der Nähe der Seseke“ gebrannt wurden und und mit einer extra dafür gebauten Kleinbahn zur Baustelle gebracht wurden. Dieser Raum wurde gegenüber der gotischen Kirche deutlich verkleinert und innerhalb ihrer Grundmauern errichtet, auf dem Schutt der abgerissenen Kirche, der sich als nicht sehr standfest erwies, so daß bei den umfassenden Restaurierungsarbeiten zwischen 1978 und 1982 die Säulen sich als nicht mehr tragfähig erwiesen und auf den gewachsenen Boden als neues Fundament gestellt werden mußten. Jeder Kirchgänger und Besucher kann den Höhenunterschied an den drei Stufen erkennen, die er vom Turm aus zum Chorraum hinauf- und beim Betreten des Turmaufgangs wieder hinabsteigen muß. 

Zur Originalausstattung dieser Kirche gehörte auch ein 2 m x 2,85 m großes Altarbild von Christian Zucchi (1811 – 1889), das über dem Altar aufgehängt wurde. Es stellt die „Tröstung des Heilands am Ölberge“ dar. Zucchi war ein aus Mainz stammender Maler, der die Tochter des damals bekannten Kamener Gastwirtes Grevel, später Bergheim, heiratete. Diese Tochter soll auch das Modell für den Engel abgegeben haben. Zucchis Lohn waren 200 Taler, eine erhebliche Summe. Die Familie Grevel beförderte das Gemäldeprojekt durch eine größere Geldspende. (zu Zucchi vgl.a. den Artikel über Christian Zucchi unter www.kulturkreiskamen.de)

Abb. 16: Das große Altargemälde von Christian Zucchi

Abb. 17: Blick in den Innenraum in den 1950er Jahren

Nach dem Eröffnungsgottesdienst hieß es in einer Klage von 10 Kamener Bürgern an den „ehrwürdigen Kirchenvorstand“: „Durch die Klagen unserer Frauen und Töchter veranlaßt, teilen wir mit, daß die Kirchensitze der südlichen Seite unserer neuen Kirche, welche für Frauen bestimmt sind, einen so schlechten Anstrich erhielten, daß unsere Frauen und Töchter bei jedesmaligem Kirchgang ein Kleidungsstück durch nie trocken werdende Ölfarbe verderben. Der Anstrich klebt dermaßen an den Kleidern, daß sogar schon Stücke von Seidenzeug beim Aufstehen an den Bänken hängen geblieben sein sollen.“

Neben der Komik dieser Klage wird hier noch eine interessante Einzelheit deutlich: die Frauen saßen von den Männern getrennt, hier auf der Südseite, die auch die Evangelienseite hieß, die Männer auf der Nordseite, die auch Epistelseite hieß.

Wie sehr die Kirche den Kamenern ans Herz gewachsen war, wie sehr diese sich immer wieder mit ihr beschäftigten, wie teuer sie ihnen war, erinnert Buschmann sich: „Was die kirchlichen Gebäude betrifft, so ist aus dieser Zeit na­mentlich zu melden, daß im Jahre 1892 eine große Reparatur an der Kirche u. an dem alten Thurm vollzogen worden ist, was einen Ko­stenaufwand von ca. 16 000 M verursacht hat. Zuerst wurde der Thurm und das Kirchendach ganz neu beschiefert; dann wurde der alte schadhafte Kalkbezug des Thurmes abgestoßen u. das ganze Mau­erwerk des Thurmes mit Cement überzogen. Hierbei wurden die alten romanischen Formen in Cement wiederhergestellt, u. namentlich die alten Verzierungen in den Schalllöchern erneuert. Der Sockel der Kirche wurde cementiert, ebenso das Gesimse, u. im Innern wurde die Kirche neu in Holzfarbe gestrichen und die Wände farbig ge­tüncht.

Damals stand die Kanzel rechts und viel höher. Erst durch den Einbau der neuen, niedrigeren hölzernen Decke von 1897 mußte die Kanzel gekürzt werden. Diese hölzerne Decke ist ein besonderes Kunstwerk, von höchster handwerklicher Qualität und mit motivreicher Farbgestaltung, von zwei Kamener Handwerkern nach dem Entwurf des Architekten Fischer aus Barmen hergestellt, dem Schreiner E. Starke und dem Maler J. Edelmann. Daß es überhaupt zu dieser neuen Decke kam, lag an folgendem Ereignis: „im Jahre 1897  ereignete es sich eines Ta­ges während einer Taufhandlung, daß ein schweres Stück Mörtel von der mit Spalierlatten u. Kalkmörtel angefertigten Decke der Kirche herabfiel“, zum Glück aber niemanden verletzte. Und das bei einer Kirche, die, vollbesetzt, 950 Leute faßte!

Abb. 18: Die Kassettendecke (Ausschnitt)

Am Ende des Ersten Weltkrieges, im Jahre 1919, wurde das Kirchenwesen in Deutschland grundsätzlich neu geregelt und das heute noch gültige Prinzip der Kirchensteuer eingeführt. Im folgenden Jahr entstand auch in Kamen durch die Union der „größeren evangelischen Kirche“, der Reformierten Gemeinde, mit der „kleineren evangelischen Kirche“, der lutherischen Gemeinde, eine unierte Kirchengemeinde. Man einigte sich darauf, die große Kirche von nun an gemeinsam zu nutzen und gab ihr zum 1. Mai 1920, vor 100 Jahren, den Namen „Pauluskirche“. Das war der Kompromißname zwischen Lutheranern und Reformierten, die keinen Heiligennamen wollten: Paulus ist ein Apostel.

Die älteste Glocke der Pauluskirche hängt außen am Turmhelm und war wohl ursprünglich eine Uhrglocke. Sie soll 1343 bei einem Raubzug des damaligen Grafen von der Mark und seinem Arnsberger Kollegen in Menden erbeutet worden sein. Sie überlebte die Jahrhunderte wohl vor allem deshalb, weil sie an so unzugänglicher Stellen hing. Sie trägt die Inschrift: „Jesus is dei Name myn, tho gade deinste ich bereit sin Ao XV(c)XXXVII“ (1537), was vermutlich auf einen Umguß hindeutet.  

Abb. 19: Die älteste Glocke außen am Turmhelm

1917 wurden zwei der drei Bronzeglocken aus dem 17. Jh. im Rahmen der kaiserlichen patriotischen Aktion „Gold gab ich für Eisen“ für die Kriegsfinanzierung requiriert und zwei von ihnen eingeschmolzen. Die dritte entkam diesem Schicksal, weil der Krieg inzwischen zu Ende war. Sie wurde verkauft, u.a. mit diesem Geld ließ man drei neue Stahlglocken in Apolda in Thüringen gießen. Die größte Glocke ist dem Namengeber der Pauluskirche gewidmet, dem Apostel Paulus. Sie hat einen Durchmesser von 1,95 m und ein Gewicht von 3.275 kg. Ihre Inschrift: „Hart wie Stahl ist unsere Zeit, unsagbar schwer des Volkes Leid. Gott schenke uns deine Barmherzigkeit. 1922. 

Abb. 20:  Die Paulusglocke

Die zweite Glocke heißt Glückaufglocke, ein Dank an die Kamener Bergleute, die halfen, die schweren neuen Glocken im Mai 1922 in den Turm hinaufzuziehen und aufzuhängen. Sie hat einen Durchmesser von 1,67 m und ein Gewicht von 2.044 kg. Ihre Inschrift: „Geopfert für des Vaterlandes Wehr 1917. Erneuert zu Gottes Ehr 1922.“

Die dritte Glocke heißt Johannesglocke, hat einen Durchmesser von 1,47 m und ein Gewicht von 1.253 kg. Ihre Inschrift: „O Land, Land, höre des Herr Wort. 1922.“

1928-30 wurde der Turm umfassend restauriert und wieder in seinen Originalzustand versetzt.

Im Zweiten Weltkrieg, am 25. Februar 1945, fielen zwei Bomben auf die Südwestecke des Turmes, prallten zwar ab, richteten dennoch erheblichen Schaden am Dachstuhl des Turmhelms an. Dabei wurden die 1906 gefertigten Chorfenster mit ihrer figürlichen Verglasung zerstört. Die Bomben beschädigten gleichzeitig das im Oktober 1927 dicht vor dem Turm aufgestellte „Löwendenkmal“ zum Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs; es wurde 1946 abgerissen. Die Beseitigung der Kriegsschäden dauerte bis 1953. 

1945 wurde die Turmuhr ausgebaut, die die Stadt der Kirchengemeinde 1893 geschenkt hatte. Leider konnte sie nicht mehr repariert werden, im Innenraum der Kirche ist sie heute ausgestellt.

Abb. 21: Der Turm mit den Kriegsschäden

Der Düsseldorfer Kunstmaler und Restaurator Puttfarken gestaltet die neuen Chorfenster, die die Gemeinde wegen ihrer Farbenpracht und Detailfülle erfreuten, solange ein Kreuz über dem Altar hing.

Abb. 22: Das Altarkreuz, das jahrzehntelang den Blick auf die Chorfenster ermöglichte

Im Zuge der Innenraumrestaurierung zwischen 1978 und 1982 wurde aber, verfügt durch das Landesdenkmalamt in Münster, das Altarbild von Christian Zucchi wieder über dem Altar aufgehängt, das 1906, weil es die schönen Chorfenster verdeckte, auf die südliche Empore verbannt worden war. Leider verdeckt es heute die zwei unteren Teile des mittleren Fensters. (vgl. Abb. 16)

Abb. 23: Blick in den Innenraum im Jahre 2020

Abb. 24: Christi Geburt; eins der neun Motive der Chorfenster von Puttfarken

Die Motive der Fenster Puttfarkens zeigen Szenen aus dem Neuen Testament und zeigen von links nach rechts
(Blickrichtung zum Altar): 

Linkes Fenster oben: Geburt Christi (Lukas 2, 1-20; Mitte: Taufe Christi (Markus 1,9-11; unten: Versuchung Christi (Matthäus 4,1-11

Mittleres Fenster oben: „Auge Gottes“, Symbol der Dreieinigkeit; Mitte: Christus der Auferstandene, der Erlöser; untern: Symbole des Abendmahles: Ähren, Trauben, Kelch

Rechtes Fenster oben: Petrus ruft: „Herr, hilf mir!“ (Matthäus 14,27-29); Mitte: Heilung der beiden Blinden (Matthäus 9, 27-30; unten: Kreuztragung (Johannes 19, 17)

Der Turm ist, wie alle alten Kirchen, eine ewige Baustelle (haben Sie den Kölner Dom schon einmal ohne Baugerüst gesehen?). Restaurierungen hat es in den Jahren 1821, 1864 (erster Blitzableiter), 1890/92, 1928/29, 1953 und 1995 gegeben. So gibt es einen Bericht des Kirchenvorstandes vom Januar 1820 an den Bürgermeister, in dem es heißt, „daß die notwendige Reparatur des Kirchturmes, der in der Höhe stark ausgewichen und dergestalt beschädigt ist, daß bereits einige sehr schwere Steine, mit großer Gefahr für die Vorbeigehenden heruntergefallen sind.“ Woraufhin der Turm mit Kalkmörtel „berappt“ (verputzt) wurde.

