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Christian Zucchi – ein Maler in Kamen

von Klaus Holzer

Abb. 1 CZ Kopie

Abb. 1: Christian Philipp Zucchi, 8. Februar 1811 in Mainz – 19.September1889 in Leipzig

Wie der Name vermuten läßt, stammt die Familie aus Italien, genauer: aus Venedig, wenngleich auch in dieser Beziehung vieles im

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Abb. 2: Das Wappen der Familie Zucchi

Dunkeln ist. Die Familie wandert aus und läßt sich in Mainz nieder, wo Sohn Christian Philipp (CZ) am 8. Februar 1811 geboren wird1.

Seine Jugend fällt in eine äußerst unruhige Zeit. Die Französische Revolution liegt erst 22 Jahre zurück; Napoleon hatte Deutschland erobert und wieder verloren; die deutschen Länder fühlten sich befreit und gleichzeitig durch den Franzosen inspiriert. Ein Virus hatte die Deutschen befallen und ließ sich nicht vertreiben, und Mainz war besonders stark infiziert: die Idee der Republik faszinierte die Bevölkerung.

Schon am 17. März 1793 hatte der Mainzer Jakobinerklub  die Mainzer Republik ausgerufen.

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Abb. 3: Das Wappen des Mainzer Jakobinerklubs

Ihr maßgeblicher Mann war Johann Georg Forster2

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Abb. 4: Johann Georg Forster,

27. November 1754 – 10. Januar 1794

 der seine Republik an Frankreich anschließen wollte. Während er in Paris war, um die Bedingungen zu verhandeln, eroberten Preußen und Österreich das abtrünnige Territorium zurück, doch ließ das Virus des Republikanismus die an sich revolutionsfeindlichen Deutschen nicht mehr los.

In mehr und mehr deutschen Staaten rumorte es, bis der Vormärz in der Frankfurter Paulskirche gipfelte. Gleichzeitig entwickelte sich ein Wunschbild bürgerlicher Behaglichkeit, das Biedermeier,3            

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Abb. 5: Zimmer im Biedermeier-Stil

 das sich den von Frankreich ausgehenden Empire-Stil anverwandelte und sich einerseits durch Geradlinigkeit, Feierlichkeit, nüchterne Strenge und sachliche Zweckmäßigkeit auszeichnete, andererseits aber auf Repräsentation und Dekoration, auf die damals modische Vorstellung von wohnlicher Gemütlichkeit hinzielte.

In diesem Spannungsfeld wuchs CZ auf. Aber ebenso wenig, wie er politischer Revolutionär wurde, modernisierte er die Malerei, blieb stattdessen den Konventionen verhaftet 4. Sein Talent zu zeichnen verhieß ihm eine Karriere als Porträtmaler, zumal die großbürgerlichen Familien großen Wert auf repräsentative Familiengemälde legten, Gemälde, die den wirtschaftlichen und privaten Erfolg unterstrichen. Hier wollte man sich zeigen, zugleich aber wollte man auch den Schmuck fürs großbürgerliche Heim.

Abb. 5a: Der junge Cristian Zucchi, gemalt von seinem Lehrer Friedrich Fleischmann

Es ist nicht bekannt, wo CZ gelernt hat. Man darf annehmen, daß er das machte, was damals fast alle machten, die Maler werden wollten: er ging zu einem Meister in die Lehre, schließlich galt Malerei grundsätzlich noch als Handwerk. Um 1830 jedenfalls ist er beim Nürnberger Kupferstecher Friedrich Fleischmann und eignet sich dessen Fertigkeiten an. Nach frühen Wanderjahren nach Süden – Italien war immer die Sehnsucht der Deutschen, und das war der gebürtige Mainzer ja – etwa an den Chiemsee, nach Obermais, Ittensee, Tegernsee, zum Südtiroler Rosengarten bis nach Bozen. Am 30. April heiratet er zum ersten Mal, Anna Maria Becker. Offenbar ist er immer noch in Süddeutschland, da ihr Sohn Carl Georg am 2. Februar 1840 in Freising geboren wird.

Im Jahre 1848 kommt CZ nach Kamen. Es ist unbekannt, wieso er ausgerechnet hierher kam, war Kamen doch ein kleines, verträumtes Landstädtchen, dessen Bürger Handwerker und Ackerbürger waren, ein Städtchen, das nicht durch Reichtum auffiel. Janna Westerholz vermutet, er könne vom Kirchenneubau gehört und einen Auftrag erhofft haben. Viel Auswahl an Gasthäusern wird es nicht gegeben haben, CZ quartiert sich im Hotel „Preußischer Hof“ (so genannt seit 1822) ein. Der Wirt Heinrich Wilhelm Grevel hat eine hübsche Tochter namens Sybilla Elisabeth (6.4.1825 – 29.7.1910), in die Zucchi sich sofort verliebt, obwohl er zu dieser Zeit noch verheiratet ist (seine erste Frau stirbt am 20. September 1850 in Mainz). Diese Liebe wird erwidert und so heiraten die beiden am 3. Oktober 1851 und werden von Pfarrer Overbeck „zuhause“, d.h., im Gasthaus Grevel, getraut.

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Abb. 6: Christian Philipp und Sybilla Elisabeth Grevel

Hier präsentiert sich ein gutbürgerliches Ehepaar. Sybilla Elisabeth nach der letzten Mode der Zeit gekleidet: der Körper wird durch das wiederentdeckte Mieder stark betont, der untere Teil des Kleides ist durch mehrere (das konnten bis zu 6 sein!), teils durch Roßhaar verstärkte Unterröcke extrem stark ausgestellt. Hier paßt kein Mantel mehr, daher trägt die Frau stattdessen die pelerinenartige Rotonde.

Christian entzieht sich dem dernier cri. Er zieht den bequemeren (einreihigen) Gehrock dem Frack bzw. der Redingote vor, die ihn wegen ihrer Körperbetontheit zwänge, einen Schnürgürtel zu tragen, und statt des modischen Vatermörders trägt er einen normalen Kragen mit Plastron. Und seine Frisur ist definitiv zweite Hälfte 19. Jh.: er mag wohl keine Koteletten, Favoris genannt.

Der Eintrag im Kamener Kirchenbuch lautet: Der Witwer Christian Philipp Zucky (Schreibweise eingedeutscht, Duden gab es noch nicht), 40 Jahre alt, katholisch, Einwilligung zur Ehe durch die Mutter schriftlich und Fräulein Elise Grevel, 26 Jahre alt, evangelisch, Einwilligung zur Ehe durch den Vater mündlich.

Das erste Kind des Paares wurde wohl 1852 geboren und auf den Namen Caroline Gertrude Dorothea getauft.

Natürlich bleibt der Maler nun erst einmal in Kamen und malt eine Reihe von Kamener Motiven, Personen und markanten Stellen im Straßenbild. Rolf Fritz erwähnt auf S. 223 a.a.O. auch „eine Ansicht der Zeche Grillo, die damals noch in weiten Kornfeldern lag“. Leider trifft auf dieses Gemälde wohl zu, was er anderer Stelle sagt, daß nämlich CZs Werke „nach seinem Tode in einem Inventar zusammengefaßt, für wenig Geld verkauft  wurden und heute verschollen sind“.

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Abb. 7: Straßenszene „Am Geist“ in Kamen, 1850er Jahre

Ein einfaches Bild einer Kamener Straßenszene Am Geist, vor dem Gasthaus seiner Schwiegereltern. Der Gastwirt Grevel steht in der Haustür und verabschiedet Besuch. Seine Frau steht neben der Kutsche und spricht letzte Worte mit den Abreisenden, das Pferd trabt an, ein Hund läuft bellend auf das Gespann zu. Es ist nicht ganz klar, ob die Szene am späten Abend anzusiedeln ist – die Sonne steht schon tief im Westen – oder spät in der Nacht und das Licht vom Mond herrührt. Der Himmel ist zu hellblau für Mondlicht, jedoch die Straße zu leer für den späten Nachmittag oder frühen Abend. Die Straße Am Geist führt nach Süden und öffnet sich in westlicher Richtung auf den Markt. Soweit erkennbar, tragen die Personen Gesellschaftskleidung. Vielleicht reist der Sonntagsbesuch gerade ab, oder Reisende, die im Gasthaus übernachtet haben.

Es ist klar, daß CZ hier eine romantische Kleinstadtszene darstellt, die Häuser wiedergibt, wie sie dort standen. Der Kamener erkennt das Gasthaus noch heute wieder, das ehemalige Hotel König von Preußen, das Hotel Bergheim. CZ beobachtet genau, gibt alles detailgetreu wieder. Die Farbgebung ist zurückhaltend. Der blaue Himmel ist überwiegend von Schleierwolken bedeckt, das Licht scheint von Südwesten oder Westen zu kommen. Das Haus am rechten Bildrand ist dementsprechend in Dunkel gehüllt, steht es doch auf der Westseite der Straße. Auch hier zeigt sich wieder, daß CZ nicht selten ein Problem mit der perspektivgerechten Darstellung hat, doch beweist es gleichzeitig, wie atmosphärisch dicht er malen konnte.

Janna Westerholz berichtet, daß die Familie Bergheim zu erzählen wußte, daß es sich bei der Kutsche um die Hausdroschke handelt, die Hotelgäste über die damals noch unbefestigten Straßen zum Bahnhof fuhr. Das konnte sich nur das erste Haus am Platze, eben der „König von Preußen“, Besitzer Heinrich Wilhelm Grevel, leisten. Mit der Bahn zu reisen, war die modernste Art des Reisens, und Kamen hatte seit dem 2. Mai 1847 einen Bahnhof an der Köln-Mindener Strecke, auch wenn das nach Schinkel gestaltete Bahnhofsgebäude wohl erst später errichtet wurde.

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Abb. 8: Die Vorhalle des Hotels „König von Preußen“ im 19. Jh.

Viele seiner Gemälde hingen früher im Hotel „König von Preußen“ der Familie Bergheim an den Wänden der Gaststube. Bergheims erbten als Verwandte der Familien Grevel/Zucchi nach deren Aussterben den gesamten Nachlaß. Am besten bekannt sein dürfte CZ in Kamen für das Altarbild, das er für die damalige „Kirche der größeren evangelischen Gemeinde“, heute Pauluskirche, malte.