1973 begann die Restaurierung des Dachstuhls, der Dachhaut, Dachrinnen, ein moderner Blitzableiter wurde eingebaut. Und ein paar Jahre später, zwischen 1978 und 1982, wurde die ganz große Sanierung der Kirche in Angriff genommen, der gesamte Innenraum wurde auf den Zustand von 1897 zurückgeführt. Es wurde ein neues Fundament gelegt, gleichzeitig eine Fußbodenheizung eingebaut; es wurde die Kassettendecke von 1897 wieder hergestellt und das Altarbild von Christian Zucchi wieder an seinem ursprünglichen Platz über dem Altar aufgehängt; die Wände wurden farblich neu gestaltet, die Fenster (außer Chor) von Wilhelm Buschulte (1923 – 2013) aus Unna erneuert, die unaufdringlich eine angenehme Helligkeit zulassen; die beim Einbau des Fußbodenheizungen

Abb. 25: Die Fenster im Langhaus von Wilhelm Buschulte 

gefundenen Grabplatten der von der Reckes an den Wänden des Turmeingangs wie auch des Innenraums angebracht (vgl. Abb. 10); die Reckes waren eine der bedeutendsten Familien in unserer Gegend, deren Stammsitz Haus Reck in Lerche war. Jahrhundertelang hatte sie das Drostenamt (ein hohes Hofamt, später oft erblich) in Kamen und Unna inne; der Altar, die Kanzel und das Taufbecken von 1848/49, dem Jahr der Einweihung, blieben erhalten, doch wanderte die Kanzel zur nördlichen Chorarkade, ihre Standsäule wurde, den neuen Höhenverhältnissen angepaßt, verkürzt; am 26.9.1982 wurde die neue Orgel der Fa. Führer aus Wilhelmshaven eingebaut, sie hat 37 klingende Register, drei Manuale und ein Pedal;

Abb. 26: Die Führer-Orgel

1986 bekam die Pauluskirche auch ein Kunstwerk für ihren Außenbereich: das „Steinzeichen“ aus Baumberger Sandstein von Werner Ratering (1954 – 2017), eine mit dem Preßlufthammer vor Ort hergestellte überlebensgroße Figur, die an einen Pfarrer im Talar erinnert. Die Figur wendet sich von der Kirche aus an die Welt und verkündet die christliche Botschaft.

Abb. 27: „Steinzeichen“ von Werner Ratering

Und schließlich wurde 2014 das 1986 endlich verputzte Kirchenschiff auch noch gestrichen. Heute bietet sich Kamens ältestes Bauwerk, sein Wahrzeichen, in denkmalwürdigem Zustand, doch zeichnet  sich klar ab, daß weitere Maßnahmen notwendig sein werden. Die im Jahre 2007 aufgebrachte schützende Kunststoffhaut zeigt deutliche Wasserschäden, es wurde eben vor 900 Jahren keine Feuchtigkeitssperre eingebaut. Und im Frühjahr 2020 mußte im Gebälk des Turmhelms der Holzwurm mit den Namen „Totenuhr“ bzw. „Bunter Pochkäfer“bekämpft werden.  Die lange Geschichte der Turmreparaturen ist noch lange nicht zu Ende, wird nie zu Ende sein. Hoffentlich.

Abb. 28: Endlich gestrichen: das Langhaus

Spenden für den Erhalt des Turmes können auf Konto DE55 4435 0060 1800 0070 70  eingezahlt werden.

Fachbegriffe:

Droste = Verwalter einer Drostei: eines landesherrlichen Territorialamtes (auch: Truchseß = eines der vier klassischen Hofämter, eine Art Quartiermeister, da Landesherren damals viel auf Reisen waren, oberster Aufseher über die fürstliche Tafel; die anderen Hofämter: Schenk, Marschall, Kämmerer;)

Kirche ← ahd kiriha/kiliha ← griech kyriakós = zum Herrn gehörig (kyrios = Herr)

Eigenkirche = ecclesia propria: von einem Laien, meist aus dem Adel des Frankenreiches auf privatem Grund errichtete Kirche. Der Grundherr hatte das Recht der Investitur, ohne Einspruchsrecht des Bischofs

Hallenkirche: Schiffe von annähernd gleicher Höhe unter einem gemeinsamen Satteldach, Säulen im Innenbereich tragen nur Lasten, nicht das Gebäude

Saalkirche: einschiffiges Kirchengebäude

Zentralbau: die Hauptachsen sind gleich lang

Basilika (griech. Königshalle): ursprünglicher Name für ein großes, zu Gerichtssitzungen/Handelsgeschäften bestimmtes Gebäude; heute in der Regel romanische Basiliken; auch: Bau von eminenter Bedeutung

Literatur: 

Buschmann, Friedrich, Geschichte der Stadt Camen, Camen, 1841

Buschmann, Friedrich und Pröbsting, Friedrich, „Fortsetzung der Chronik über die Stadt und das Kirchspiel Camen“, o.O., 1899

Kistner, Hans-Jürgen, Ein seltsamer Springinsfeld, Grimmelshausen und seine Bedeutung für Kamen, Kamen o.J.

Pröbsting, Friedrich, Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden von Camen, Hamm, 1901

Simon, Theo / Franik, Leonhard, Die Pfarrkirche Hl. Familie in Kamen, Paderborn, 2002

Wieschhoff, Wilhelm und Finger, R., Die Baugeschichte der Pauluskirche (ursprünglich St. Severinskirche), Kamen, 1982, in: Festschrift zur Wiedereröffnung der Pauluskirche in Kamen

Wieschhoff, Wilhelm, Von der Severinskirche zur Pauluskirche, Abbruch und Neubau der größeren evangelischen Gemeinde zu Camen (ehemals St. Severin) in den Jahren 1841 bis 1849, Kamen 1998

KH

Bildquellen: Abb. 1, 4, 8, 9, 10, 18, 19, 20, 22, 23, 25, 26, 27, 28: Photos Klaus Holzer; Abb. 2: Heinz Stoob, Westfälischer Städtetatlas, Nr. 10, Dortmund 1975; Abb. 3, 12, 13: Wikipedia; Abb. 5, 17 21: Stadtarchiv; Abb. 6 & 15: Wilhelm Wieschhoff; Abb. 7: Original Ev.-luth. Kirchengemeinde Methler, Ausschnitt von KH; Abb. 11 & 14: Archiv Klaus Holzer; Abb. 16: Stefan Milk; Abb. 24: Ev. Kirchengemeinde Kamen

Klosterstraße & Schwesterngang

von Klaus Holzer

Am Kirchplatz stoßen diese beiden Straßen zusammen, und auf den ersten Blick ist erkennbar, was für einen Hintergrund diese Namengebung hat. Schwestern und Kloster – hier hat mal eines gestanden. Auch wenn das vielleicht gar nicht so klar ist, wie es den Anschein hat, denn eigentlich war es ein Beghinenhaus, aus dem später ein Kloster wurde. Für die Kamener war es immer das „Kloster“. Und so ist die Geschichte dieser beiden Straßennamen auch die Geschichte des „Klosters“.

Gegenüber der Pauluskirche, die ja vorreformatorisch einfach eine christliche Kirche, St. Severin, war, wurde schon zu Beginn des 15. Jh. ein Frauenkonvent1 gegründet, und zwar ursprünglich als ein Beghinenhaus. Dieser Konvent war kein Nonnenkloster, da die Frauen nicht in Klausur lebten, sondern einer außerhäuslichen Tätigkeit nachgingen. In städtischen Dokumenten ist von dem „Süsterhaus“ (= Schwesternhaus) auf der Vlotowe, Vlotauwe oder Marienove (Flußaue bzw. Marienaue) die Rede, d.h., das Haus lag nahe dem Flußufer. Es wird in einer Urkunde vom 14. Oktober 1411 zum ersten Mal erwähnt. Das waren „Jungfrauen und Witwen“ aus der Bürgerschaft Kamens, d.h., sie entstammten Kamener Bürger- und Burgmannenfamilien und wollten ein christliches Leben leben, jedoch ohne Klostergelübde. Sie legten ein Gelübde auf Zeit ab, das wohl jedes Jahr erneuert wurde. Es war ihnen gestattet, aus der Gemeinschaft wieder auszuscheiden und sich ein bürgerliches Leben aufzubauen.

Abb. 1: Die Pauluskirche, vom Schwesterngang aus gesehen (die Arkaden wurden um 1930 gebaut und in den 1960er Jahren abgerissen)

Die Bewegung der Beghinen stammt vom Beginn des 12. Jh. (der Name wird erst ab dem 15. Jh. von ihnen selbst gebraucht, sonst „Schwestern/Brüder/Brüdergemeinden“, „Waldenser“) in den Niederlanden, heute Belgien und Holland, und kam im Laufe des späten 13. Jh. nach Deutschland. Ursprünglich handelte es sich um religiöse Arbeits- und Lebensgemeinschaften, Brüder- (die nannten sich Begharden) und Schwesternhäuser, in denen arme und alte Personen unentgeltlich Wohnung, Heizung und Licht erhielten. Sie widmeten sich dem Gebet, aber auch der tätigen Nächstenliebe. Diese Stifte hatten große Ähnlichkeit mit den heutigen evangelischen Frauenstiften/Diakonissenhäusern.

Beghinenhäuser nahmen vor allem Witwen, Waisen, Frauen aus Arbeiter-, Handwerker- oder einfacheren Kaufmannsfamilien und dem niederen Adel auf. Soweit sie konnten, verdienten Beghinen sich ihren Lebensunterhalt durch alle möglichen Handarbeiten, Krankenpflege, Leichenwäsche und sonstige Tätigkeiten wie Waschen und Nähen. Sie übernahmen mit ihrer karitativen Tätigkeit Aufgaben – den Sozialstaat gab es noch nicht –, die sonst Klöster und die Kirche ausübten, ihnen fehlte aber der klösterliche Charakter und daher standen ihnen auch nicht deren Immunitätsprivilegien zu, d.h. ohne den Schutz, den die Kirche Klöstern gewährte.

Sie konnten aus dem Konvent wieder austreten und z.B. heiraten, während „richtige“ Nonnen „mit Jesus verheiratet“ waren, und das ein Leben lang, durch ein „ewiges Gelübde“ gebunden. Wirtschaftlich wurden die Beghinen sehr erfolgreich, was oft auf den Unwillen und Widerstand der örtlichen Handwerker traf, denen eine echte Konkurrenz erwuchs. Der Erfolg machte auch selbständig und selbstbewußt, was zusätzlich den Neid anderer erweckte. Und was machte man um diese Zeit in einer solchen Situation? Man warf diesen Frauen einen ketzerischen und unmoralischen Lebenswandel vor, vor allem, weil sie sich organisatorisch nicht von der römischen Kirche abhängig machten. Auf dem Vierten Laterankonzil 1215 wurde festgelegt, daß neue geistliche Gemeinschaften grundsätzlich nur nach bereits bestehenden Ordensregeln leben durften.

Seit 1311 erfolgten Maßnahmen, die man als Unterdrückung, aber auch als seelsorgerisches Verhalten verstehen konnte, war doch auch ein Motiv päpstlichen Handelns, diese Gemeinschaften nicht in Häresie2 abgleiten zu lassen. Am 7. März 1319 erließ Papst Johannes XXII. eine Bulle, die denen, die die 3. Regel des Hl. Franziskus annehmen wollten, Gnade zusicherte. 

Am 12. Februar 1453 wurden alle damals noch bestehenden Konvente wieder in die Kirche aufgenommen und ihnen die Rechte der Tertiarierinnen3 verliehen. Es war Kunne Hake, Oberin des Hauses in Kamen, die am 22. 9. 1470 (andere Quellen nennen den 4. Oktober 1470) die dritte Regel annahm, die für Laien galt, (die erste galt den Klosterbrüdern, den Mönchen, ursprünglich nach Franz von Assisi Minoriten genannt, die ihr Leben Gott weihten; die zweite den Nonnen, die „mit Christus verheiratet“ waren), wodurch das Beghinenhaus in ein Tertiarierinnenkloster umgewandelt wurde. Insgesamt gewannen durch diesen Akt Frauen– und Laienfrömmigkeit an Gewicht.