Gerade, am 29. März 1849, hatte der Generalsuperintendent D. Franz Friedrich Graeber aus Münster die Kirche feierlich eingeweiht. Am 24. Juni 1849 stellte die Repräsentation der größeren ev. Gemeinde zu Camen dann folgendes fest: „Zur Verschönerung der neuen Kirche ist ein Bild des Malers Zucchi, darstellend die Tröstung des Heilandes am Ölberge, im Werte von 200 Talern als Altarbild aufgestellt. Durch die Gaben hiesiger Bürger ist über die Hälfte des Kostenwertes gedeckt und es wird von den Mitgliedern der Landgemeinden auch noch ein namhafter Betrag erwartet. Repräsentation beschließt die Übernahme des bleibenden Kaufschillingrestes auf die Einnahmen des Klingelbeutels zur allmählichen Tilgung.“ (zit. nach W. Wieschhoff, a.a.O.) Das Gemälde hat die Maße 2,85 m x 2 m. Es ist mit seinem Rahmen in zwei Pilaster eingesetzt, die einen Palmettenaufsatz tragen (ein Dekorelement, das typisch ist für den Klassizismus; Motiv: Hand mit gespreizten Fingern bzw. Fächer aus Blättern).

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Abb. 9: Jesus auf dem Ölberge. Altargemälde in der Pauluskirche in Kamen. Gesamtansicht

Der biblische Hintergrund für dieses Altarbild findet sich in Lukas 22, ab Vers 41. Jesus weiß: Es muß an mir vollendet werden, was geschrieben steht. Er ging zum Ölberg, „41kniete nieder, betete 42und sprach: Vater, willst Du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe! 43Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn“.

Das Gemälde bezieht sich auf genau diesen Vers. Links am Bildrand kniet der Engel (Zucchis Braut, Sybille Elisabeth Grevel, soll hier Modell gestanden haben), etwas erhöht, im Licht, das aus dem Himmel auf die Szene herunterscheint, seine linke Hand zum Himmel aufzeigend, bestätigend, wohin Jesus sein Weg führen wird. Die Anatomie dieses Armes ist Zucchi arg daneben geraten. Der Winkel, in dem er gehalten wird, stimmt nicht; der Unterarm ist zu lang geworden; er ist aus der Perspektive gefallen, besonders auch Zeigefinger und Daumen der himmelwärts zeigenden Hand. In der Rechten hält er einen Pokal, der die Stärkung enthält. Der Blick des Engels, aus einem neutralen Gesicht, scheint nicht auf Jesus gerichtet, sondern eher auf seinen Körper in Höhe der Ellbogen. Jesus, noch Mensch, kniet davor auf dem Boden, richtet seinen Blick nach oben. Jesus’ Kopf entspricht der nazarenischen Tradition 5: langes, schmales, eher süßliches Gesicht, langes, dunkles Haar. Die Hände wirken weniger wie zum Gebet gefaltet, sondern wie aus Pein gewrungen. Sein Gesicht sieht glatt aus, hier erkennt der Betrachter keine Pein, keinen inneren Kampf zwischen der Hoffnung des Menschen Jesus und der Ergebung Jesus’ in sein Schicksal als Erlöser. Es ist nicht zu sehen, was Lukas in Vers 44 beschreibt: „Und er rang mit dem Tode und betete heftiger. Und sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fielen.“ Dieser Jesus ringt nicht mit dem Tode, kein Schweiß fällt wie Blutstropfen auf die Erde.

Abb. 9 Altarbild Pauluskirche Kopie

Abb. 10: Das Altargemälde

In dieser Szene ist Jesus zusammen mit seinen Jüngern. Auf dem Gemälde verschwinden sie fast im Dunkel, obgleich sie eine gewichtige Rolle in Jesus’ letzten Momenten zu spielen haben. Die großen Flächen sind überwiegend dunkel, kaum gestaltet. Und den Falten der Gewänder fehlt räumliche Tiefe, man sieht, daß sie eher flächig gemalt sind. Deutlicher und stimmungsvoll sind die soldatischen Häscher im Hintergrund rechts zu erkennen. Der Dortmunder Kunsthistoriker Dr. Rolf Fritz urteilt: „ … deutlich, daß Zucchi sich hier offenbar übernommen hatte, und zwar sowohl im Thema wie im Format. Beides ging über seine Kräfte.“

Dennoch muß anerkannt werden, daß die farbliche Gestaltung das Gemälde deutlich gliedert, damit der inhaltlichen Ausgestaltung der Szene gerecht wird: himmlisches Licht mit dem weißgekleideten Engel auf der linken Seite, die Verheißung; Düsternis mit dem rotgekleideten Jesus auf der rechten Seite, die noch unerlöste irdische Welt, jedoch erreicht das himmlische Licht schon Jesus’ Gesicht.

Zucchi nahm, soweit bekannt ist, nie wieder einen solchen Auftrag an, sondern malte das, was er am besten konnte: Porträts. Das war ein Gebiet, auf dem er seine Qualitäten als Maler zeigen konnte.

CZ hatte jetzt eine Familie zu ernähren. Das hieß wohl, daß er sich nach einer festen Beschäftigung umsehen mußte. 1853 ist er in Bielefeld, wo er als privater Zeichenlehrer arbeitete. Es gibt im Stadtarchiv Kamen die Kopie einer Zeitungsannonce vom 18. Oktober 1853, in der CZ ankündigt, „wieder (!) eine Zeichenschule“ einzurichten und Familien um Anmeldung zu seinen Malstunden bittet. Und da es immer schon schwer war, sein Leben als freischaffender Künstler zu finanzieren, malt er alles, was an Aufträgen zu ergattern ist. Für den Bielefelder Sammler Westermann z.B. malt er eine um 1850 bei Halle in Westfalen ausgegrabene germanische Urne, die der Sammler später dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg schenkte.

Da es ein Gemälde von ihm gibt, das Dortmund von Norden zeigt und auf 1854 datiert ist, muß er mindestens noch einmal für kurze Zeit zurückgekommen sein.

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Abb. 11: Dortmund von Norden

Diesem Gemälde wird übrigens vom Dortmunder Kunsthistoriker Dr. Rolf Fritz einige Bedeutung zugesprochen. Es ist historisch interessant, weil es  „ein genaues Porträt der Stadt in dem Stadium ihres Wachstums zur vorstadtumgebenen Industriestadt [gibt], in der die ersten Fabrikanlagen und Werkhallen sichtbar werden und zum ersten Mal Schornsteine neben den mittelalterlichen Kirchtürmen emporragen und die vierhundertjährige Silhouette der Stadt verändern.“ Darüber hinaus aber sei es auch künstlerisch von Wert, weil „das gewiß nicht sehr anziehende Motiv […] durch geschickte Komposition, vor allem aber durch flotte malerische Behandlung, die eine gute Handschrift verrät, weit aus der Menge der üblichen Ansichten herausgehoben“ sei.

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Abb. 12: Dortmund von Norden, farbig, am rechten Rand beschnitten

Hier scheint Zucchi, neben der Porträtmalerei, in seinem Element gewesen zu sein. Nichts an diesem Bild wirkt gekünstelt, gewollt. CZ malt, was sich seinem Auge darbietet, nicht, was in seinem Kopf damit geschieht, wie es nur 20 Jahre später Claude Monet in seinem namengebenden Gemälde „Impression, Soleil Levant“ von 1872 tun sollte. Seine Darstellung wirkt realistisch, mit deutlich romantischen Zügen. Die Stimmung ergibt sich aus der Szenerie. CZ wählt eine sehr glückliche Ansicht, die bestimmenden Linien strukturieren das Gemälde. Alles wirkt „richtig“, an seinem Platz. Der helle Streifen am grauen Himmel auf der rechten Seite bildet eine gekonnte Ergänzung der hier eher eingeschränkten Bebauung.

Stellt man dieses Gemälde neben die Ansicht aus Kamen (vgl. Abb. Am Geist) wird deutlich, daß CZ ein viel besserer Maler ist, als es uns das Kamener Altarbild zeigt. Hier stimmt alles: Motivwahl, Anordnung der Landschaft und Häuser, Strukturierung der Bildfläche, Schaffung einer Stimmung, Vermittlung einer Lebenswirklichkeit, selbst (fast) ohne menschliche Gestalten.

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Abb. 13: Christian Philipp Zucchi in Leipzig

Ein Vergleich mit Monet zeigt aber auch, daß CZ kein Erneuerer der Malerei war.

Bielefeld scheint kein auskömmliches Leben geboten zu haben. 1856 taucht die Familie Zucchi in Leipzig auf, einer lebendigen Großstadt, bekannt durch die größte Messe der Zeit, damals so etwas wie eine Verbindung von Stadt und Welt. Trotz aller Provinzialität – hier spürte man schon so etwas wie eine frühe Globalisierung. Da CZ immer noch Hesse war, mußte er sich wohl, um hier dauerhaft arbeiten zu können, einbürgern lassen. Hier bekamen die Zucchis eine weitere Tochter, Elisabeth Henriette Karoline, die selber Malerin wurde, und einen Sohn, Hermann, der aber schon am 6.6.1869 starb.

In den 1860er Jahren malt CZ eine (die Leipziger?) Familie (Graff?) im Stil des Biedermeier, eine Familienidylle vor einem alten Baum in realistisch-romantischer Hügellandschaft. Das dürfte in etwa die Art Gemälde darstellen, die die reichen Leipziger sich für ihre Wohnung leisteten. Die Motivwahl und die Durchführung sind typisch für CZ in dem Sinne, daß es eben kein Avantgardist war. Heute schmückt es das Wohnzimmer einer Kamener Familie, die auch diese Reproduktion genehmigte. Abb. 12 Zucchi:Graff Kopie

Abb. 14: Die  Familie Graff (?)

Es ist typisches Biedermeier, wenngleich zeitlich verspätet, indem hier eine klare Rollenverteilung vorgenommen wird. Die ältere Schwester (sie trägt keinen Ehering, geringer Altersunterschied) wird umrahmt von den beiden jüngeren, Bruder und Schwester. Die Farben ihrer Kleidung sind von hoher Symbolik: die Farbe ihres Kleides ist blau, die Farbe der Treue, die Himmlisches und Irdisches verbindet, das kostbare Blau des Mantels Marias, ein sehr fein ausgearbeiteter weißer Spitzenbesatz, die sogenannte Berthe, die Farbe der Unschuld, krönt den Ausschnitt. In den Händen hält sie ein weißes Tuch. Ihre Finger zeigen, daß sie mit einer Näh– oder Stickarbeit beschäftigt ist, alle Utensilien liegen griffbereit auf dem Tischchen vor ihr: Nähkästchen, Schere, Stichel. Ihr inniger Blick schweift in die Ferne, bleibt im Bildkontext.

Hinter ihr, ganz in weiß gekleidet, in vollkommener Reinheit und Unschuld, sitzt ihre jüngere Schwester, die rechte Hand in die Armbeuge der älteren gelegt, die linke auf ihrer  Schulter ruhend. Sie schaut sanft und lieb den Maler an, stellt die Verbindung zur Außenwelt, zur Zukunft her. Ihr ist keine Tätigkeit zugeordnet, sie ist passives, liebes Kind. Überhaupt wird den Kinderporträts CZs nachgesagt, sie stellten Kinder immer als „lieb, gefällig, brav, sittsam, anständig, bürgerlich“ dar.

Ganz anders der schwarzweiß gekleidete Bruder, das Schwarz des gelehrten Talars, gepaart mit dem Weiß der Unschuld. Er sitzt vor seiner Schwester, hält ein Buch in seiner Rechten, hat den Zeigefinger zwischen die aktuellen Seiten gelegt, anscheinend vom Maler bei der Lektüre unterbrochen. Seine linke Hand ruht auf dem Kopf eines großen braunen Hundes, wohl des Familienhundes. Auch er blickt den Maler an, jedoch selbstbewußt, entschlossen. Ihm ist eine Karriere abseits von zu Hause gewiß.

Auf dem Tisch vor der Gruppe steht, neben den bereits erwähnten Dingen, eine Vase mit Blumen, eine Blüte scheint herausgefallen zu sein.

Das Gemälde weist eine klare Komposition auf, die von senkrechten Linien dominiert wird, nur der Horizont hält die Waagrechte. Die Frauengesichter wirken bläßlich, vielleicht sogar wächsern, das des Jungen mit seinen roten Wangen deutlich lebhafter. Das Gemälde reiht sich in eine Vielzahl ähnlicher Darstellungen aus dieser Zeit ein, vereint Innigkeit und Repräsentation, weist jedoch eine deutliche idealistisch-romantische Überhöhung auf, weit weg von jedem Realismus. 

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Abb. 15: Die Signatur CZs unter dem Gemälde „Die Familie Graff“, elegant wie der Maler selber

CZ war in den 1840er Jahren in Süddeutschland, 1848 nachweislich bereits in Kamen. Dieses Gemälde ist signiert und datiert: Chr. Zucchi, Juni 1846. Es ist also vorstellbar, daß CZ sich, als er dieses Bild malte, auf dem Weg aus Süddeutschland nach Kamen befand. Dann könnte es sich bei der Mittelgebirgslandschaft im Hintergrund um das Wittgensteiner –, Sieger– oder Sauerland handeln. Das Haus am Bach im Talgrund könnte, entsprechend den Gepflogenheiten der Zeit, das Stammhaus der abgebildeten Personen sein, ein Gutshof, dem sozialen Stand der Familie angemessen.  

Schade, daß so wenig über CZ bekannt ist. Vielleicht schlummert noch manches in irgendwelchen Archiven, doch wird es nur ein (unwahrscheinlicher) Zufall zutage befördern können. Und ob es dann seinen Weg nach Kamen findet?

Ab 1856 ist CZ fest in Leipzig etabliert. Dennoch zieht ihn und seine Familie die verwandtschaftliche Bindung immer wieder nach Kamen. Im Stadtarchiv gibt es das Protokollbuch des Schützenbataillons, das unter dem Datum 25. September 1866 einen Eintrag zeigt, daß Zucchi  „zu Beschaffung eines neuen Transparentes 20 Thlr erhält“. Es geht nicht daraus hervor, ob das Transparent (wohl für das Festzelt) für das vorhergehende Fest (1865) angefertigt wurde oder erst noch angefertigt werden sollte. (Dank an Wolfgang Freese für diesen Hinweis.)

Abb. 12a CZ 1870er Kopie

Abb. 16: Christian Philipp Zucchi in den 1870er Jahren

Während der Leipziger Zeit wird eine weitere Tochter geboren, Elisabeth Henriette Karoline (13./14. 9.1860 – 21.7.1928), die ebenfalls Malerin wird. Die Metropole bot dem Porträtmaler CZ viel Arbeit, da es genug vermögende Bürger gab, die ihre Wohnzimmer schmücken wollten. Und CZ wird in Leipzig anerkannt, er ist beliebt. Aber auch für den Restaurator CZ gab es Arbeit. In der reichen Messestadt besaßen die Bildungsbürger, die reichen Kaufleute und Händler, viele Gemälde, die er auffrischen konnte. Und als es ihm gelang, als Zeichenlehrer an der Städtischen Höheren Mädchenschule angestellt zu werden, war ihm ein regelmäßiges Einkommen gesichert.

Bilder, auf denen CZ seine Familie darstellt, spiegeln eine gutsituierte bürgerliche Familie wieder. Stolz ist ihnen in die Figur geschrieben, die Kleidung ist nach der Mode geschneidert, wirkt teuer, die Wohnungseinrichtung ist solide-bürgerlich.

Am 19.9.1889 stirbt CZ im Alter von 78 Jahren in Leipzig, wo er auch begraben ist.

Rolf Fritz urteilt über CZ abschließend: „Gewiß keine überragende Begabung, keine Entdeckung für die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts, ist er doch ein liebenswertes Talent, ein solider Porträtist, der gelegentlich durchaus eigene Wege geht und in seiner Ansicht von Dortmund und der Zeche Grillo sich Motiven zuwendet, die kaum einer seiner Zeitgenossen gesehen hat.

Westfalen ist in der Mitte des vorigen Jahrhunderts (Anm.d.Verf: d.h., des 19.Jh.) nicht gerade reich an malerischen Begabungen. Insbesondere im Ruhrgebiet fehlen sie fast vollständig. Neben wenigen guten Porträtisten, etwa in Hagen und Mühlheim, steht jetzt die Gestalt des Malers Christian Zucchi. Wenn er auch, wie der Westfale Theodor von Oer, später sein Brot in Sachsen suchte, so ist er doch zeitlebens mit Westfalen verbunden geblieben. In diesem Sinn dürfen wir wohl Christian Zucchi einen Maler in Kamen nennen.“

Und die familiäre Bindung der Familie nach Kamen zeigte sich auch darin, daß seine Tochter Elisabeth, obgleich in Erfurt geboren, immer wieder Kamen besuchte. Es gibt eine Reihe Photographien dieser Besuche. Idyllisch wird die Familie im Garten aufgestellt.

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Abb. 17: Elisabeth Zucchi (Mitte) zu Besuch in Kamen im Garten des Hotels „König von Preußen, um 1900

Anmerkungen:

1 Andere Quellen geben seine Geburt mit Ende 1810/Anfang 1811 an und die Taufe am 8. Januar 1811.

2 Georg Forster war vor allem Naturforscher, Ethnologe, Reiseschriftsteller, Übersetzer, Journalist und Essayist.

3 Die Bezeichnung „Biedermeier“ war ursprünglich ein Pseudonym, unter dem L. Eichrodt und A. Kußmaul in den „Fliegenden Blättern“ 1855 -1857 literarische Parodien als „Gedichte des schwäbischen Schullehrers Gottlieb Biedermeier“ veröffentlichten, wurde dann auf die Zeit von 1815 – 1848 übertragen, die man als ein Wunschbild bürgerlicher Behaglichkeit sah.

4 Als CZ junger Maler war, schuf Turner in England bereits Gemälde wie „Licht und Schatten“ (1843), die kaum noch Formen erkennen lassen. Und Monet gab mit seinem Gemälde „Impression. Soleil Levant“ von 1872 einer ganz neuen Stilrichtung ihren Namen, dem Impressionismus.

5 Ursprünglich ein Spottname für eine Gruppe deutscher Maler, die in Rom eine Erneuerung der Kunst auf religiöser Grundlage anstrebten. Eine Grundlage war die Rückbesinnung auf die altdeutsche Malerei (Dürer) und die italienische Malerei ) Perugino, Raffael)

Quellen:

Fritz, Rolf, Christian Zucchi, Maler in Kamen um 1850, in: WESTFALEN. HEFTE FÜR GESCHICHTE KUNST UND VOLKSKUNDE. 40. Band, 1962, Heft 1-3, S. 219 ff

Westerholz, Janna, Christian und Elisabeth Zucchi, Streiflichter aus der Kunstgeschichte Kamens, 1997

Wieschhoff, Wilhelm, Das Altarbild in der Pauluskirche, im Gemeindeblatt Der Schiefe Turm, Oktober 1995

Stefan Milk photographierte das Altarbild in der Pauluskirche, „Christus auf dem Ölberg“.

Abbildungen 2 – 4 aus Wikipedia

Abb. 5a: Das Original dieses Gemäldes befindet sich im Besitz des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig, InventarNr. XXV/3; Photographie von Helga Schulze-Brinkop; zur Verfügung gestellt von Rolf Dieter Helgers, Kamen

Alle weiteren Abbildungen entstammen dem Stadtarchiv Kamen.

Das Gemälde „Dortmund von der Nordseite“ von Christian Zucchi befindet sich im Bestand des Museums für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund (Inv. Nr. C 7985), hier reproduziert nach einer Schwarz-Weiß-Photographie, vom Museum zur Verfügung gestellt. Erst später stieß ich dank einem Hinweis von Wolfgang Freese im Stadtarchiv Kamen auf eine farbige Wiedergabe, die allerdings am rechten Rand beschnitten ist, hier aber wegen der Farbgebung trotzdem reproduziert wird.

Dank gebührt dem Stadtarchiv Kamen, das bereitwillig Archivalien und Hilfsmittel zur Verfügung stellte.

KH

Bernhard Heymann – Chemiker aus Berufung

von Klaus Holzer
Photo Heymann

Abb. 1: Bernhard Heymann, 23. April 1861 – 10. Juni 1933

In der Serie des KKK „Kamener Köpfe“ sind bisher so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Buxtorf, Praetorius und Hamelmann erschienen, bedeutende Figuren am Beginn der Neuzeit nicht nur der Kamener, sondern auch der deutschen Geschichte; Männer wie Wienpahl, Reich und Donsbach, die als Industrieller, Stadtplaner und Pfarrer Spuren in Kamen hinterlassen haben; Meschonat, Kett und ihre Gruppe „Schieferturm“, die als Künstler nationale Bedeutung erlangten und deren Werke heute in vielen öffentlichen Gebäuden zu finden sind.

Noch gar nicht vertreten ist die Naturwissenschaft, dabei hat Kamen auch auf diesem Gebiet große Namen aufzuweisen. Als erster soll hier jemand vorgestellt werden, dessen Name wohl keinem Kamener mehr etwas bedeutet: Bernhard Heymann. Er war einer der Chemiker, die Deutschland einmal den Beinamen „Apotheke der Welt“ eingetragen haben.

Abb. 1a J. Heymann

Abb. 2: Das elterliche Geschäft in der Weststraße 20 (lks.)

BH  war der Sohn des Kamener Kaufmanns Isaak Heymann und seiner Frau Sarah Levy, die ihr Geschäft für „Manufakturwaren, Konfektion, Betten, Möbel“ in der Weststraße 20 hatten. Der Familientradition folgend absolvierte Sohn Bernhard, das fünfte ihrer neun Kinder, zunächst eine kaufmännische Lehre, doch befriedigte ihn die damit verbundene Tätigkeit nicht. Also entschloß er sich, das Abitur nachzuholen (in Soest) und zum Studium der Chemie nach München zu gehen. An der dortigen Ludwig-Maximilians-Universität promovierte er bei Wilhelm Koenigs, einem damals bekannten Chemiker, nach dem die Koenigs-Knorr-Methode benannt ist, die eine der bekanntesten Reaktionen der Kohlenhydratchemie ist, und der dem jungen Heymann wohl die ersten Impulse für seine spätere Arbeit gab.