Daraufhin erhielten sie den Schutz von Johann I., Herzog von Kleve und Graf von der Mark (seit 1417 gehörte Kamen zu Kleve, Mark und Kleve gehörten schon seit 1391 zusammen), der sie gleichzeitig von Steuern und Landesdiensten befreite. Die Beghinen konnten im großen und ganzen so weitermachen, ihr weltliches mit einem religiösen Leben verbinden, mußten aber städtische Auflagen akzeptieren. Offenkundig waren bei dieser Angelegenheit wirtschaftliche Aspekte entscheidend. Z.B. wurde die Zahl der Schwestern auf 12 begrenzt, von denen 6 aus Kamen stammen mußten; behielt die Stadt die Hälfte des Vermögens, das jede neue Schwester ins Stift einbrachte, für sich ein, übernahm aber dafür die bauliche Unterhaltung des Klostergebäudes; verlangte Anteile an den Pfründen des Konvents; erlaubte später nur noch die Aufnahme von Kamener Frauen in den Konvent und bekam Mitspracherecht darüber eingeräumt wie auch bei der dauerhaften Aufnahme nach dem Noviziat4. So wurde der Konvent klein und unbedeutend gehalten. Bei allen Konflikten zwischen Stadt und Konvent setzte sich die Stadt durch.

Abb. 2: Katharina von der Mark

Bürgermeister und Rat der Stadt Kamen hatten auf Wunsch des Landesherrn 1473 die Einrichtung des Klosters „zur Ehre Gottes, aller Heiligen und besonders des hl. Franzikus und zum Schutze der Stadt“ genehmigt.

Seit 1470 wohnte Katharina, eine natürliche (= uneheliche) Schwester Herzogs Johann I. im Beghinenhaus. Sie besaß ein beträchtliches Vermögen, das sie für den Bau eines neuen Klosterhauses und einer Kapelle stiftete. Am 22.11.1475 wurde dieses Kirchlein feierlich eingeweiht. Dazu schreibt der Kamener Stadtchronist Friedrich Pröbsting: „Gott in seiner Mutter unter dem Geheimnis des Mitleidens in ihrer Seele zu ehren.“ Natürlich war wieder Anröchter Sandstein das Baumaterial. 1479 bekamen die Schwestern einen eigenen Geistlichen, ab 1481 erhielten sie ihren eigenen Kirchhof. Statt des eigenen Geistlichen, der ja auch hätte unterhalten werden müssen, ließen die Schwestern die geistlichen Handlungen jedoch durch einen der vielen Kamener Vikare vornehmen, bis 1622 im reformierten Kamen der letzte katholische Vikar an der Pest starb. Danach wurde das Stift vom Franziskanerkloster in Hamm geistlich betreut. Die Conventualinnen  sahen sich „genöthigt, zur Besorgung ihrer geistlichen Bedürfnisse jedesmal, in der dritten und vierten Woche, einen Geistlichen aus dem Franciscanerkloster zu Hamm, welches dafür jährlich ein kleines Geschenk an Korn erhielt, kommen zu lassen“. (Essellen)

Abb. 3: Lageplan des Klosters (Erläuterungen am Ende)

Eine besonders schwere Zeit hatte das Stift in der Zeit der Reformation zu bestehen, da fast alle Kamener Bürger sich nach 1553 dem lutherischen, ab etwa 1590 dem Reformierten Glauben zuwandten. So wurde der kleine Konvent zu einer „katholischen Insel inmitten eines protestantischen Meeres“ (Pröbsting). Die St. Severinskirche wurde protestantisch, die kleine Konventskirche zur einzigen katholischen Kirche.

Es kam zu einer Reihe weiterer, auch gerichtlicher Auseinandersetzungen zwischen Stadt und Konvent, Kamener Bürger belegten die Pfründen des Konvents und zahlten keine Pacht mehr an ihn. Doch der Konvent hielt durch. Später wurde sein Kirchlein katholische Pfarrkirche, der Konvent selber zur Keimzelle der heutigen katholischen Kirchengemeinde.

Das Ende begann 1803. Das Kloster (so wurde das Stift nun allgemein genannt) wurde am 4.7.1818 endgültig geschlossen, nachdem nach dem Reichsdeputationshauptschluß vom 25.2.1803 beim Reichtstag in Regensburg  durch Säkularisation4  (das war die letzte große Entscheidung durch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation) alle Kloster- und Kirchenvermögen durch den preußischen Staat eingezogen worden waren, man noch die Drangsalierung durch die französischen Besatzungstruppen (Napoleon) überstanden hatte. Teile Deutschlands wurden nach den napoleonischen Kriegen zunächst französisch, damit deutsches Territorium enteignet. Als Entschädigung dafür bekamen die deutschen Fürsten, deren Territorien beschnitten worden waren, Kompensation aus Kloster- und Kirchenvermögen. Auch das Kamener Kloster wurde enteignet, alle Landgüter konfisziert. Die Gebäude wurden von der neu etablierten katholischen Kirchengemeinde6 übernommen. Buschmann schreibt hierzu: „Des Königs Majestät geruhte allergnädigst, der neuen Gemeinde das sämmtliche noch vorhandene Klostergut, bestehend in den Gebäuden, dem Klostergarten, 2 anderen Gärten, einem Weidekamp, 161 Scheffeln Ackerland, 20 Morgen Waldung, 13 Thlrn. jährlicher Renten und 460 Thlrn. in Kapitalien, worauf im Ganzen an Schulden 330 Thlr. lasteten, zu schenken.“ Das reine Vermögen wurde auf „13415 Thaler und 55 Stüber“ (Pröbsting) taxiert.

Das Klosterkirchlein wurde 1841 wegen Baufälligkeit geschlossen, sein Nachfolger erst am Weihnachtstage 1848 mit einem feierlichen Gottesdienst geweiht. Doch war ihm kein langes Leben beschieden. Erste Bauschäden zeigten sich schon während des Baus, bald entstanden Risse in den Mauern, und durch den Bergbau wuchs die katholische Gemeinde unaufhörlich. Nachdem 1902 die neue, große Kirche Hl. Familie konsekriert worden war, dämmerte das Klosterkirchlein noch ein paar Jahre vor sich hin, wurde 1907 abgerissen.

Abb. 4: Die Pfarrkirche von Osten: das Klosterkirchlein von 1848

Und daher erinnern heute nur noch die Namen dieser beiden Straßen an die jahrhundertelange Geschichte des Kamener Klosters.

Abb. 5: Straßenschild Schwestergang

PS: Am 11. Mai 2017 berichtete der HA, daß dem Straßenschild „Schwesterngang“ ein „n“ fehlt. Seit vielen Jahren gehen wir also an diesem Schild vorbei und bemerken diesen Rechtschreibfehler nicht. Wir lesen meistens, was wir lesen wollen. Erst ein 15-jähriges Mädchen (aber auch nur eins!) schaut genau hin und sieht die Bescherung.

Doch schon Mitte Juli ist das Mißgeschick behoben.

KH

Fußnoten:

1 In der katholischen Kirche ist ein Konvent die Versammlung aller stimmberechtigten Mitglieder eines Klosters oder die Bezeichnung für das Kloster selbst.

2 Ketzerei

3 aus lat. tertius, a, um = der, die, das dritte

4 aus lat. novicius = Neuling, d.h., die Zeit, in der ein Neuling in das Klosterleben eingeführt wurde

5 Die Überführung kirchlichen Besitzes in weltliche Hände.

6 Dieser neu formierte Pfarrsprengel (auch Kirchspiel oder Kirchsprengel: der Bezirk, in dem eine Kirche und ihr Pfarrer zuständig war) bestand  aus der „Stadt Camen, sowie den Gemeinden Heeren, Ostheeren, Werve, Alten-, Lütgen- und Nordbögge, Lerche mit Reck, Rottum, Derne, Overberge, Bergcamen, Wedinghofen mit Tödinghausen (sic), Metheler, Altenmetheler, Westick, Wassercourl und Südcamen. Die Gemeinde soll jetzt 800 Seelen zählen“. (Buschmann)

Erläuterungen zu Abb. 3:

Lageplan des Klosters:

a. Die Einfahrt im Kloster Hofe    b. Der Hof    c. Ein Brunnen

d. Der Garten  e. Ein Wasser-Graben    f. Wege

g. Zwey Abfoh(laege), wo in einen ein Abtritt befindlich

h. Das Pater-Haus    i. Die Kirche    k. Verbindung der Kirche mit

l. des Kloster Gebäudes    m. Das Bau-Haus    n. Das Oeconomie-Gebäude

Letztere beÿde Gebäude sind verkauft

Quellen:

Friedrich Buschmann, Geschichte der Stadt Camen, o.O. 1841

Moritz Friedrich Essellen, Beschreibung und kurze Geschichte des Kreises Hamm und der einzelnen Ortschaften in demselben, Hamm 1851 (S.102 – 124: Die Stadt Camen)

Friedrich Pröbsting, Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden von Camen, Hamm 1901 

Theo Simon und Franik, Leonhard, Die Pfarrkirche „Heilige Familie in Kamen“, Paderborn 2002

Wilhelm Zuhorn, Geschichte des Klosters und der katholischen Gemeinde zu Camen (Kamen 1902).

Abbildungen:

Abb. 0 & 5: Photo Klaus Holzer; Abb. 1,  2 & 4: Stadtarchiv; Abb. 3: Simon/Franik

Schleppweg

von Klaus Holzer                                                             

Abb. 1. 

Straßennamen verändern sich immer wieder im Laufe der Zeit. Der Schleppweg z. B. hat eine ganz eigene Geschichte.

Der eigentliche Schleppweg ist die jetzige Südkamener Straße zwischen der Unnaer Straße und der Dortmunder Allee. In den 1920er Jahren wurde „unter dem Schleppwege“ eine Zechensiedlung gebaut. Aus den parallel untereinander laufenden Straßen wurde dann der Obere und der Untere Schleppweg. Nach der Anlage des neuen Friedhofs in Südkamen wurde aus dem Oberen Schleppweg die Südkamener Straße. Das „Untere“ wurde gestrichen, es gab ja nur noch einen Schleppweg.    

Der Name kommt ursprünglich von Schliepweg. Die Schliepe (von schleifen, ziehen) ist ein einfaches Holzgestell, das aus zwei gleich langen Stangen besteht, die durch Querstangen verbunden sind. Darauf nagelt man ein paar Bretter, dann läßt sich diese Konstruktion einfach ziehen. Mist aus dem Stall oder andere Dinge, mit denen man für kurze Wege die Radkarre nicht benutzen bzw. beschmutzen wollte, kamen auf die Schliepe. 

Was hat das nun mit dem Schleppweg zu tun? Dazu müssen wir wieder einmal einen kleinen Umweg in die Geschichte machen.

Ein Stück oberhalb des Schleppweges, am jetzigen Südweg, stand ein gegen Dortmund gerichteter Galgen, eine deutliche Warnung an Fremde, Gauner und Mörder. 

Kam es wirklich einmal zu einem Todesurteil, wurde der Nachrichter1 tätig, wurde das allgemein wie ein unterhaltsames Schauspiel betrachtet, das man sich natürlich nicht entgehen lassen wollte. Die Bürger zogen mit Kind und Kegel und Proviant zum Richtplatz, oft Rabenstein genannt, weil die Raben sich an den menschlichen Kadavern gütlich taten, und zertrampelten den Bauern ihre Äcker. Damit es auch eine richtige Belustigung gab, wurden die Delinquenten oft auf dem Schafott noch eine halbe Stunde dem Volk dargeboten. Manchmal wurde der Kopf noch „aufgesteckt“, d. h. zur länger andauernden Abschreckung auf einen Pfosten gesteckt, oft auch zusammen mit der rechten Hand.

Abb. 2. Auf dem Schindanger (Darstellung aus Hessen)

Zur Abschreckung blieben die Kadaver lange am Galgen hängen, und was dann nach Wochen noch übrig war, mußte jetzt irgendwie unter die Erde, allerdings nicht unter die geweihte auf dem Kirchhof, dort durften nur getaufte Unbescholtene beerdigt werden.