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Abb. 3: F. Bayer & Co’s in Elberfeld, wo Bernhard Heymann seine erste Stelle hatte

Schon 1889 trat er seine erste Stellung im wissenschaftlichen Laboratorium der Farbenfabriken, vormals Bayer, in Elberfeld (heute Wuppertal-Elberfeld) an. Und nur sechs Jahre später, als er gerade einmal 36 Jahre alt war, wurde ihm die Leitung dieses Forschungslabors anvertraut, von niemand geringerem als Carl Duisberg, dem allerdings heute in mancher Hinsicht umstrittenen Motor hinter der Gründung der IG Farben. Unter Heymanns Führung errang das Institut bald internationales Renommee. Als, auf Betreiben Carl Duisbergs, das Labor nach Leverkusen verlegt wurde (heute als Bayer Leverkusen bekannt, zu dem auch seit 2006 das Bergkamener Schering-Werk gehört), war es Heymann, der im wesentlichen die wissenschaftliche Einrichtung gestaltete, nach den damals modernsten Erkenntnissen, die die großen Erfolge ermöglichten.

Zentrales Arbeitsgebiet war die weitere Erforschung der damals noch jungen Teerfarbenindustrie (damals Anilinfarben genannt; heute faßt man alle künstlich hergestellten organischen Farbstoffe darunter), der organischen Farbstoffe, d.h., der Farbstoffe, die Kohlenstoff enthalten. Die wichtigsten unter seiner Leitung entstandenen Ergebnisse betrafen chemisch-technische Prozesse wie Textilhilfsmittel (zum Färben und zum Veredeln von Textilien, z.B., um sie wasserdicht zu machen), Pflanzenschutz, Kautschukhilfsmittel (um ihm die gewünschten Eigenschaften zu geben wie z.B. Haltbarkeit, Elastizität, Biegsamkeit, Dichtigkeit usw.) und die chemische Katalyse (hier wird die chemische Reaktion mit Hilfe eines Katalysators in Gang gebracht, beschleunigt oder gelenkt).

Schon seit 1913 arbeitete Bernhard Heymann auch persönlich an der chemotherapeutischen Synthese. Unter seiner Leitung gelang Richard Kothe und Oscar Dressel ein Präparat, das gegen den Erreger der Schlafkrankheit wirksam ist. Wilhelm Roehl führte dieses Medikament zur Marktreife. Und Friedrich-Karl Kleine vom Königlich-Preußischen Institut für Infektionskrankheiten führte 1921 in Afrika die Feldversuche durch, mit durchschlagendem Erfolg. Die Weltpresse verglich das Ergebnis mit „biblischen Heilungen“.

1912 wurde Heymann stellvertretendes, 1926 ordentliches Vorstandsmitglied des Bayer-Konzerns.

Abb. 3 Tsetsemeyers1880

Abb. 4: Die Tsetsefliege

Die Schlafkrankheit wird von der Tsetsefliege übertragen und führt nach einem Verlauf in drei Stadien zum Tode. Im Endstadium verfällt der Infizierte in einen schläfrigen Dämmerzustand, woher sich der Name ableitet. Das Medikament wurde zunächst als Bayer 205 eingesetzt und später „Germanin“ genannt. Für diese Entdeckung bzw. Entwicklung erhielt Bernhard Heymann hohe wissenschaftliche Auszeichnungen, u.a. die Ehrendoktorwürde der Universitäten Bonn und  Dresden. Und von Frankreich, damals noch Kolonialmacht, stark in Afrika engagiert, wurde diese Erfindung so bewertet (lt. Brief seines Schwiegersohnes W.E. Brenner vom 14.4.1931): „Sie ist mehr wert als alle Reparationsleistungen.“ Das bezog sich auf die 132 Milliarden Goldmark, damals etwa 47.000 Tonnen Gold, die Deutschland an Reparationen nach dem I. Weltkrieg zu zahlen hatte, zuzüglich 26% des Wertes seiner Ausfuhren!

Der damalige Kamener Bürgermeister, Gustav Adolf Berensmann, gratulierte Bernhard Heymann zu seinem 70. Geburtstag. Er schrieb: „Dem bekannten Wissenschaftler und bedeutenden Sohn unserer Stadt sendet zu seinem 70. Geburtstage die herzlichsten Glückwünsche der Magistrat der Stadt Kamen. gez. Berensmann, Bürgermeister.

Hier die Antwort Heymanns (für alle, die sich an der alten Schrift versuchen wollen, folgen Kopien der Schreiben Heymanns am Ende des Artikels):

Herrn Bürgermeister Berensmann

Kamen i. Westfalen

Sehr geehrter Herr Bürgermeister!

Mit verbindlichem Dank bestätige ich den Empfang Ihres frdl. Schreibens vom 4. ds., sowie Ihrer Verwaltungsberichte für die Jahre 1924-1929. Ich habe die Berichte mit großem Interesse durchgesehen und mich darüber gefreut, daß meine Heimatstadt, die ich als unbedeutendes Landstädtchen in Erinnerung habe, inzwischen sich zu einer mit allen möglichen anderen Einrichtungen ausgestatteten Mittelstadt von ungefähr 12000 Einwohnern entwickelt hat. Ich hoffe, daß die schweren Zeiten, die heute schwer auf uns allen lasten und sicherlich auch Kamen nicht unberührt lassen, die Weiterentwicklung der Stadt nicht auf längere Zeit hemmen werden. Für die frdl. Uebersendung der Zeitungen, die Artikel über mich brachten, spreche ich ihnen meinen besonderen Dank aus.

Sie haben mir, sehr geehrter Herr Bürgermeister, mit Ihrer Aufmerksamkeit eine große Freude bereitet.

Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung verbleibe

ich Ihr sehr ergebener

B. Heymann

Aus der ZwischenablageAus der Zwischenablage 1

Abb. 5 & 6: Der Dankesbrief Bernhard Heymanns an Bürgermeister Berensmann

 Bernhard Heymann war Vorstandsmitglied der IG Farben. Zusammen mit seiner Frau Johanna liegt er auf dem Friedhof Manfort in Leverkusen begraben.

K H

Textquellen:

Petersen, Siegfried, „Heymann, Bernhard“ in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 87 f. [Onlinefassung]

Hermann-Ehlers-Gesamtschule Kamen, Spuren jüdischen Lebens in Kamen von 1900 – 1945, Werne 1998

Dank an den Bergkamener Stadtarchivar Martin Litzinger, der den Dankesbrief Bernhard Heymanns „übersetzte“.

 

Bildquellen:

Stadtarchiv: Nr. 1, 5 & 6

Archiv Klaus Holzer: Nr. 2

Milestones, The Bayer Story 1863 – 1988, Leverkusen 1988: Nr. 3

Wikipedia, Brockhaus 1880: Nr. 4

Hermann Hamelmann – Kamens erster Reformator


Hermann Hamelmann

geb. 1526 in Osnabrück, gest. 26.6.1595 in Oldenburg

von Klaus Holzer
Aus der Zwischenablage

Abb. 1: Frontispiz der Ausgabe der Hamelmannschen Geschichtlichen Werke, Münster 1913

40 theologische, 29 historische und über 100 kleinere Schriften sind die Summe seines langen Schaffens, lokalgeschichtliche und genealogische Arbeiten, solche zur Geschichte des Humanismus und seines Schulwesens, aber auch für die niederrheinisch-westfälische Reformationsgeschichte wichtige Werke, die eine Fülle wertvollen kulturgeschichtlichen Materials enthalten, vieles davon aus mündlicher Überlieferung, das er somit vor dem Vergessenwerden bewahrte.

De sacerdotium coniugio, Dortmund 1554; De autoritate synodorum, Wittenberg 1554; De traditionibus apostolicis veris ac falsis, Frankfurt 1555; De traditionibus apostolicis et tacitis, Basel 1568; De Paedobaptismo, 1572; Illustrium Westphaliae virorum libri, 1564/65; Historia ecclesiastica renati evangelii per inferiiorem Saxoniam et Westphaliam, 1586/87; Hermanni Hamelmanni opera genealogica-historica de Westphalia et Saxonica, ed. E. C. Wasserbach, Lemgo 1711

Abb. 2 Hamelmann Titel

Abb. 2: Hermann Hamelmann, Reformationsgeschichte Westfalens, Münster 1913

Wer heute diese Titel liest, kann wohl nur als Fachgelehrter – Theologe, Historiker, Genealoge – in Aufregung geraten. Der Normalsterbliche steht davor wie der Ochs vorm Scheunentor und wird kaum darauf kommen, daß sie von einem der wichtigsten Reformatoren Westfalens, Niedersachsens, des Niederrheins und Teilen der Niederlande stammen. Und obwohl er kein Kamener ist, hat er für Kamen doch eine ganz besondere Bedeutung, weil er es war, der in unserer Stadt die Reformation einführte. Er war der erste, der das Evangelium nach Luther in Kamen predigte.

Wer war Hermann Hamelmann (HH), und wo kam er her?

Wie das so mit vielen auch der berühmtesten Personen des Mittelalters ist – über ihre Anfänge wissen wir oft wenig bis gar nichts. Schon über das Geburtsjahrs HHs sagten die Quellen lange Unterschiedliches aus, 1525 oder 1526 in Osnabrück geboren. Inzwischen ist 1526 festgestellt. Das genaue Geburtsdatum jedoch ist nicht bekannt. Da sein Vater bei seiner Geburt Canonicus (Chorherr) war, vom Notar umgeschult, wird er wohl dem jungen HH den ersten Unterricht gegeben haben, wie das damals in gebildeten Familien, vor der Einführung der Schulpflicht, üblich war. Anschließend erhielt er Unterricht auf dem Johannisstift in Osnabrück, 1538 – 1540 ist er auf dem humanistischen Gymnasium in Münster, setzt anschließend seine Schulbildung in Emmerich unter dem damals bekannten Matthias Bredenbach fort und findet sich Mitte der 1540er Jahre in der Freien Reichsstadt Dortmund auf der gerade gegründeten, aber bereits bekannten dortigen Humanistenschule. Schon hier wird offenbar der Keim gelegt für seine späteren Wanderjahre, sein ruheloser Geist läßt ihn nirgends lange verweilen. Und weil er nach 1553 unbeugsam die Lehre Luthers verficht, läßt man ihn auch selten lange wirken, zu stark waren noch die Kräfte der Beharrung.

1549 ist er an der Universität Köln immatrikuliert, wo er auch um 1550 zum (katholischen) Priester geweiht wird. Seine erste Stelle erhält er an der St. Servatiuskirche in Münster. Hier fällt er zum ersten Mal durch Kritik am kirchlichen Zölibat auf. Von dort kommt er vermutlich im Frühjahr 1552 nach Kamen und wird 2. Pfarrer an der St. Severinskirche (heute Pauluskirche). Erster (noch katholischer!) Pfarrer war Johannes Buxtorf, der Vater des berühmten Hebraisten, der später wesentlichen Anteil daran haben sollte, daß die Reformation sich in Kamen durchsetzte.


Ohne Titel

Abb. 3: St. Severinskirche, heute Pauluskirche

Er berichtet in seiner von ihm selber 1586 herausgegebenen Reformationsgeschichte: „In der Stadt Kamen lehrte Hamelmann, und da er dort einmal göttlich erleuchtet wurde, bekannte er offen, am Tage Trinitatis im Jahr des Herrn 15521 die wahre Lehre und widerlegte die päpstlichen Irrtümer. Damals war dort der Marschall jener Grafschaft der Edelmann Theodor Reck, der mit den Bürgermeistern und dem Rat, da sie die Rede Hamelmanns gehört hatten, in Verfolgung des Rechtes bestimmte, daß Hamelmann entlassen wurde, da der Landesherr jenes Ortes noch nicht öffentlich irgendeine andere Lehre als die päpstliche zugelassen hatte. So, entlassen der Wahrheit wegen, schied Hamelmann ruhig.“ (Anm. des Verf.: Er predigte über Johannes, Kap. 2, Vers 1 – 17: Über die Herrlichkeit der Gotteskindschaft) Immerhin hatte er es gewagt, in einer Zeit des großen religiösen Umbruchs, einer Reformation, die einer Revolution gleichkam, die bei seiner Predigt Anwesenden zur Annahme der lutherischen Lehre aufzufordern. Wer aber nicht dem „rechten“ Glauben anhing, setzte damals sein Leben aufs Spiel.

HodieHodie Forts.In H und W

Abb. 4: Die Stelle, an der Hamelmann sich über seinen Weggang aus Kamen äußert

Frau Schulze Berge, die Südkamener Ortsheimatpflegerin, Besitzerin des uralten Hofes Schulze Berge, deren Familie schon seit 1486 auf diesem Hof sitzt, erzählt gern folgende Anekdote, die seit Jahrhunderten durch die Generationen der Familie erzählt wird und die sich wahrscheinlich auf HH bezieht: HH war kaum in Kamen angekommen, als er seine erste Prozession den Hilligensteg entlang durch Südkamen führte. Alles nahm seinen gewohnten Gang. HH trug die Monstranz, in der sich eine konsekrierte Hostie befand, vorweg, geschützt unter dem „Himmel“, die Gemeinde folgte ihm. Man betete und sang fromme Lieder. Doch plötzlich stockte Hamelmann, erstarrte. Die ganze Prozession kam zum Stillstand. Plötzlich warf HH die Monstranz weg und rannte davon. Später erzählte er, er habe den Teufel gesehen. Da habe er gewußt, daß er die neue Lehre würde predigen müssen. Wie HH es selber formulierte: „ … da er dort einmal göttlich erleuchtet wurde …“.

Der Erfolg der Reformation war um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Kamen zunächst recht gering, sie beeinflußte das friedliche Leben der Bewohner wenig. Die Stadt war für die neue Lehre noch nicht reif, vielleicht ist es auch richtiger, zu sagen, daß das Leben in dieser kleinen Ackerbürgerstadt wesentlich durch gutes Miteinander, gute Nachbarschaft bestimmt war. Die Katholiken hatten nach wie vor Zutritt zur Pfarrkirche, der Severinskirche. Damals scheint noch lange, nämlich bis 1612, als der letzte katholische Vikar aus der alten Zeit starb, katholischer und evangelischer Gottesdienst in der Kirche parallel stattgefunden zu haben.

Es gibt übrigens eine weitere Verbindung zu einem anderen großen Kamener, Johannes Buxtorf, Vater des späterhin so bedeutenden Johannes Buxtorf. „Hamelmann hat 1553 dem Buxtorf die Lebensbeschreibung der Kirchenväter geschenkt und diese Worte hineingeschrieben: Sunt Vitae Patrum et alia, collata D. Johanni Buxtorp Pastori in Camen suo amico et Domino honorando ab Hermanno Hamelman Osnabrugensi, aput Camenses olim Divini verbi ministri 1553“. (Dies sind die Biographien der (Kirchen–)Väter und andere Dinge, zusammengestellt  für Dr. Johannes Buxtorf, Pastor in Kamen, seinem verehrungswürdigen Freund und kirchlichen Würdenträger (wörtlich: im Herrn geehrt), von Hermann Hamelmann aus Osnabrück, einst Diener des Wortes Gottes (=Pfarrer) in Kamen, 1553.“

Buxtorf der Vater

Abb. 5: Die Widmung Hamelmanns für Johannes Buxtorf

Doch HH gab den Anstoß, Luthers Lehre siegte. Der Keim war gelegt, die Saat mußte aufgehen. Nur die Schwestern des Klosters auf der Marienouwe, einige wenige Vicare und ein geringer Bruchteil Laien blieb bei der alten Kirche. Wieder Hamelmann selber in seiner „Reformationsgeschichte Westfalens“: „Inzwischen legte es jener gute Marschall Theodor Reck (der bald völlig umkehrte, um das Jahr des Herrn 1567) den Pastoren dort, Johann Buxtorp und Johann Merkator Schomburg, von Dortmund gebürtig, nahe, daß sie frohgemut anfingen, die Lehre des Evangeliums auszubreiten, die Sakramente gemäß der Lehre Christi in deutscher Sprache zu verwalten und deutsche Lieder zu singen. Ihr frommer Helfer war Johann Wegener, ein gelehrter und ernster Mann“.

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Abb. 6: Hamelmann über die Einführung der Reformation in Kamen

HH ging, erzwungen durch seine Auseinandersetzungen mit den kirchlichen Autoritäten um die Reformation, auf ein Wanderleben, immer auf der „Suche nach der einen Wahrheit“. Seine nächsten Stationen waren Ostfriesland, Braunschweig, Wittenberg, wo er sich mit Melanchthon traf und mit diesem über die Verabreichung und die Einnahme des Abendmahls disputierte, und seine Geburtsstadt Osnabrück. 1554 wurde er Pfarrer an der Neustädter Marienkirche in Bielefeld.

Ohne Titel

Abb. 7: Die Neustädter Marienkirche, Bielefeld

Dort tritt er am Fronleichnamstag 1555 in einer Predigt „über den wahren Gebrauch des Sakraments und seine Einsetzung“ gegen das Herumtragen des Brotes in altgläubigen Prozessionen ein. Es kommt zum Konflikt mit den Stiftsherren und der klevisch-ravensbergischen Regierung. Am 14. August 1555 kam es zur Disputation am klevischen Hof in Düsseldorf mit dem Hofprediger Bomgard und dem Kanzler Vlatten vor seinen Bielefelder Gegnern. Da der herzoglich-klevische Hof der Reformation abgeneigt war, stattdessen an der erasmischen Reform festhielt (Anm. d. Verf.: Erasmus von Rotterdam nahm eine vermittelnde Stellung zu den verschiedenen reformatorischen Bestrebungen ein, lehnte aber Luthers Reform nach dessen Bruch mit der Kirche ab) verlor HH erneut sein Amt.

Er ging im selben Jahr als Pfarrer nach Lemgo, wurde von der Regierung wieder beurlaubt, reiste weiter nach Rostock, um den Licentiatengrad (Anm. d. Verf.: entspricht dem D. theol.) zu erwerben, kehrte nach Lemgo zurück, wo er sich endlich niederlassen konnte. Hier wirkt er bis 1568, gelegentlich unterbrochen, weil er zwischendurch nach Waldeck und Brabant gerufen wird, um dort die Reformation voranzubringen. Schließlich wird er Generalsuperintendent in Gandersheim und endlich Hauptpastor an der Lambertikirche und Generalsuperintendent in Oldenburg, wo er bis zu seinem Tode wirkt. Hier gilt Hamelmann durch den Erlass der ersten oldenburgischen Kirchenordnung, zugleich auch Schulordnung, von 1573 als einer der Vordenker und Begründer des Volksschulwesens. Und seine Oldenburger Chronik („Oldenburgisch Chronicon“) gilt als Standardwerk ihrer Art, und er war der erste, der einen Versuch unternahm, die Bedeutung der Externsteine zu untersuchen.

Während all dieser Jahre war er ein ungemein fruchtbarer Schriftsteller, der über enorme historische Kenntnisse verfügte. Für seine theologischen Polemiken zog er die Kirchenväter heran, auf sie stützte er seine Streitschriften gegen Katholiken, Reformierte und Wiedertäufer. Er kannte sich so gut in der Geschichte der Territorien und der Dynastengeschlechter Westfalens aus, daß er zur wichtigsten, in vielen Bereichen einzigen, Quelle zur Geschichte Westfalens wurde. Seine zwei wichtigsten Werke hierzu sind seine Illustrium Westphaliae virorum libri I – VI (Verzeichnis der namhaften Männer Westfalens, Buch 1 – 6) von 1564/65 und die Historia ecclesiastica renati evangelii per inferiorem Saxoniam et Westphaliam (Reformationsgeschichte Westfalens und Niedersachsens) von 1586/87.

In Kamen ist sein Name heute unbekannt. Lediglich bei Kirchenführungen fällt sein Name als desjenigen, der Kamen zu einer protestantischen Stadt machte, und bei Besteigungen des Schiefen Turms, wo man im ersten Turmboden eine kleine Ausstellung mit erklärenden Worten zum Schaffen Hermann Hamelmanns findet. Auch wenn Kamen nur eine kurze Episode in seinem Leben darstellt, der bedeutendere Teil seines Wirkens sich in Lemgo und vor allem Oldenburg abspielte – er hatte den Mut, sich als erster in Kamen zur Reformation zu bekennen und hat damit die Geschichte dieser Stadt wesentlich beeinflußt. Er hat mehr Aufmerksamkeit verdient.

Klaus Holzer

im Februar 2016

Folgende Quellen liegen dieser Darstellung zugrunde:

Pröbsting, Friedrich, Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden von Camen, Hamm 1901

Thiemann, Egbert, „Hamelmann, Hermann“ in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 585

Simon,Theo, Fast 800 Jahre Pfarre Kamen, Westfalenpost 2. 7. 1959

Zuhorn, Wilhelm, Geschichte des Klosters und der Katholischen Gemeinde zu Camen, Camen 1902

Löffler, Dr. Klemens, (Hrsg.) Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke. Kritische Neuausgabe, Bd. II, Münster 1913 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Westfalen), Stadtarchiv Kamen

1 Hier weist Löffler auch nach, daß Hamelmann sich in seiner Darstellung, wann er zum ersten Mal die Reformation gepredigt hat, irrte und gibt den Sonntag Trinitatis (28. Mai) 1553 dafür an.