Und hierbei kam die Schliepe zum Einsatz. Nur die Ärmsten der Armen waren zu diesem Dienst bereit. Einen eigenen Wagen oder eine Karre hatten sie nicht, auch hätte ihnen niemand seine geliehen. Statt der Querbretter spannte man zwischen die Stangen ein altes Tuch, in dem später die Leiche eingewickelt wurde.

Doch wohin damit? Wie gesagt, auf den Kirchhof konnte sie nicht, ein gehenkter Verbrecher bekam kein christliches Begräbnis, er „kam ja auch nicht in den Himmel“. Es ist nicht immer ganz klar, wo eine solche Leiche verscharrt wurde. In Kamen gibt es leider keine Quelle, die uns Heutigen hierüber Auskunft geben könnte. Doch gab es offenbar unterschiedliche Verfahrensweisen. Am weitesten verbreitetet war das Verscharren auf dem Schindanger2, dem „Anger, an dem das gefallene Vieh geschunden wurde“ (Grimmsches Wörterbuch; „schinden“ heißt: die Haut abziehen, nämlich den Tierkadavern). Das machte der Schinder, heute nennen wir ihn „Abdecker“.

Mancherorts wurden sie wohl auch auf dem Armenfriedhof verscharrt. Dieser lag meistens vor der Mauer und war für Fremde bestimmt, die kein Geld für die Stolgebühren3 hatten, für Ungetaufte und Ausgestoßene.  

Abb. 3. 

Und es steht zu vermuten, daß das Verscharren manchmal auch sehr profan auf einem sogenannten Filleplatz2 vorgenommen wurde. In Kamen lag einer, der für die Mühlenschicht4, auf dem Gebiet mit der Flurbezeichnung Steinacker, ein Stück unterhalb des Schleppweges. Ein solcher Filleplatz wurde angelegt, weil Schlachtreste und Tierkadaver nun einmal da waren und daher entsorgt werden mußten. Dort stand er unter der Aufsicht der zuständigen Schicht, der Mühlenschicht, so daß man sicher gehen konnte, daß von einem solchen Filleplatz keine Seuchengefahr ausging.

Vielleicht wurden die armen Sünder in Kamen  auch dort verscharrt, wer weiß? 

KH, unter Verwendung eines Artikels von Edith Sujatta

Abbildungen: Abb. 1 & 3: Photo Klaus Holzer; Abb. 2: Elfriede Koch, Sozialnetz Hessen

1 Nachrichter – synonym mit Scharfrichter

2 Schon in germanischer Zeit ein Stück Grasland vor oder nahe einer Siedlung, das allen gemeinsam gehörte. Dort gab es gemeinschaftliche Feste, Backen oder Schlachten. Der Schindanger hieß in Kamen Filleplatz und diente dem Abdecker zur Beseitigung von Tierkadavern, was aus hygienischen, d.h., gesundheitlichen Gründen enorm wichtig war.

3 Vor der Einführung der Kirchensteuer 1919 die Gebühren, die der Priester für alle Tätigkeiten nahm, zu denen er die Stola umlegen mußte, das waren die sog. Kasualien wie Taufe, kirchliche Trauung und kirchliche Begräbnisfeier. Ausgenommen von der Stolgebühr waren immer: Kommunion bzw. Abendmahl, Beichte, Kranken- und letzte Ölung. Mancherorts gibt es noch heute Stolgebühren.

4 Kamen war früher in Schichten eingeteilt, Nachbarschaften, die jeweils einem Stadttor zugeordnet waren, für das sie verantwortlich waren. Es gab eine Fülle von öffentlichen und sozialen Pflichten innerhalb solcher Nachbarschaften.

Die Kamener Sesekebrücken

von Klaus Holzer

Die Bedeutung von Brücken ist für die Entwicklung von Städten, Handel und Verkehr kaum zu überschätzen. Ohne sie hätte ein Fluß immer Hemmnis, Trennung bedeutet. Die Kunst des Steinbrückenbaus war mit dem (west)römischen Reich Ende des 5. Jh. untergegangen. In den folgenden zwei Jahrhunderten, während der Zeit der Völkerwanderungen, gingen viele weitere Kulturtechniken verloren. Erst um die Zeit Karls d.Gr. begann zaghaft eine Wiederbelebung aller Bereiche menschlicher Zivilisation, darunter auch der Brückenbau. Zunächst waren es einfache Holzbrücken, weil Holz eben das reichlich zur Verfügung stehende Baumaterial war und es leichter zu beherrschen ist als Stein. Aber Holz ist kein so beständiger Werkstoff wie Stein, es verrottet, wird von Fluten leichter fortgespült, kann auch brennen. Erst zu Beginn des 12. Jh. begann der Steinbrückenbau in Deutschland. Die beiden großen Steinbrücken von Regensburg (Baubeginn 1135) und Würzburg (Baubeginn ebenfalls im 12. Jh.) waren die ersten. Und nicht zufällig waren das 12. und 13. Jh. auch die Zeit der vielen Stadtgründungen.

Obgleich Kamen ebenfalls an einem Fluß entstand, war hier alles viel bescheidener. Es gab jahrhundertelang keine Brücke, nur eine Untiefe, die Sesekefurt, gegenüber dem „Bollwerk“, das seinen Namen dem Bohlenweg verdankt, den findige Ursiedler hier über die Furt und den breiten Sesekesumpf legten. Erst 1695 wird in einer Kamener Urkunde die Maibrücke erwähnt, die damit Kamens älteste bekannte Brücke ist. Natürlich wird es auch früher schon Brücken gegeben haben, kleine Holzbrücken, ohne die keine Gemeinde auskam, überall gab es Bäche und andere Rinnsale, die, auch mit Karren, zu überwinden waren, wenn man seinen täglichen Geschäften nachging.

Kamen hat viele Brücken (und Unterführungen): Fußgängerbrücken, Straßenbrücken, Autobahnbrücken, Eisenbahnbrücken, Flußbrücken, die Hochstraße, die gleich über mehrere, unterschiedliche Verkehrssituationen hinüberführt. Insgesamt sind es 83 Brücken (lt. Vermögensbilanz der Stadt Kamen von 2016). Die meisten von ihnen haben keinen eigenen Namen, finden sich einfach im Verlauf von Straßen oder Trassen. Anders verhält es sich mit den Kamener Sesekebrücken, die zwar in der Regel auch keinen Namen führten, bis auf wenige Ausnahmen: Maibrücke, Vinckebrücke und, natürlich, die Fünfbogenbrücke, die schönste von allen (war einmal: vgl. Artikel „Fünfbogenbrücke“).

Doch zum Jubiläum der Kamener Städtepartnerschaften mit Montreuil-Juigné in Frankreich und Ängelholm in Schweden im Jahre 2013 machte der Kultur Kreis Kamen den Vorschlag, allen bis dahin namenlosen Kamener Brücken den Namen einer Partnerstadt zu geben. Was besonders einleuchtend war, als es seit 2001 bereits die „Partnerschaftsbrücke“ gab. So geschah es. Von der Fünfbogenbrücke an sesekeabwärts heißen die Brücken folgendermaßen:

1. Montreuil-Juigné-Brücke: Sie verbindet die Wittenberger und die Henri-David-Straße. Sie wurde 1975 gebaut, ist 13,5 m lang und 2,40 m breit. Fußgänger und Fahrradfahrer im Kamener Osten wissen die Abkürzung zu schätzen.

Abb. 1: Brücke von Montreuil-Juigné

2. Unkeler Brücke: Diese Brücke liegt in der Schneise, die der frühere Kamener Stadtbaurat Gustav Reich (vgl. Artikel dazu unter „Kamener Köpfe“) vor dem Krieg als Umgehungsstraße plante, um den starken Verkehr, den er voraussah, aus der Kamener Altstadt herauszuhalten. Wäre es zur Ausführung dieser Planung gekommen – wer weiß, vielleicht wäre Kamen die doch trennende Hochstraße erspart geblieben? So aber ist ein relativ breiter Grünstreifen, stellenweise parkartig, übriggeblieben, der ein kleines Naherholungsgebiet darstellt. Diese Schneise führte als direkte Fortsetzung des Ostrings durch Kamens Osten und sollte im Süden in die Unnaer Straße münden. Die Holzbrücke wurde 1983 gebaut, ist 19 m lang, 3,50 m breit.

Abb. 2: Unkeler Brücke

3. Ängelholmer Brücke: Sie war bis in die 1920er Jahre als kleine Holzbrücke für den Verkehr aus den östlichen Richtungen vorhanden, wurde anschließend (vgl.Suleçinbrücke) von Gustav Reich erneuert. Noch 1953 wird sie als Wirtschaftsbrücke neu gebaut Seit der Sesekedamm eine Art innerer Ring ist, der die Innenstadt entlastet, ist auch diese Strecke stark frequentiert. Die heutige Brücke ist 10,00 m lang und 16,70 m breit.

Abb. 3: Ängelholmer Brücke

Ihre Vorgängerbrücke war eine reine Wirtschaftsbrücke, wie sie für den damaligen Gebrauch geeignet war, gleich lang, aber nur 3,00 m breit. 

Abb. 4: Wirtschaftsbrücke

4. Beeskower Brücke: Sie ist eine Fußgänger- und Radfahrerbrücke, wurde 1981 gebaut als Nachfolgebrücke einer Vorgänger-Holzbrücke, sie ist 10,35 m lang und 2,00 m breit. Sie kürzt den Weg zwischen Innenstadt und Mersch beträchtlich ab.

Abb. 5: Beeskower Brücke

5. Partnerschaftsbrücke: Die Bogenbrücke aus Stahlbeton wurde 2002 in Betrieb genommen, damit die Maibrücke vom Verkehr entlastet werden konnte. So wurde eine bessere Verteilung des innerstädtischen Verkehrs durch den vorgelagerten Kreisverkehr erreicht. Es konnte der „Verkehrsschluß Innerer Ring“ angelegt werden, der die Bahnhofstraße entlasten sollte, die ab 2010 umgebaut und nach Fertigstellung im Dezember 2012 in Betrieb genommen wurde. Die Entlastung der Bahnhofstraße wurde nicht erreicht. Die Brücke ist 16,50 m lang und 11,00 m breit.

Abb. 6: Partnerschaftsbrücke

6. Maibrücke: Die älteste Kamener Straßenbrücke, 1695 zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Wahrscheinlich war das eine einfache Holzbrücke, denn eine Urkunde im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem vom 3.8.1737 belegt einen „staatlichen Zuschuß zum Bau der (meine Hervorhebung) Sesekebrücke“. Dennoch wird nicht klar, was für eine Brücke das genau war, denn nur 60 Jahre später, in einer Urkunde vom 10.7.1798, bestätigt die Stadt Kamen den Empfang eines Darlehens „zur Bezahlung der Baukosten der (meine Hervorhebung) neuen Steinbrücke über die Seseke“ (beide Male ist die Rede von „der“ Brücke, also war es die einzige). In der heutigen Form gibt es sie seit 1923. Bis dahin war sie immer noch die einzige Kamener Straßenbrücke. Während ihrer Reparatur mußten Bauern, die zum Markt wollten, weite Umwege über Rottum bzw. Weddinghofen in Kauf nehmen. Sie lag beim Mühlentor, das zusätzlich durch eine Homey geschützt war, die auch zur Einnahme der Akzise genutzt wurde. Diese Brücke wurde naturgemäß stark frequentiert, da über sie aller Verkehr zwischen Lippe und Hellweg verlief. (vgl.a. Artikel „Maibrücke“, darin „Homey“). Die heutige Brücke ist nach der Sanierung im Jahre 2002 eine Plattenbrücke aus Beton mit Stahlträgern. Sie ist 10,50 m lang und 13,70 m breit.

Das vorliegende Detail der technischen Zeichnung zur Erneuerung der Maibrücke stammt vom Mai 1921 und ist noch von der Seseke-Genossenschaft Dortmund erstellt. Erst 1925 vereinigten sich Seseke-Genossenschaft und Lippeverband.

Abb. 7: Plan der Maibrücke von 1921

Abb. 8: Die neue Maibrücke

7. Vinckebrücke: Sie wurde 1923 als direkte Verbindung zwischen vorgelagerten südlichen städtischen Bereichen und der Altstadt gebaut, da die Maibrücke wegen ihrer notwendigen Sanierung bzw. (fast) Neubau längere Zeit geschlossen war, außer für die Kleinbahn UKW, die Straßenbahn. Ihr Bau bedeutete eine deutliche Zeitersparnis für Fußgänger (und das waren die meisten Leute damals) aus Südkamen und Kamen-Süd zur Innenstadt. Der zur Vinckebrücke führende Weg links der Seseke hieß 1949 noch Vinckestraße und reichte von der Bahnhofstraße bis zum Schwesterngang, die Klosterstraße mündete an der kath. Schule (Josefschule) in die Vinckestraße.

Abb. 9: Die Bindebrücke im Bau

Als die Binde(Vincke)brücke 1923 gebaut wurde, herrschte Inflation, lag die Wirtschaft am Boden. Zum Bau verwendete man offenbar minderwertiges Material, denn schon im Herbst 1930 war sie so marode, daß sie gesperrt werden mußte. Diese Sperrung geschah ohne Ankündigung und ohne Beschilderung, weswegen die vielen Fußgänger zwischen Süden und Westen der Stadt, hauptsächlich Schulkinder und Kirchgänger plötzlich davor standen, umkehren mußten und viel Zeit einbüßten. Erst nach einer Woche wurde die Sperrung beschildert. Die Empörung bei den Kamenern und in der Kamener Zeitung war groß. Als Ersatz für die alte Brücke sollte es zunächst nur ein Provisorium geben, weil mit einer „fahrbaren Brücke in absehbarer Zeit zu rechnen“ sei (Ratsvorlage vom 2.3.1931). Kosten des Provisoriums: knapp 1.000,00 Reichsmark, „wenn ein Teil der erforderlichen Nebenarbeiten (…) von Pflichtarbeitern besorgt werden kann“ (dto.). 

Abb. 10: Die alte Vinckebrücke

Die alte Vinckebrücke war eine Holzbrücke, ca. 11,50 m lang und 2 m breit. Bei Regen war sie sehr rutschig.

Die neue Vinckebrücke ist eine Einfeldträgerbrücke aus Stahl und Stahlbeton. Sie 12,50 m lang und 3 m breit. Sie wurde am 15.8.2018 montiert und mit der Eröffnung des Sesekeparks am 22. 9. 2018 in Betrieb genommen.

Abb. 11: Die neue Vinckebrücke 

8. Suleçin-Brücke (Koppelstraßenbrücke): Sie wurde 1924 in Betrieb genommen. Sie war Teil der umfassenden stadtplanerischen Maßnahmen des damaligen Kamener Stadtbaurats Gustav Reich (vgl. Artikel dazu unter „Kamener Köpfe“). Die alte Maibrücke war baufällig geworden und mußte saniert werden. So wurde die Notwendigkeit einer weiteren Straßenbrücke deutlich.Sie ist 10,00 m lang und 13,20 m breit.

Abb. 12: Suleçin-Brücke

9. Eilater Brücke: Sie war bis zum Ende des Bergbaus in Kamen 1983 Bestandteil der Zechenbahn zwischen Monopol und der Reichsbahn bzw. dann der Deutschen Bundesbahn. Was sich als sehr nützlich erwies, als die Fränkische Energiegesellschaft mbH das Bergwerk zu 100% übernahm. So spürte Kamen die Auswirkungen der ersten frühen Kohlekrise seit Ende der 1950er Jahre gar nicht. Täglich rollten ganze Züge voll Kamener Kohle nach Nürnberg, an der Verladestation neben der Westicker Straße, gegenüber Pumpen-Weller, an die DB übergeben. Seit Anfang des Jahrtausends zum Rad– und Spazierweg umgebaut. Sie ist 11,52 m lang und 3,66 m breit.

Abb. 13: Eilater Brücke

10. Bandirma-Brücke: Diese ist keine Sesekebrücke, sondern führt über die Körne, den größten Nebenfluß der Seseke, liegt jedoch gleich neben ihrer Mündung in die Seseke. Da aber für alle sieben Partnerstädte eine Brücke gebraucht wurde, kam sie gerade recht, da Umtaufen vorhandener Brücken nicht in Frage kam. Die Länge beträgt 12,30 m, ihre Breite 3,80 m.

Abb. 11: Bandirma-Brücke

Nimmt man die Fünfbogenbrücke, eine Eisenbahnbrücke, hinzu, hat Kamen-Mitte also neun Sesekebrücken, die Körnebrücke am Klärwerk hier aufgenommen. Die Länge der Brücke ist 12,30, die Stützweite beträgt 3,80 und der lichte Abstand ist 3,30m

Verglichen mit der Situation in früherer Zeit, haben wir heute wirklich keinen Grund mehr, über zu wenige Brücken zu klagen, zumal uns Umwege nicht mehr halbe Tage kosten. Das Auto und andere Verkehrsmittel bringen uns schnell überall hin. Was die Reparatur einer Brücke bedeuten kann, erkennen wir, wenn wir die Diskussion über die Lippebrücke bei Werne verfolgt haben. Wäre diese während des jahrelangen Um- bzw. Neubaues komplett gesperrt worden, wären Umwege über Hamm im Osten und Lünen im Westen notwendig geworden. Und das ist dann selbst mit dem Auto deutlich spürbar, das kostet Zeit und geht ins Geld.

KH

Bildquellen:    Abb. 4 & 7: Stadt Kamen, Tiefbauamt; Abb. 9: Stadtarchiv Kamen; alle anderen: Photo Klaus Holzer

Die Mühlenstraẞe in Kamen-Mitte

von Klaus Holzer

Sie wissen, daß es eine Mühlenstraße in Westick gibt? Aber Sie wissen nicht, daß es auch in Kamen-Mitte (damals noch ohne „Mitte“) eine Mühlenstraße gab? Kein Wunder, gibt es sie doch seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. nicht mehr. Es handelt sich bei ihr um das obere Stück der Bahnhofstraße, vom Markt bis zur Maibrücke. Sie führte also vom Mittelpunkt der Ackerbürgerstadt zu einem der wichtigsten Handwerke einer jeden mittelalterlichen Stadt: dem Müller. Eike von Repgow legt in seinem ca. 1220/30 entstandenen „Sachsenspiegel“ dar, für wie wichtig Mühlen damals gehalten wurden. Daraus ging klar hervor: Auf Mord, Beraubung einer Kirche, einer Mühle oder eines Friedhofs steht die Strafe des Räderns! Das war die schlimmste vorstellbare Strafe. Ausrauben einer Mühle wurde mit Mord, Schändung von Kirche und Friedhof gleichgestellt!

In dieser Abbildung ist übrigens die Ähnlichkeit des Mühlrades mit dem Kammrad im Kamener Stadtwappen, das aus derselben Zeit stammt, frappierend. 

Abb. 1: Eike von Repgow, Sachsenspiegel

Die Mühlenstraße war Teil des wichtigen Straßenkreuzes in Kamen, Ost–, Nord–, Weststraße, dazu Am Geist, die Diagonale über den Markt, und die Fortführung nach Süden zum Hellweg über die Mühlenstraße. Sie führte als einzige Straße über die Seseke und war durch ihre Lage und Bedeutung wohl die am stärksten frequentierte Straße. Dreimal in der Woche war in Kamen Markt, zweimal für je eine Woche Jahrmarkt, von Graf Adolf I., Grafen von der Mark, der zwischen 1249 und 1277 regierte, zugestanden und von Graf Adolf II am 4. Juli 1346 bestätigt. Dann  strömten Händler, Gaukler und Bauern in die Stadt, um Geschäfte zu machen, die Kamener mit allem zu versorgen, was sie nicht selber herstellen konnten, sie zu unterhalten und natürlich auch mit den neuesten Nachrichten aus aller Welt zu versorgen.

Abb. 2 – 4: Kaufleute, Gaukler und Bauern hatten alle ihren festen Platz in der Stadt

Die Brücke muß man sich bis gegen Ende des 18. Jh. als einfache Holzbrücke vorstellen, die jedoch den damaligen Ansprüchen wohl genügte, schließlich waren auch die Fuhrwerke der Händler meist recht bescheidene Fahrzeuge, deren Last nicht sehr hoch war. Pferde mußten sie bei jedem Wetter über unbefestigte Straßen ziehen können, die beim leichtesten Regen zu Schlammlöchern wurden.

Abb. 5: Ein Wagen, wie ihn die Hansekaufleute benutzt haben

Preußen hatte 1717 die Akzise wieder eingeführt, eine Steuer auf Waren, die beim Eintritt in eine Stadt zu entrichten war. Das machte man nun in jeder Stadt, überall hatten Händler diese Steuer zu entrichten, was die Geschäfte beträchtlich behinderte. Schon damals taten sie daher etwas, was auch heute noch Usus ist: sie schlugen die Kosten der Akzise auf den Preis auf (heute ist das die MWSt). Schließlich erkannten die preußischen Behörden das Problem und schafften die Steuer gegen Ende des Jahrhunderts wieder ab.

Das scheint zu einem Anwachsen des Handels geführt zu haben, vielleicht auch zu größeren Fuhrwerken. Wie auch immer, es fällt auf, daß die Stadt Kamen zur selben Zeit, 1797, die Notwendigkeit erkennt, die „Homeybrücke“1 zu erneuern, und nicht nur wieder eine Holzbrücke, sondern jetzt eine richtige Steinbrücke zu bauen.

Aber Kamen ist arm, der Glanz und Reichtum der Hansezeit sind lange dahin. Man tat das, was ebenfalls auch heute noch üblich ist: man nimmt Darlehen auf. Aber es gibt noch keine Sparkassen und Banken. Man muß sich das Geld bei reichen Bürgern leihen. 

Hier eine Aufstellung dieser Darlehen:

10. Juni 1797, 500 Reichsthaler von Doktor Proebsting2, städt. Einnahmen als Pfand,

10. Juni 1797, 500 Reichsthaler von Prediger Hecking in Bönen, städt. Einnahmen als Pfand,

10. Juli 1798,  395 Reichsthaler von Stadtkämmerer Rediger, städt. Einnahmen als Pfand,

10. Juli 1798, 200 Reichsthaler vom Armenhospital in Kamen, städt. Einnahmen als Pfand, 14 Tage später von der Kriegs- und Domänenkammer in Hamm3 genehmigt. Insgesamt lieh sich die Stadt also 1595 Reichsthaler.4

Die zwei Darlehen vom Juni 1797 sind ausdrücklich zur Bezahlung der Kosten für die neue Steinbrücke über die Seseke gedacht, die beiden von 1798 ebenfalls für die Steinbrücke, doch auch, und das ist bemerkenswert, für das Straßenpflaster. 1798 wird die Mühlenstraße als erste Straße in Kamen mit einem Steinpflaster versehen!

Es dauerte lange, bis Kamen diese vier Darlehen getilgt hatte. Das an Hecking war am 15. November 1825 getilgt, das Rediger-Darlehen am 2. Dezember 1829, das des Armenhospitals am 9. Juli 1838. Von der Tilgung des Darlehens von Dr. Proebsting ist in diesen Urkunden nichts zu finden.