Bildquellen:

Löffler, Dr. Klemens, (Hrsg.) Hermann Hamelmanns Geschichtliche Werke. Kritische Neuausgabe, Bd. II, Münster 1913 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Westfalen), daraus auch die Faksimiles aller Textpassagen, Stadtarchiv Kamen

Neustädter Marienkirche, Wikipedia

Pauluskirche mit Küsterhaus, Stadtarchiv Kamen

KH

Das 11. Zeitzeichen des Kultur Kreises Kamen

2016-04-28 19.04

Abb. 1: Martin Litzinger beim Vortrag:

„Man hörte die Schmerzensschreie der Misshandelten“ 

Das Konzentrationslager Schönhausen in Bergkamen im Jahre 1933

Da hat der KKK wohl einen Nerv getroffen: der Vortragssaal war schon 10 Minuten vor Beginn des Abends voll besetzt! Der Museumsleiter, Robert Badermann, mußte noch gut ein Dutzend Stühle nachträglich herbeischaffen. Und es hat sich gelohnt zu kommen. Martin Litzinger kennt sich in seinem Thema aus wie wohl kein zweiter, hat er sich doch bereits seit 2001mit diesem Thema beschäftigt. Und doch, gibt er zu, sind immer noch weite Bereiche terra incognita.

Das heutige Gemeindezentrum der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde Kamen-Bergkamen trägt seit dem 25. Oktober 1983 eine Gedenktafel, die daran erinnert, daß dieses Gebäude 1933 als provisorisches „Konzentrations– und Schutzhaftlager“ benutzt wurde, als frühes KZ der Nationalsozialisten. Wie war es dazu gekommen? Welche Geschichte steht dahinter?
Postkarte Wohlfahrtsgebäude Schönhausen

Abb. 2: Das Wohlfahrtsgebäude Schönhausen

der Zeche Grimberg I/II

Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg den Führer der NSDAP, Adolf Hitler, zum Reichskanzler. Dieser begann sogleich, zusammen mit seinem Minister Hermann Göring, gegen seine politischen Gegner vorzugehen, vor allem die SPD und die KPD. Am 27. Februar 1933 brannte das Reichstagsgebäude in Berlin ab. Hitler bezichtigte die Kommunisten der Tat und beschuldigte sie, einen Volksaufstand und Staatsstreich zu planen und setzte umgehend die Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft. Dadurch konnte jeder aus Gründen der staatlichen Sicherheit ohne richterliche Anordnung auf unbestimmte Zeit in „Schutzhaft“ genommen werden. Wobei „Schutzhaft“ lediglich ein zynischer Euphemismus für Verfolgung und Vernichtung ist. Das führte dazu, daß innerhalb kurzer Zeit alle Gefängnisse überfüllt waren, so daß weitere, provisorische „Konzentrationslager“ entstanden. In unserer Region war vor allem der nördliche Kreis Unna betroffen, weil hier weite Teile der Bevölkerung, Bergleute und ihre Familien, der NSDAP ablehnend gegenüberstanden, traditionell SPD wählten, viele von ihnen auch KPD.

Der Bürgermeister des damaligen Amtes Pelkum, Hans Friedrichs, schrieb daher am 22. März 1933 an den Landrat in Unna, es sei „zwingend notwendig, die schnellste Schaffung von Konzentrationslagern durchzuführen“. Jener Landrat war der überzeugte Nationalsozialist Wilhelm Tengelmann, hauptberuflich Betriebsinspektor der Gelsenkirchener Bergwerks AG, gerade an diesem Tag von seinem Freund Hermann Göring kommissarisch mit diesem Amt betraut, erst am 29. März 1933 offiziell eingeführt. Tengelmann bat den Bergwerksdirektor Ernst Fromme, den der Zeche Monopol gehörenden Gebäudekomplex des Wohlfahrtsgebäudes Schönhausen der Zeche Grimberg I/II zur Verfügung zu stellen, was auch bewilligt wurde.

Dieses Wohlfahrtsgebäude war ein Gemeinschaftshaus für die hier wohnenden Bergmannsfamilien, eine für ihre Zeit sehr fortschrittliche Einrichtung, deren Sinn und Zweck somit pervertiert wurde. In diesem Gebäude gab es

eine kleine Mietwohnung

einen Kindergarten

einen Gesundheits– und Baderaum

Räume, in denen Näh–, Haushalts– und Kochunterricht gegeben wurde

einen Saal mit Theaterbühne, als Versammlungs– und Veranstaltungsraum sowie als Turnhalle genutzt

dahinter einen Sport– und Spielplatz

Da es sich um einen geschlossene Anlage handelte, ließ sich die Bewachung durch SS, SA und Stahlhelm, von Göring zur Hilfspolizei ernannt, leicht organisieren. Lagerkommandant wurde der Kamener SA-Führer Wilhelm Boddeutsch, sein Stellvertreter der Bergkamener SA-Mann Ewald Büsing. Die Wachmannschaft betrug 44 Mann.

Tengelmann ordnete am 11. April 1933 die Verhaftung aller „Führer und Ersatzführer der KPD und sämtlicher Nebenorganisationen“ ab 4.30 Uhr an. Die ersten Häftlinge wurden noch in derselben Nacht, am 12. April, eingeliefert, die ersten von fast 1000 bis zur Auflösung des Lagers ein halbes Jahr später, Ende Oktober 1933. Am Anfang waren es überwiegend KPD-Mitglieder (ca. 580), ab Juni SPD-Mitglieder (ca. 200), aber auch Reichsbannerleute (ca. 60), Mitglieder der Eisernen Front, der Gewerkschaften, aber auch politisch neutrale Personen (ca. 70) und 14 Juden. Zur Verhaftung reichte bei den meisten die Mitgliedschaft in ihrer Partei, doch ein freimütiges Wort, Verleumdung und Denunziation reichten für die Inhaftierung. So waren auch 6 Nationalsozialisten (!) inhaftiert.

Die Gefangenen stammten aus

Herringen 216

Rünthe 117

Bergkamen  69

Heeren-Werve  44

Kamen  39

Ihre Berufe waren

Bergleute 549

Handwerker 132

Arbeiter  93

Invaliden  65

Hausfrauen (!)  32 (von den Männern getrennt gefangengehalten, bald in andere Haftanstalten überführt)

Kaufleute/Händler  22

Lehrer/Rektoren  4/2

Journalisten   3

Rechtsanwälte   2

Schulrat   1

Fabrikant   1

Die Männer wurden im Saal des Gebäudes gefangen gehalten, besonders „gefährliche“ Häftlinge in einem gesonderten Raum. Es gab kein Mobiliar, sie mußten auf Turnmatten schlafen. Es gab nur wenige Toiletten und Wachgelegenheiten. Sie erhielten nur sehr wenig trockenes Brot und dünnen Kaffe oder Brühe als Nahrung, ihre Angehörigen mußten sie versorgen. Sie wurden zum Exerzieren und zu militärischen Übungen gezwungen, immer wieder mit dem Gummiknüppel geschlagen. Ansonsten mußten sie ihre Zeit wartend im Saal verbringen. Die Frauen mußten Kleider nähen, flicken, die Räume putzen.

Am schlimmsten waren die täglichen Mißhandlungen und Folterungen, durch die man „Geständnisse“ erpressen wollte. Gängige Methoden waren: das Kopfhaar ausreißen, Zähne ausschlagen, mit glühenden Zigaretten Verbrennungen zufügen, Schlafentzug durch, manchmal tagelanges“, Dauersitzen. Ein Dr. Busch aus Unna wurde mit einer Eisenstange blutig geschlagen (seine Haftbeschwerde blieb natürlich erfolglos), halb bewußtlos Geschlagene mußten auf einen Tisch steigen und „Heil Hitler“ rufen. Und oft traten SS-Leute unter dem Befehl von Otto Stegmann aus der Russelstraße in Bergkamen im Marschtritt auf die Fliesen im Vorraum und sangen Lieder, damit man die Schmerzensschreie der Mißhandelten nicht hörte. Manchmal wurden Mißhandlungen zur Abschreckung vor anderen Gefangenen durchgeführt, was mitunter Selbsttötungsversuche zur Folge hatte, die jedoch durch das Wachpersonal verhindert wurden. Perfide war es auch, die Ehefrau eines Flüchtigen als Geisel in Haft zu nehmen, was Auguste Glowiak aus Rünthe widerfuhr. Und ein Lehrer (!) kam aus der nahegelegenen Schillerschule regelmäßig in das Lager, um seiner Prügelleidenschaft zu frönen.

Natürlich blieben den Nachbarn des Lagers und Angehörigen der Häftlinge die Mißhandlungen nicht verborgen, doch tat der Lagerleiter, Wilhelm Boddeutsch, alles als „leeres Gerede“ ab, und ihm wurde gern geglaubt. Die NSDAP-Pressestelle Kamen gab mehrfach Presseerklärungen heraus, die die geordneten Verhältnisse im Lager darstellten, unterschwellig Mahnung und Drohung an die Leser, von einer willfährigen Presse bereitwillig veröffentlicht.

Schönhausen war als Lager eigentlich ungeeignet, zudem kamen ständig neue Häftlinge, daher wurden viele von ihnen in verschiedene andere Lager gebracht: Wittlich, Brauweiler, Moorlager Papenburg, Börgermoor u.a.

Nachdem am Anfang gezielt Kommunisten inhaftiert worden waren, begann am 25. Juni 1933 um 2.30 Uhr früh die Verhaftung der führenden SPD-Persönlichkeiten auf Anordnung Tengelmanns. Dazu gehörten:

Hans Heuser, nach dem Kriege Bürgermeister in Bergkamen und im Amt Pelkum

Paul Prinzler, nach dem Kriege Bürgermeister in Rünthe

Franz Trampe, Führer des Reichsbanners Bergkamen

seine Frau Luise Trampe, die, seelisch zermürbt, 1937 den Freitod starb

Und aus Kamen:

Leo Dyduch, Oswald Lepke, Valentin Schürhoff, Wilhelm Siekmann, alles Persönlichkeiten, die nach dem Krieg in der Kommunalpolitik eine wesentliche Rolle spielten.

Und der Bergkamener Karl Schnabel hat durch seine ausführlichen „Erinnerungen“ viel dazu beigetragen, daß wir heute so genau wissen, was sich in Schönhausen alles zugetragen hat.

Die Verhältnisse waren so schlimm geworden, daß selbst Tengelmann im Mai 1933 feststellte, daß der staatlichen Willkür, an der er teilhatte, oft auch private Willkür folgte. Er kündigte am 8. Mai 1933 an, „Eingriffe von Privatpersonen in die Rechte der Polizei künftig nicht mehr stillschweigend [hinzunehmen]“. Und die Verhaftung von Personen ohne Grund zur Inhaftierung schade der Sache der „nationalen Erhebung“.