Im Vergleich zu der Gewaltleistung, die der Bau der Stadtmauer bedeutete, waren der Bau der Brücke und die Pflasterung der Straße sicherlich leicht zu bewältigen5. Spätestens Anfang des neuen Jahrhunderts dürfte beides fertig gewesen sein. Bis 1923 war diese Brücke die einzige Straßenbrücke in Kamen. Sogar die Kleinbahn UKW6 hat sie noch erlebt. Dann aber war sie unrettbar beschädigt. Sie mußte abgerissen und eine neue gebaut werden.

Abb. 6: Die alte Maibrücke, 1985

 2001 wurde sie saniert und vom motorisierten Verkehr befreit. Heute ist sie Bestandteil des neuen Sesekparks, der im Jahre 2018 der Kamener Bevölkerung übergeben wurde.

Abb. 7: Die neue Maibrücke

Quelle der Abbildungen:

Abb. 1: aus: Aufruhr 1225! Das Mittelalter an Rhein und Ruhr, Darmstadt 2010; das Mühlenrad (oben) auf einer Darstellung im Sachsenspiegel des Eike von Repgow aus den 1220/30er Jahren, wie es auch im Kamener Stadtwappen zu sehen ist.

Abb. 2: Bernd Fuhrmann, Die Stadt im Mittelalter, Stuttgart 2006, S. 57

Abb. 3: Bernd Fuhrmann, Die Stadt im Mittelalter, Stuttgart 2006, S. 27

Abb. 4: Stadtarchiv Kamen

Abb. 5: Archiv Klaus Holzer

Abb. 6: Wikipedia

Abb. 7: Photo Klaus Holzer

1 Zur Erklärung des Namens vgl. Artikel „Maibrücke“

2 Wahrscheinlich Dr. med. Philipp Ludwig Pröbsting, geb. 26. Mai 1735, gest. 23. April 1812, der Großvater des bekannten Stadtchronisten.

3 Die Reichs- und Domänenkammern wurden in Preußen 1723 als Provinzialbehörden eingeführt, ab 1815 in die preußischen Bezirksregierungen umgewandelt.

4 Auch wenn heute nicht mehr sinnvoll erschlossen werden kann, wieviel diese Summe seinerzeit wirklich bedeutete, wird aber im Verhältnis ersichtlich, was für eine gewaltige Summe das war, wenn man einmal die Zahlen für einen städtischen Haushalt damit vergleicht. Pröbsting führt in seiner Kamener Stadtgeschichte detailliert auf, wie die Zahlen für 1702 sind: Einnahmen – 867 Thaler, 45 Stüber; Ausgaben: 963 Thaler, 9 Stüber; das ergibt einen Negativsaldo von 96 Thalern, 4 Stübern! Auch wenn die Zahlen fast 100 Jahre später vielleicht etwas andere sind, die prekäre Situation wird deutlich. Versuch der Annäherung des Wertes des Reichsthalers um jene Zeit: 1818 erhielt ein Schullehrer, der gleichzeitig Organist und Küster war, 100 Reichsthaler im Jahr. 

5 vgl.a.Artikel „Mühlentorweg“

6 So hieß die Straßenbahn, die von 1909 bis 1950 zwischen Unna, Kamen und Werne verkehrte.

KH

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: 70 Jahre gelebte Freiheit und Demokratie.

Bei der folgenden Zusammenfassung handelt es sich um Teil IV des 15. ZZ des KKK, verfaßt und vorgetragen von Dr. Heinrich-Wilhelm Drexhage

Am 23. Mai 1949 wurde in Bonn vom Parlamentarischen Rat das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Dieses Datum markiert den Beginn der längsten Periode von Frieden, Freiheit und Demokratie in der Geschichte Deutschlands.

Abb. 1: Der Parlamentarische Rat

Dieses GG ist auf den schrecklichen Erfahrungen der deutschen Geschichte aufgebaut: wie die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, zwischen den extremen rechten und linken Parteien zerrieben wurde, zu ihrem Spielball wurde, obgleich, oder auch weil, sie in ihrer Verfassung eine besonders freiheitliche Grundordnung aufwies. So scheiterte sie wegen ihrer großen Liberalität und ging schließlich im Wüten der Nationalsozialisten unter. Damit gab es keine Freiheit mehr. 

Erst nach der Zerstörung Deutschlands besannen sich die Männer und Frauen des Parlamentarischen Rates auf die Ideen der Denker früherer Jahrhunderte und verfaßten ein GG, das allgemeine Gültigkeit beanspruchte. Daher lautet der erste, so einfache, aber folgenschwere Satz des GG:  Art. 1(1) „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Damit ist der Grundton vorgegeben: der einzelne Mensch steht im Mittelpunkt alles staatlichen Handelns. Ein Satz mit einer Tragweite, der sich in keiner anderen Verfassung in der Welt findet. Die Menschenwürde ist als „vorstaatlich“ gegeben, als von Natur aus vorhanden.

Weitere grundlegende Artikel: Art. 2 (1) „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

Art. 4(1) „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“

Art. 5: (Meinungs-, Informations-, Presse-, Rundfunk-, Film-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit)

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugängigen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Diese Grundrechte bilden den Prüfstein für ein funktionierendes Staatswesen und eine freie pluralistische Gesellschaft. Da das Bunderverfassungsgericht festgestellt hat, daß das „Kommunikationsrecht zu den vornehmsten Menschenrechten überhaupt“ gehöre, werden die Grenzen hier sehr weit gezogen. Es gibt nur sehr wenig, was in Deutschland nicht gesagt werden darf, das wichtigste: Leugnung des Holocausts und Verherrlichung des Nationalsozialismus sind unter Strafe gestellt, Ergebnis historischer Erfahrung.

(Zusammenfassung von Klaus Holzer)

Bildquelle: Abb. 1: Bundesarchiv

Freiheit: ein kurzer kultur– und ideengeschichtlicher Überblick

Bei der folgenden Zusammenfassung handelt es sich um Teil III des 15. ZZ des KKK, verfaßt und vorgetragen von Dr. Heinrich-Wilhelm Drexhage

Der Begriff der Freiheit: Kurzer kultur- und ideengeschichtlicher Überblick

Im zweiten Teil des Abends gab Dr. Drexhage einen Überblick über die Entwicklung des Begriffs der Freiheit in den letzten zweieinhalbtausend Jahren, beginnend mit Perikles (um 500 – 429 v.Chr.) in der klassischen griechischen Antike. Er erläuterte ausführlich das Verständnis von Freiheit dieses bedeutenden Staatsmannes und wie sich dieser Begriff im Alltag Athens darstellte: die griechische Polis ist der Schlüssel zum Verständnis der griechischen Antike und ihrer politischen Kultur. In ihr gab es zum ersten Mal eine freiheitliche demokratische Grundordnung, die alle Männer, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und gesellschaftlichen Stellung, in die politischen Entscheidungsprozesse einbezog.

Abb. 1: Perikles & die Akropolis

Im römischen Reich hat es hingegen niemals eine demokratische Verfassung gegeben, allenfalls eine gewisse Unabhängigkeit der „coloniae“, der Städte, in Deutschland Köln, Xanten und Trier. Immerhin stellten Marc Aurel und Seneca, die die um 300 v.Chr. gegründete griechische Philosophenschule der Stoa für Rom adaptierten, fest, daß es für den Menschen keine äußere Freiheit geben könne, da er ihre Voraussetzungen nicht kontrollieren könne, weswegen seine innere Freiheit entscheidend sei. 

Abb. 2: Seneca & Marc Aurel

Im Hochmittelalter herrschte eine streng gegliederte Ständeordnung, die kaum Freiheit ließ. 90% der Bevölkerung waren Bauern und damit „Unfreie, Leibeigene, Hörige“. Erste Ansätze gab es in England, wo 1215 die „Magna Charta Libertatum“ („Große Urkunde der Freiheiten“) dem Adel grundlegende politische Freiheiten gegenüber dem König verbriefte.

In Deutschland verfaßte zwischen 1220 und 1235 der Ritter und Rechtskundige Eike von Repgow das Rechtsbuch „Sachsenspiegel“, in dem er feststellte: „Als man zum ersten Male Recht setzte, da gab es noch keinen Dienstmann und waren alle Menschen freie Leute […]. Ich kann es auch mit meinem Verstande nicht für Wahrheit halten, daß jemand das Eigentum eines anderen Menschen sein soll.“

Abb. 3: Eike von Repgow

Und als im 12. Jh. in Deutschland mehr und mehr Städte, und damit Bürger, entstanden, gab es auch immer mehr Freiheit: „Stadtluft macht frei.“

Im Spätmittelalter begannen die Menschen zunehmend, ihre Unfreiheit als bedrückend, als Belastung zu empfinden, was in den Bauernkriegen 1525 kulminierte. Die Aufstände wurden jedoch von den Fürsten brutal unterdrückt, die Feudalordnung hatte weiter Bestand.

Abb. 4: John Locke

Erst die Aufklärung bringt deutlichen Fortschritt. Ein früher Aufklärer, der Engländer John Locke (1632 – 1704) beschrieb die Grundvoraussetzungen für eine gedeihliches Staatswesen: dieses habe nur den Zweck, Freiheit, Eigentum, Leben und körperliche Unversehrtheit seiner Bürger zu schützen. Und er formulierte as erster, alle Gewalt im Staate müsse vom Volk ausgeübt werden.

In Frankreich war es vor allem Montesquieu (1689 – 1755) der die Grundlagen für den modernen Verfassungsstaat legte. Sein Landsmann Voltaire (1694 – 1778) kämpfte zeitlebens für Menschenrechte, Freiheit und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz.

Abb. 5: Immanuel Kant

In Deutschland war es vor allem Immanuel Kant (1724 – 1804), für den Freiheit, Vernunft bzw. Verstand zentrale Begriffe seiner Philosophie waren: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Daher gelte: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Und weiter: „Zu dieser Aufklärung wird aber nichts mehr gefordert als Freiheit […], nämlich die, von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. Der öffentliche Gebrauch der Vernunft muß jederzeit frei sein und der kann allein Aufklärung unter Menschen zustande bringen.“ Damit war die Grundlage für die Würde des Menschen und seine Freiheit gelegt.

Abb. 6: John Stuart Mill

Besonders wirkungsmächtig war im 19. Jh. der englische Philosoph und Politiker John Stuart Mill (1806 – 1873). Er legte überzeugend dar, daß menschliches Glück entscheidend vom Grad der Freiheit abhänge, die in einem liberalen Staatswesen gewährt werde. Nur in zwei Fällen dürfe man sich in die Handlungsfreiheit eines Menschen einmischen: um sich selber zu schützen oder die Schädigung anderer zu verhindern. Das ist sein noch heute in der anglo-amerikanischen Welt akzeptiertes Mill-Limit.

(Zusammenfassung Klaus Holzer)

Bildquellen: Abb. 1: N. Harris, Antikes Griechenland; Abb. 2: Gipsabdruck Archäologisches Museum Münster, J. Martin, Das alte Rom (Marc Aurel); Abb. 4,  5 & 6: Wikipedia

Anderer Begriff von Freiheit in GB & den USA

von Klaus Holzer

V. Andere Begriffe von Freiheit in GB & USA

Das Verständnis von Freiheit ist, wie andere Dinge auch, eng mit der eigenen historischen Erfahrung verknüpft. Es gibt eben doch Dinge, die mit dem Begriff der Nation zusammenhängen. Wer wollte leugnen, daß das Leben, die typischen Dinge des Alltags wie auch der grundsätzlichen Ideen, in anderen Länder andere sind als bei uns. Ich weiß, das gerät in die Nähe des politisch verbrannten Begriffs der Leitkultur, aber ich glaube, daß das vor allem daran liegt, daß er schnell mit deutscher Überlegenheit assoziiert wurde, mit „Deutschland, Deutschland über alles“. Was wiederum dem Engländer selbstverständlich ist: Man begegnet immer wieder dem dankbaren Stoßseufzer: Was für ein Glück, daß ich als Engländer geboren bin. Oder den Amerikanern, die sich in „God’s own country“ wähnen. Und wer wollte ernsthaft bestreiten, daß das Leben in Frankreich oder Italien oder Spanien oder England sich erheblich von dem hier unterscheidet?

Auf unterschiedlichen historischen Erfahrungen ergeben sich auch unterschiedliche Auffassungen von Freiheit:

GB:

Abb. 1: Zwei Flaggen vereint – ein Land entzweit

Die Briten streben u.a. deswegen aus der EU, weil nicht wenige von ihnen immer noch Ideen des Empire nachhängen, Ideen von Weltmacht, Unabhängigkeit. Seit 1066 ein Reich, mit zentraler Regierung, wurde nie erobert, hatte nie eine Invasion zu erleiden, war immer selbständig, erträgt also keine supranationale Institution, deren Spielregeln sie zu folgen hätte, war Sieger in beiden Weltkriegen, wurde dabei arm, verlor aber nie seine Würde, zieht daraus sein Selbstbewußtsein.

Abb. 2:  Pro-Brexit-Demonstration

Abb. 3: Anti-Brexit-Demonstration

Ein weiterer Grund ist das englische Recht: englische Richter sind absolut unabhängig: sie entscheiden auf der Grundlage des Common Law (vgl.a. common sense, heute zunehmend durch statute law ergänzt), d.h., durch Präzedenzfälle geprägt, womit jedes Urteil tendenziell wieder zum Präzedenzfall wird. Sie möchten nicht vom EuGH mit seinem geschriebenen Recht abhängig sein.

Abb. 4: Magna Charta, 1215

Ein bedeutender Teil der Magna Carta (Magna Charta oder Magna Carta Libertatum, dt. „Große Urkunde der Freiheiten“) ist z.T eine wörtliche Kopie der Charter of Liberties Heinrichs I. von 1100, die dem englischen Adel bereits entsprechende Rechte gewährte. Die Magna Carta verbriefte grundlegende politische Freiheiten des Adels gegenüber dem englischen König, also hat GB auch eine 900-jährige Geschichte der Freiheit; daher kommt wohl auch wenigstens z.T. die Aversion der Briten gegen die EU mit ihrem beträchtlichen Demokratiedefizit.

Die Mehrheit der Briten wehrt sich entschieden gegen die Einführung von Personalausweisen, weil sie die als zu starke staatliche Kontrolle empfinden, es gibt kein Meldesystem, z.B. bei Umzug; ein Problem dabei: es gibt kein abschließendes Wählerverzeichnis, man läßt sich registrieren, das wird durch das Kataster vollzogen: Fragebögen kommen in jedes Haus und Wahlberechtigte bekommen dann ihre voting card.

In einem Roman von 1855 (The Warden, Anthony Trollope) wird ein ganzes Kapitel der Macht der Presse gewidmet, und „Pressefreiheit“ kommt ausdrücklich darin vor! Und daß jedermann sein Recht vor Gericht erstreiten kann!

Meinungs- und Redefreiheit auch in GB heute in Gefahr, beschnitten zu werden: am 23.2.19 las der nigerianische Prediger Oluwole Ilesanmi in London aus der Bibel und predigte öffentlich darüber, was gesetzlich erlaubt ist. Ein Moslem nahm Anstoß daran, weil er den Islam verhöhnt glaubte. Er rief die Polizei, die den Prediger gesetzwidrig festnahm, in Handschellen fesselte und weit außerhalb Londons einfach aussetzte. Zunehmend ist konkurrierende Gesetzgebung aus politisch korrekten Gründen zum Problem für Presse- und Redefreiheit.

USA:

Abb. 5: Declaration of Independence

We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.

Die erste deutsche Übersetzung der Unabhängigkeitserklärung veröffentlichte einen Tag nach ihrer Verabschiedung die deutschsprachige Zeitung Pennsylvanischer Staatsbote in Philadelphia. Sie gab diesen Abschnitt folgendermaßen wieder:

„Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“

Entscheidend: Freiheit ist nach dem Leben das erste unveräußerliche Recht, und das 1774! Noch vor der Französischen Revolution! Zu einer Zeit, da es in Deutschland noch ca. 300 Staaten gab, Hunderte reichsunmittelbare Ritter, dazu die reichsfreien Städte, bis auf diese alle absolutistisch eingestellt.

Abb. 6: Die Unabhängigkeitserklärung wird verfaßt (lks. Benjamin Franklin)

Wahlrecht: Die Amerikaner wählen den mächtigsten Mann ihres Landes, den Präsidenten nicht selber, sondern das tut ein Wahlmännergremium (electoral college).

Hintergrund: Die ersten Wahlen fanden im 18. Jh. statt, da konnten keine allgemeinen Wahlen auf Millionen Quadratkilometern organisiert werden. Es wurden in allen Regionen Männer gewählt, die dann nach Washington reisten und den Präsidenten wählten. Heute eher unpraktisch, doch gibt man seine Traditionen nicht so leicht auf, weil man, wie die Engländer, eine ungebrochene Geschichte hat. 

Abb. 7: The Puritans

Pilgrim Fathers – Puritans: Die ersten Einwanderer waren wegen religiöser Verfolgung und Unterdrückung aus England geflohen, daher war es für sie besonders wichtig, „to worship God in their own way“.

Grundsätzlich: Der Kongreß garantiert „absolute Religionsfreiheit, uneingeschränkte Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit; jeder Glaube muß frei sein: Scientology bei uns vom Verfassungsschutz beobachtete Sekte, dort Kirche (es braucht, es gibt keine staatliche Anerkennung, jeder kann seine Kirche gründen), daher auch kein Blasphemiegesetz; heute strikte Trennung von Kirche und Staat, keine Kirchensteuer, dafür religiöse Privatschulen oder Sunday Schools; es gibt in den USA keine religiösen Feiertage außer Weihnachten (Thanksgiving ist nicht religiös begründet)

Abb. 8: The Cowboy

Frontier/Westward Ho!: Der Cowboy, die Inkarnation des Westward H0! Eroberung des unerforschten Westens ohne staatliche Organisation und Rechtsrahmen verlangte privates Handeln in absoluter Freiheit, z.T. als Willkür, nur mit Waffengewalt –  daher ist das Recht auf Selbstverteidigung heute noch verfassungsmäßig garantiert.

First Amendment (to the Constitution): 

Congress shall make no law respecting an establishment of religion or prohibiting the exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press;  or of the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.

(Der erste Zusatz (zur Verfassung)Der Kongreß soll kein Gesetz erlassen, das die Gründung einer Religion zum Gegenstand hat oder die freie Ausübung derselben behindert; oder die Redefreiheit beschneidet, oder die Pressefreiheit; oder das Recht der Menschen, sich friedlich zu versammeln, und eine Petition an die Regierung zu richten, um die Abstellung von Mißständen zu verlangen.)

Second Amendment:

A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed.

(Der zweite Zusatz: Da eine wohlgeordnete Bürgerwehr für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.)

Die USA haben ein ganz anderes Verständnis von Freiheit als wir: Sie kennen kein Feudalwesen mit Bindung an Herkunft, Namen und Überlieferung, während Europa sich doppelter Gefahr ausgesetzt sah, weil es ja keine Verfassungen, und damit Rechtssicherheit, gab: nach oben zu schielen, sich Fürstenlaunen und Herrengunst anzupassen, was bedeutete, daß man nach unten sich den aufstrebenden Teilen des Volkes gegenüber abriegelte und auf gesellschaftliche Vorrechte pochte. Ergebnis: Liebedienerei und Erbengesinnung statt freiheitlichen Denkens in Deutschland.

Abb. 9: Absolute Rede- und Demonstrationsfreiheit

Absolute Meinungs- und Redefreiheit: In Deutschland sind nationalsozialistische Haltung/Äußerungen/Symbole verboten. 

(In Estland und Lettland sind sowjetische/kommunistische Symbole verboten, beides aus der historischen Erfahrung heraus; ein aktuelles Beispiel: Die NATO stellt Truppen an den Grenzen zu Rußland auf. Bei uns wird das von vielen heftig als Kriegstreiberei kritisiert, bei Polen und Balten dagegen als Garantie für Freiheit angesehen, nämlich wegen ihrer ganz besonderen Erfahrungen mit der UdSSR bzw. Rußland.)

Das Verbot resultiert aus unserer historischen Erfahrung, in USA jedoch sind diese Gedanken durch Meinungsfreiheit gedeckt: nur weil jeder Idiot seine wirre Meinung frei sagen darf, darf ich auch sagen, was ich will; z.B. hat der Supreme Court festgestellt: Die amerikanische Flagge steht u.a. für das Recht, diese Flagge zu verbrennen. Der Engländer Richard Williamson, früherer Bischof der Piusbruderschaft, bestritt 2009 im schwedischen Fernsehen den Holocaust. Er wurde in D dafür zu 1800 Euro Geldstraße verurteilt, ging bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit der Begründung dagegen an, seine Äußerung sei durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Im englischen und amerikanischen Denken ist es nicht die Aufgabe des Staates, die richtige Interpretation von Geschichte vorzugeben.

Die Tatsache des Holocausts wird in beiden Ländern anerkannt, doch ist seine Leugnung nicht strafbar.

Dieses sind nur einige Aspekte, den Unterschied in der Denkweise und staatlichen Organisation betreffend. Ich hoffe aber, daß zumindest im Ansatz deutlich geworden ist, wie diese Unterschiede zustand gekommen sind.

KH

Bildquellen: Abb. 1: The Spectator, April 2019; Abb. 2 – 4, 8 & 9: Wikipedia; Abb. 5 – 7: Wikimedia Commons;

Zum Fall der Berliner Mauer vor bald 30 Jahren: das 15. ZZ des KKK

von Klaus Holzer

Als am 15. Juni 1961 Walter Ulbricht, Vorsitzender des Staatsrats der DDR und Erster Sekretär der SED und damit mächtigster Mann im Staate, auf einer Presskonferenz von einer Frankfurter Journalistin gefragt wurde, ob er die Staatsgrenze der DDR befestigen wolle, antwortete der: „ …. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Selten hatte die Aussage eines Staatsoberhaupts kürzere Lügenbeine. Zwei Monate später begann die DDR, um Ostberlin eine Mauer zu errichten, den Ostteil der Stadt vom Westteil abzuschneiden.

Abb. 1: Checkpoint Charlie, 27. Okt. 1961

Am 21. Oktober 1961 stand die Welt dicht vor einem Krieg zwischen Ost und West, der leicht hätte atomar werden können: 30 amerikanische und 30 sowjetische Panzer standen sich in Berlin am Checkpoint Charlie gegenüber, und die Entscheidung über Krieg oder Frieden lag plötzlich bei den zwei Panzerkommandanten. 24 Stunden Warten, bis beide Seiten ihre Panzer zurückzogen. Immerhin hatte der Zwischenfall aus westlicher Sicht einen Vorteil gebracht: es war damit klar, daß Ostberlin nicht „die Hauptstadt der DDR“ war, wie die Regierung der DDR es immer wieder behauptete, sondern der Sowjetunion unterstand, d.h., immer noch Teil des Viermächtestatus’ ganz Berlins war.

Abb. 2: Die drei Alliierten Führer in Potsdam

(17. Juli – 2. Aug. 1945)

Wie konnte es zu dieser Situation kommen? Nach dem verlorenen Krieg wurde Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt, Berlin entsprechend in vier Sektoren. Von Anfang an war die Berliner Situation besonders schwierig, weil es von sowjetisch kontrolliertem Territorium umgeben war. Weil sich die Lebensverhältnisse zwischen Ost und West weit auseinander entwickelten, und das bezog sich nicht nur auf die wirtschaftlichen Verhältnisse, zog es zunehmend mehr Ostdeutsche in den freien und reicheren Westen. Zwischen 1949 und 1961 verließen rund 2,9 Mill. Menschen den Osten, vor allem gut ausgebildete Arbeiter und Akademiker, die auf beiden Seiten gute Chancen besaßen. Allein im Juli 1961 flüchteten ca. 30.000 Menschen, d.h., etwa 1.000 am Tag im Durchschnitt. Zu einer weiteren Schwächung des Ostens trug das wirtschaftlich voll gerechtfertigte Wechselkursverhältnis der Mark der DDR und der D-Mark (der Deutschen Mark West) bei, das damals 4:1 betrug. So kam es zum Abfluß von Waren und zum illegalen Geldumtausch. Die DDR stand damit vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Da sah das ZK der SED keinen anderen Ausweg als die totale Abschottung seines Landes gegenüber dem Westen, mit Zustimmung der Sowjetunion.