Stellte eine Haftprüfungskommission fest, daß ein Gefangener unter dem Eindruck der Haft eine Besserung seiner Gesinnung zeigte, konnte er nach relativ kurzer Zeit entlassen werden. Über die Haftbedingungen hatte er allerstrengstes Stillschweigen zu bewahren, sonst wurde er gleich wieder festgenommen. Denunzianten gab es genug. Und bei seiner Entlassung mußte er unterschreiben, daß er keine Ansprüche aus der Haft ableite. Dazu gab es eine Ausgangssperre ab 19.00 Uhr, es sei denn, man wollte eine NSDAP-Veranstaltung besuchen, aber auch das war nur in Begleitung eines linientreuen „Paten“ gestattet.

Ab Juli 1933 gingen die Zahlen der Inhaftierten rapide zurück:

April 427

Mai163

Juni 225

Juli  72

August  66

September  35

Oktober    4

Offenbar war es den Nationalsozialisten gelungen, alle politischen Gegner im Kreis Unna auszuschalten.

Der neue Landrat, Dr. Heinrich Klosterkemper, veranlaßte am 20. Oktober 1933 die Schließung von Schönhausen. Zu der Zeit befanden sich noch 20 Gefangene dort, die entlassen oder nach Papenburg oder Oranienburg verlegt wurden. Am 28. Oktober wurde die Schließung in der Presse bekanntgegeben, doch mit der deutlichen Warnung: „ Personen, die sich auch jetzt noch nicht an die neue Ordnung gewöhnen können und sich irgendwie staatsfeindlich betätigen, werden künftig in die staatlichen Konzentrationslager im Börgermoor gebracht werden. Für eine Sammelstelle im Kreise ist gesorgt.“

Schönhausen wurde anschließend gründlich renoviert und im Frühjahr 1934 wieder als Wohlfahrtsgebäude genutzt.

Im Anschluß meldeten sich noch einige Besucher zu Wort, weniger mit Fragen, als mit zusätzlichen Betrachtungen und Erinnerungen.

Nachbemerkung: Nach der Schließung des Lagers wurde es jahrzehntelang mehr oder weniger totgeschwiegen, niemand konnte oder wollte darüber reden, sich mit diesem Teil der Vergangenheit auseinandersetzen. Ein Bürgerantrag, in Schönhausen eine Gedenkstätte einzurichten, wurde abgelehnt. Keiner der Täter wurde jemals zur Rechenschaft gezogen.

Zusammengefaßt von Klaus Holzer

Abb. 1: Photo Klaus Holzer

Abb. 2: Stadtarchiv Bergkamen

Das 11. Zeitzeichen

Einladung zum 11. Zeitzeichen des Kultur Kreises Kamen 

Porträt Martin Kopie

Martin Litzinger

Am 28. April 2016 findet das 11. Zeitzeichen des Kultur Kreises Kamen statt. Der Referent des Abends, Martin Litzinger, wird sich mit einem Thema beschäftigen, das unser Land wohl nie loslassen wird. Jeder Deutsche hat von Konzentrationslagern gehört, doch wer weiß, daß es auch in Bergkamen ein solches gab? Das ehemalige Wohlfahrtsgebäude Schönhausen der Zeche Grimberg I/II wurde von den Nationalsozialisten 1933 in ein KZ umgewandelt, in dem politisch Unliebsame „in Schutzhaft genommen“ wurden. Es war kein KZ wie Auschwitz und Treblinka, aber doch ein Lager, in dem gefoltert wurde. Daher stellt Martin Litzinger seinen Vortrag auch unter die Aussage:

„Man hörte die Schmerzensschreie der Misshandelten“ 

Das Konzentrationslager Schönhausen in Bergkamen

im Jahre 1933

Martin Litzinger ist Stadtarchivar in Bergkamen und der beste Kenner der Bergkamener Geschichte. Er ist durch eine Serie von Veröffentlichungen hervorgetreten, in der er ausführlich die Geschichte jedes einzelnen Bergkamener Stadtteils darstellt.

Zeitzeichen 11 DIN A3 Plakat
Für die Umsetzung seiner Vorhaben ist der Kultur Kreis Kamen auf Spenden angewiesen, die auf das Konto des Fördervereins des Kamener Museums, IBAN DE 27 4435 0060 1800 0390 99 bei der Sparkasse UnnaKamen, Stichwort: KKK, (wenn möglich, konkreten Spendenzweck angeben) überwiesen werden können. Der Förderverein stellt steuerlich wirksame Spendenquittungen aus (bitte Spenderadresse deutlich angeben).

Klaus Holzer

Die Patenschaft Bloomfield – Kamen

Ein geschichtlicher Überblick von Jürgen Dupke

Vor fast 70 Jahren gingen die Städte Bloomfield (Nebraska, USA) und Kamen (NRW, Deutschland) eine Patenschaft ein. Diese Patenschaft – und nicht Partnerschaft, wie sie die Stadt Kamen heute zu vielen Städten im In- und Ausland pflegt – war das Ergebnis großer wirtschaftlicher Not.

Nach dem Ende des II. Weltkrieges wünschte das Hilfs- und Unterstützungs-Komitee der kleinen Stadt Bloomfield aus dem Mittleren Westen der USA eine Verbindung zu einer deutschen Stadt ähnlicher Größe. Die alliierte Militärregierung hatte bereits 1947 nach deutschen Städten gesucht, die sich für eine Patenschaft durch amerikanische Städte eignen würden. Kamen empfahl sich in einem Brief an den Oberkreisdirektor in Unna (der dann an die Militärregierung berichtete) mit den Worten: „Durch den Krieg und seine Folgen ist die Einwohnerschaft hart getroffen worden. Die Siedlungen der Bergleute hatten unter dem Bombenkrieg schwer zu leiden. Aber auch die Innenstadt ist nicht verschont geblieben. (…) Wir sind deshalb dankbar für jede Hilfe, die uns zur Linderung einer durch höhere Gewalten für längere Zeit entstandenen Notlage von außen zuteil wird.“

Abb. 1

Zeremonie im großen Sitzungssaal des alten Rathauses in Kamen: Der amerikanische Kongreßabgeordnete Artur Stefan hält eine Rede an die Mitglieder des Kamener Rates

In Folge eines Fehlers wurde Bloomfield, das zu jener Zeit nur 1500 Einwohner zählte, mit Kamen, das bevölkerungsmäßig 10-mal so groß war, zusammengebracht. „Die Bewohner Bloomfields im Staate Nebraska haben beschlossen, die deutsche Stadt Kamen, im Kreis Unna, zu adoptieren. Dieser Beschluß geht zurück auf die Initiative des für seine privaten Hilfsleistungen nach Europa bekannten Bloomfielder Bürgers Claude Canaday“, zitierte daraufhin am 24. Februar 1948 die Westfalenpost aus einem entsprechenden Schreiben der Amerikaner. Diese hatten den Wunsch nach einer Stadt geäußert, die im Kohlenrevier liegen und eine katholische wie eine lutherische Kirche haben sollte.

Am 10. Juli 1948, rechtzeitig vor Beginn der 700-Jahrfeier der Stadt Kamen, wurde die erste Hilfslieferung, bestehend aus 100 CARE-Paketen, am Rathaus abgeladen. Es handelte sich um den Gegenwert einer 1.000 Dollar-Spende des Bloomfielder Hilfskomitees. Jeder US-Bürger konnte damals für 10 Dollar ein Paket, mit dem Namen des Spenders versehen, nach Europa schicken.

Abb. 2

Die erste Lieferung von Care-Paketen trifft ein

Überbracht wurden die Pakete, die so lange entbehrte Konsumwaren wie Kaffee, Schokolade und Fleischkonserven enthielten, durch das Kongreßmitglied Artur Stefan. Er wurde von General Lucius Clay, dem damaligen Militär-Gouverneur der US-Zone in Deutschland, begleitet. General Clay schrieb im Juli 1948 über seinen Besuch in Kamen an die Bürger von Bloomfield: „Wir kamen in Kamen gegen 16 Uhr an. Auf den Straßen dort hielten sich viele Menschen auf. Wir begaben uns in das Büro des Bürgermeisters, wo wir herzlich empfangen wurden. Um 17 Uhr wurde eine Zeremonie in einem großen Raum des Rathauses abgehalten. Einhundert CARE-Pakete aus Bloomfield waren in der Nacht zuvor eingetroffen. (…) 

Abb. 3

In der Mitte: General Lucius D. Clay, (1897 – 1978), bei seinem Besuch in Kamen. Clay war von 1947 bis 1949 Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland. Er gilt mit Adenauer und Schumacher als einer der Gründer der Bundesrepublik Deutschland; rechts daneben Stefan mit seiner Frau

Die Zeremonie war sehr beeindruckend. Kongreßmitglied Stefan hielt eine interessante Rede, in der er die Stadt Bloomfield vorstellte und die Adoption Kamens begründete. Die Deutschen waren überglücklich und viele von ihnen hatten Tränen der Dankbarkeit für die Großzügigkeit Bloomfields und das Geschenk der CARE-Pakete in den Augen. (…) Nach der Veranstaltung schauten wir aus den Rathaus-Fenstern und waren überrascht, daß die Straßen gefüllt waren mit Bürgern, die alle zum Rathaus hinaufsahen um Kongreßmitglied Stefan und seine Begleitung zu begrüßen. (…)“   

Abb. 4

Ein Polizist bewacht die erste Paket-Lieferung. Die Polizei trug damals für eine Übergangszeit extra hergestellte Uniformen, damit die aus der Nazizeit belastete Uniform aus der Öffentlichkeit verschwand

Die Hilfslieferungen an Kamen, die noch einige Jahre andauerten und nicht nur aus CARE-Paketen bestanden, wurden durch eine Sonderkommission an die Bedürftigen und Hungrigsten der Stadt verteilt, wie Bürgermeister Rissel und Stadtdirektor Heitsch dem Begründer des Hilfswerks in Bloomfield, Claude Canaday, im Sommer 1948 mitteilten.

Abb. 5

 So sehr erwarteten die Kamener die Hilfslieferungen

Wann die materielle Unterstützung der Kamener Bevölkerung durch die Bürger Bloomfields endete, ist durch die Unterlagen des Stadtarchivs nicht zu belegen. Sicher ist aber, daß der Motor der Hilfsleistungen, der Farmer Claude Canaday (1896 – 1988), zwei Reisen auf eigene Kosten nach Kamen im Oktober 1948 und im Juni 1949 antrat, um „seine“ Stadt kennenzulernen und sich persönlich dafür einzusetzen, daß u.a. die Fabrik Hermann Klein (Produzent von Achslagern und anderen Eisenbahnteilen), die von den englischen Besatzungsbehörden zur Demontage vorgesehen war, weiterarbeiten konnte. Mit diesem Vorstoß hatte er auch tatsächlich Erfolg.