Abb. 3: Bau der Mauer (13. Aug. 1961)

Das Ergebnis war die Berliner Mauer, monströses Symbol barbarischen Denkens. Am 13. August 1968 baute die DDR unter dem Schutz von Volkspolizei und Nationaler Volksarmee eine rund 160 km lange Mauer um Ostberlin, mit 296 Beobachtungstürmen und vielen weiteren technischen Einrichtungen, die „Republikflucht“ verhindern sollten, zusätzlich zu der 1.360 km langen Zonengrenze. Ein Land mauerte also seine Bürger ein, machte sie zu Gefangenen im eigenen Land, nahm ihnen viele Rechte, Dinge, die im Westen längst selbstverständlich waren und offenbar ein menschliches Grundbedürfnis darstellen. Das Ergebnis: ca. 180.000 DDR-Bürger flohen trotzdem in den Westen, an der Berliner Mauer wurde eine nicht genau bekannte Zahl an Flüchtlingen getötet, man schätzt zwischen 130 und 269. Der Drang nach Freiheit und besserem Leben läßt Menschen alles riskieren.

Abb. 4: Tote an der Mauer (17. Aug. 1961: Peter Fechter)

In dieser politisch auf Dauer unerträglichen Situation kam es in den Folgejahren auf Grund verschiedener politischer Initiativen und Verträge zu einer gewissen Entspannung zwischen Ost und West. Hier ist vor allem Willy Brandts Ostpolitik zu nennen. Einen wichtigen Augenblick gab es am 12. Juni 1987, als der damalige US-Präsident Ronald Reagan bei einer Rede an der Mauer die Worte sprach: „Mr Gorbachov, tear down this wall.“ Was aber damals niemand ernst nahm. Reagans Worte wurden als bloße Pflichtübung verstanden.

Abb. 5: Ronald Reagan: „Mr Gorbachov, tear down this wall.“

Dann aber kam es kurz vor dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR im Sommer 1989 in vielen Großstädten Ostdeutschlands zu Massendemonstrationen, auf denen die Menschen Reisefreiheit für alle forderten, auch das Recht, in den Westen zu reisen. 

Der Drang der Ostdeutschen, endlich frei zu sein, wurde immer stärker. Vor allem in Leipzig versammelten sich mehr und mehr Menschen auf den Straßen und protestierten gegen das SED-Regime. Als Katalysator fungierte hier besonders die Leipziger Nikolaikirche, die zu jener Zeit bereits eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Unzufriedenen hatte. Schon lange vorher hatte ihr Pastor Christian Führer damit begonnen, zu Fürbitten für die vielen von der Stasi Verhafteten einzuladen. Trotz der Repressalien der Behörden nahm die Zahl der Teilnehmer beständig zu. Am 9. Oktober 1989 wurde die Nikolaikirche zum Ausgangspunkt für die Demonstration der 70.000 in Leipzig, der „Friedlichen Revolution“. Ohne die Kirchen der DDR und ihr Angebot, Sicherheitsraum zu sein, wäre es wohl nicht zu einem gewaltfreien Ende der DDR gekommen. Die Deutschen mögen nie eine richtige Revolution hinbekommen haben, aber sie sind die einzigen auf der Welt, die dafür eine friedliche Revolution geschafft haben.

Abb. 6: Leipziger Montagsdemonstration (9. Okt. 1989)

Es gab für DDR-Bürger zwar Sonderreiseregelungen für Rentner und Verwandtenbesuche im Westen, doch allgemein waren Reisen selbst für privilegierte DDR-Bürger nach außerhalb der DDR nur in die „sozialistischen Bruderländer“ erlaubt. Dorthin waren im Sommer 1961 viele tausend DDR-Bürger gereist, vor allem in die Tschechoslowakei und nach Ungarn. Da sich große Menschenmassen weigerten, in die DDR zurückzufahren, ergab sich für die beiden Länder ein Problem, das sie schließlich lösten, indem sie ihre Grenzen nach Österreich öffneten. Das Ergebnis war eine Massenflucht in den Westen. Und der Druck auf die DDR erhöhte sich weiter. Das ZK der SED erließ daraufhin eine Regelung für die ständige Ausreise.

Abb. 7: Ungarn öffnet die Grenze zu Österreich (19. Aug. 1989)

Und jetzt erhielt die Situation eine gewisse Eigendynamik, nicht ohne Elemente einer Burleske. Diese Regelung sollte am 10. November 1961 frühmorgens veröffentlich werden. Davon wußte aber der zuständige Sekretär für das Informationswesen des Zentralkomitees der SED, der ehemalige Journalist Günter Schabowski, nichts. Er hatte die Informationen über die ZK-Sitzung für eine Pressekonferenz am Vorabend von Egon Krenz, dem Nachfolger Erich Honeckers als Staatsratsvorsitzender seit dem 6. Oktober 1989 erhalten. Es gibt wohl keine zweite an sich so unbedeutende Situation in der Geschichte, die derartig große politisch-historische Bedeutung erlangt hätte. Dabei ereignete sich eine, fast möchte man sagen, Slapstick-Einlage.

Als Schabowski gefragt wurde, wann die neue Reiseregelung in Kraft trete, schaute er eher hilflos auf seine Notizen und antwortete dann: „Nach meiner Kenntnis ist das … sofort … unverzüglich.“ Weil diese Pressekonferenz sowohl über West- wie auch Ostrundfunk direkt übertragen wurde, sprach sich seine Ankündigung sofort herum. Tausende Ostberliner strömten zu den Grenzübergängen und wurden durchgelassen, weil die Grenzpolizisten keine Befehle hatten, wie zu reagieren war, und weil der Druck durch die Massen auf sie zu hoch wurde. Der Sog der Freiheit war zu groß, als daß er hätte gestoppt werden können. Aus zwei Ländern wurde eins.

Abb. 8: Menschenmassen am Grenzposten

Wie reagierte das Ausland, vor allem der Westen, darauf? Man sollte annehmen, daß allerorten Begeisterung herrschte. Erinnern wir uns aber an 1961: Der US-amerikanische Präsident John F. Kennedy, der wenige Tage nach dem Mauerbau bei einer Rede in Berlin die Worte sprach: „Ich bin ein Berliner“ und damit so große Begeisterung auslöste, daß dieser Satz immer noch als geflügeltes Wort gilt und in vielerlei Abwandlungen seither verwendet wurde, sagte gleich nach dem Mauerbau im Kreis seiner Berater: „Eine Mauer ist verdammt noch mal besser als Krieg“. Und Harold MacMillan, der britische Premierminister sagte öffentlich:„Die Ostdeutschen halten den Flüchtlingsstrom auf und verschanzen sich hinter dem eisernen Vorhang. Daran ist an sich nichts Gesetzwidriges“. Nach westlicher Solidarität klang das wahrhaftig nicht. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß das alles sich erst 16 Jahre nach Kriegsende ereignete – es muß schon befremden.

Abb. 9: „Öffnung des Eisernen Vorhangs“, Plastik von Wolfgang Dreysse, Quedlinburg, aufgestellt in Hameln

Und nach dem Fall der Mauer gab es ebenfalls nicht ungeteilte Begeisterung, außer, dieses Mal, beim amerikanischen Präsidenten George H. Bush, der die deutsche (Wieder)vereinigung vorbehaltlos unterstützte. Der französische Premierminister François Mitterrand hielt den deutschen Wunsch nach Vereinigung für legitim, hatte aber große Angst vor der deutschen wirtschaftlichen Macht. Sein Landsmann François Mauriac ist für seinen Ausspruch bekannt: „Ich liebe Deutschland. Ich liebe es so sehr, daß ich zufrieden bin, weil es gleich zwei gibt“. Die britische Premierministerin Margret Thatcher mußte von ihrem persönlichen Berater ermahnt werden, zum Jahrestag der Vereinigung die Worte „Freund, Verbündeter und Partner“ zu verwenden. Und am 3. Oktober 1990 erhielt sie die schriftliche Empfehlung eines weiteren Beraters: „Wir sollten nett zu den Deutschen sein“. Sie selber hielt uns für „toads“, die zwielichtige, angeberische Kröte aus dem in England überaus bekannten Roman „The Wind in the Willows“ von Kenneth Grahame. Beide, Mitterrand und Thatcher, beknieten Gorbatschow, er möge es nicht zu einem vereinten Deutschland kommen lassen.

Abb. 10: Die erste frei Wahl in der DDR (18. März 1990)

Demokratie heißt, die Wahl zu haben; die Wahl zu haben heißt, Freiheit zu haben. Mit dieser Freiheit übernehme ich aber auch die Verantwortung für mich und mein Tun. Frei zu sein, ist nicht einfach. 

Abb. 11: Gorbatschow stimmt der NATO-Mitgliedschaft Deutschlands zu (15. Juli 1990)

Deutschland mußte sich jedenfalls erst in seine neue Rolle finden. Bis dahin war es ein „wirtschaftlicher Riese“, jedoch ein „politischer Zwerg“ gewesen. Die alte Bundesrepublik hatte sich bequem im Viermächtestatus eingerichtet, sich unter dem amerikanischen Atomschirm zwar eine relativ große Wehrpflichtarmee gehalten, die aber ausschließlich Verteidigungsaufgaben im eigenen Land erfüllen sollte, auf der großen politischen Bühne überließ sie gern den alten Siegermächten das Wort, verwies in allen Konflikten auf seine belastete Vergangenheit und hielt sich heraus, rief manchmal leise von unter dem Tisch her: „Hallo. Ich möchte dabei sein.“ Aber jetzt mußte es an die Verantwortung ran: „Wir können uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Das ist der Grund, warum deutsche Soldaten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg in einem Kampfeinsatz (auf dem Balkan) stehen“, erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) im Bundestag im Oktober 1998.

Und heute erleben wir die Fortsetzung: Soll, muß Deutschland seinen Verteidigungsetat auf 2% seines Haushalts erhöhen, so wie es sich 2014 in Wales und 2016 in Polen verpflichtet hat? Und wie es Trump immer wieder fordert, wodurch es vielen bei uns leicht fällt, dieses Ziel abzulehnen, weil man Trump ablehnt. Freiheit heißt eben auch, Verantwortung zu übernehmen.

1989 fiel die Mauer, 1990 vereinigten sich die beiden Teile Deutschlands zu einem Land. Nur wenige ahnten, welche Schwierigkeiten diese Vereinigung mit sich bringen würde. Was nicht verwundert, gab es doch keinen Präzedenzfall. Niemand hatte vorher aus zwei Ländern eins gemacht, noch dazu mit so extrem unterschiedlichen politischen Systemen. Ein neues Deutschland, das seinen Bürgern Freiheit bot, etwas, das den einen selbstverständlich geworden war, an das die anderen sich erst noch gewöhnen mußten. Daß nicht gleich alles so lief, wie man sich das vorgestellt hatte, belegt ein Ausspruch einer führenden DDR-Dissidentin, die später auch am Runden Tisch eine gewichtige Rolle spielte: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“

KH

Bildquellen: Abb. 1 – 8 und 10 & 11: Bundesarchiv; Abb. 9: Photo Klaus Holzer