In einem Brief vom Juli 1965 schrieb Canaday an den Kamener Bürgermeister Beckmann: „ In unserem ersten Hilfsangebot hofften wir, nur Ihre Bürger etwas zu ermutigen, wo doch die Leiden und die Hoffnungslosigkeit so groß war. Wir waren froh, daß Sie unser Angebot annahmen und sind stolz darauf, die Bürger der Stadt Kamen als unsere Freunde nennen zu können.“ 

Im Jahr 1990 feierte der Ort Bloomfield seinen 100-sten Geburtstag. Dazu hat auch Kamen sehr herzlich gratuliert. In einer Festschrift Bloomfields, die zu diesem Anlass erschien und im Kamener Stadtarchiv verwahrt wird, schrieben die Autoren: „Das Gemeinwesen Bloomfield besteht aus hart arbeitenden Bauern und Kleinstadtbewohnern, die ihre Unterstützung aus christlicher Nächstenliebe und Mitgefühl und nicht aus dem Überfluss gegeben haben.“

Am 16. Juli 2009 besuchte Leroy Cordes, Bürgermeister Bloomfields, die  Stadt Kamen. Er übergab dabei an sein Kamener Pedant, Hermann Hupe, eine Plakette, welche die damals mehr als 60 Jahre alte Patenschaft zwischen den beiden Städten symbolisiert. Diese Plakette befindet sich heute im Kamener Stadtarchiv.

Im Jahr 2015 schließlich konnte Bloomfield den 125-igsten Jahrestag seiner Gründung feiern. Auch dazu hat die Stadt Kamen, in einem Brief von Hermann Hupe an seinen amerikanischen Amtskollegen, sehr herzlich gratuliert. Die Dankbarkeit der Kamener für großzügige Hilfe in schwerer Zeit wird aber nicht nur durch den Schriftverkehr der Repräsentanten beider Städte gewürdigt. Sichtbares Zeichen dafür, daß die Unterstützung der amerikanischen „Paten“ nicht vergessen ist, sind die beiden Straßenbenennungen „Claude-Canaday-Straße“ und „Bloomfield-Straße“, die sich beide auf der Lüner Höhe befinden. An den Straßenschildern befinden sich Namenserläuterungen. In diversen Publikationen, besonders sei hier auf das Buch zur Kamener Stadtgeschichte „Burgmänner, Bürger, Bergleute“ von Klaus Goehrke hingewiesen, wird zudem die Historie und Bedeutung dieser Verbindung  beider Städte und ihrer Bürger dokumentiert.

 

Bildquellen: National Archives at College Park, Maryland, USA/ Stadtarchiv Kamen: Abb. Nr. 1,3,4,5 (alle Photos vom 8. Juli 1948

Stadtarchiv Kamen: Abb. Nr. 2

Zu Praetorius: Hexenverfolgungen – Dichtung und Wahrheit

von Klaus Holzer

Abb. 1 Hexenverbrennung 2

Abb. 1: Hexenverbrennung 1587

Was war es nun, dessen ,Hexen‘ beschuldigt wurden, was sie gestehen sollten? Es waren vier Tatbestände, die den ,Hexen‘ zur Last gelegt wurden und die sie zu gestehen hatten: Teufelspakt (beinhaltet auch Teufelsbuhlschaft, d.h., Geschlechtsverkehr mit dem Teufel), Hexenflug, Hexensabbat und Schadenszauber. Und erst, wenn sie dieses gestanden hatten, konnte gegen sie die Todesstrafe verhängt werden.

Abb. Ersatz Hexenflug

Abb. 2: Hexenflug

Das verlangte die kaiserliche Halsgerichtsordnung, die Constitutio Criminalis Carolina Kaiser Karls V. von 1532. Um das Geständnis zu erreichen, wurde gefoltert. Durch die Folter wurde also eine an sich gute Bestimmung in ihrer Wirkung pervertiert.


Abb

Abb. 3: Titel mit Frontispiz ( Titelblätter des Kommentars zur Carolina (im Stadtarchiv)

Aus der Zwischenablage

Abb. 4: Titelseite der Carolina, Ausgabe von 1696 (im Stadtarchiv)

Die die „zauberey“ betreffenden Passagen der Carolina lauten (Dank an Hans Jürgen Kistner, der mich auf diese Passagen aufmerksam machte):

44. Von zauberey gnuogsam anzeygung

ITem so jemandt sich erbeut andere menschen zauberei zuo lernen / oder jemands zuo bezaubern bedrahet vnd dem bedraheten dergleichen beschicht / auch sonderlich gemeynschafft mit zaubern oder zauberin hat / oder mit solchen verdechtlichen dingen / geberden / worten vnd weisen / vmbgeht / die zauberey auf sich tragen / vnd die selbig person des selben sonst auch berüchtigt / das gibt eyn redlich anzeygung der zauberey / vnd gnuogsam vrsach zuo peinlicher frage.

52. So die gefragt person zauberey bekent.

ITem bekent jemandt zauberey / man soll auch nach den vrsachen vnnd vmbstenden / als obsteht fragen / vnd des mer / wo mit / wie vnd wann / die zauberey beschehen / mit was worten oder wercken. So dann die gefragt person anzeygt / daß sie etwas eingraben / oder behalten hett daß zuo solcher zauberey dienstlich sein solt / Mann soll darnach suochen ob man solchs finden kundt / wer aber solchs mit andern dingen / durch wort oder werck gethan / Man soll dieselben auch ermessen / ob sie zauberey auff jnen tragen. Sie soll auch zuofragen sein / vonn wem sie solch zauberey gelernt / vnd wie sie daran kommen sei / ob sie auch solch zauberey gegen mer personen gebraucht / vnd gegen wem / was schadens auch damit geschehen sei.

109. Straff der zauberey.

ITem so jemamdt den leuten durch zauberey schaden oder nachtheyl zuofügt / soll man straffen vom leben zuom todt / vnnd man soll solche straff mit dem fewer thuon. Wo aber jemandt zauberey gebraucht / vnnd damit niemant schaden gethan hett / soll sunst gestrafft werden / nach gelegenheit der sach / darinnen die vrtheyler radts gebrauchen sollen / wie vom radt suochen hernach geschriben steht.

Abb. 2 CCCarolina Abb. 5: Constitutio Criminalis Carolina, Ausgabe von 1577

Im folgenden sollen vier Aspekte näher beleuchtet werden:

  1. Es wurde und wird behauptet, daß Hexenverfolgungen eine systematische Vernichtung von Frauen und (wenigen) Männern waren, die „im Vergleich zur damaligen Menschendichte mehr Menschenleben gefordert hat als die unvorstellbare Judenvernichtungsaktion Hitlers“. Dabei ist die Rede von bis zu 9 Millionen Hexenfolterungen und –verbrennungen.
  2. Prozesse und Verurteilungen fanden auf Betreibung der (katholischen) Kirche statt. Die (vor allem spanische) Inquisition war die treibende Kraft hinter Tortur und Verbrennungen.
  3. Der Hexenhammer.
  4. Friedrich Spee.

Ich beziehe mich in den folgenden Ausführungen auf das 2. Kapitel „Hexen und Zauber“, „I. Hexenglauben“ (S. 295 – 333) in „Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert“, erschienen bei Aschendorff in Münster 2007, des Münsteraner Theologen Arnold Angenendt, der sich intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt hat.

Zu 1.:

Angenendt zitiert „gut belegte Zahlen von Gustav Henningsen“ von 2003, die für Deutschland etwa 25.000 Opfer bei ca. 16 Millionen Einwohnern nachweisen. In den deutschen katholischen Gebieten waren die Opferzahlen höher als in protestantischen Gebieten. In den katholischen Ländern Europas hingegen liegen diese Zahlen bedeutend niedriger. Bezieht man die Zahl der Opfer auf die Gesamtbevölkerung, ergibt sich folgendes Bild (Hexenhinrichtungen in Europa, höchste Zahlen, Auszug aus der Tabelle von Henning):

Land

Einwohner um 1600

Hinrichtungen

Promille

Dänemark/Norwegen

970.000

1.350 (?)*

1,392

Deutschland

16.000.000

25.000

1,563

Polen/Litauen

3.400.000

10.000 (?)*

2,941

Schweiz

1.000.000

4.000

4

Liechtenstein

3.000

300

100

(Hexenhinrichtungen in Europa, niedrigste Zahlen, Auszug aus der Tabelle von Henning):

Land

Einwohner um 1600

Hinrichtungen

Promille

Niederlande

1.500.000

200

0,133

Italien

13.100.000

1.000 (?)*

0,076

Spanien

8.100.000

300 (?)*

0,037

Portugal

1.000.000 (?)*

7

0,0007

Irland

1.000.000

2

0,0002

* Diese Zahlen weisen eine größere Unsicherheit auf.

Diese Zahlen liegen deutlich unter den wohl ideologisch motivierten Phantasiezahlen, die in die Millionen gehende Opferzahlen propagieren, dennoch muß klar gesagt werden, daß sie immer noch bestürzend hoch sind. Der Begriff „Justizmord“ wurde bezeichnenderweise im Zusammenhang mit einem Hexenprozeß geprägt. Und der Anteil der Frauen liegt, nach ebenfalls als zuverlässig erachteten Schätzungen, die auf vorhandenen Dokumenten wie Gerichtsprotokollen fußen, bei 75 – 80%.

Zu 2.:

Wo die Hexenverfolgung in den Händen der Inquisition lag, wird ein gemäßigter bis vorsichtiger Umgang mit dem Hexereidelikt festgestellt. In Spanien war es die institutionalisierte Inquisition, die die Hexenverfolgungen unter ihre Kontrolle brachte und 1526 praktisch beendete. Der römischen Inquisition wird bescheinigt, Kranke und Bedürftige gut behandelt zu haben, schwangere Frauen mit Rücksicht. Es gab die gleiche Verpflegung wie für die Wärter, Heizmaterial für die Zellen und regelmäßig frische Bettwäsche, die Wärter waren ohne Grausamkeit.

Hexenglauben wird heute als vormodernes Allgemeinphänomen betrachtet, das zunächst von der Kirche nicht ernst genommen und daher oft durch Lynchjustiz „geahndet“ wurde. Der mit Hexenglauben eng zusammenhängende Schadenszauber war ein säkulares Delikt, das seit dem Codex Hammurabi (Babylon, 18. Jh. v. Chr.), mit Strafe bewehrt ist, das die Kirche nicht strafrechtlich verfolgte, wohl aber das weltliche Recht, wie es schon der Sachsenspiegel des Eike von Repgow (Deutschland, zwischen 1220 und 1235) vorsah: „Ist ein Christ ungläubig oder beschäftigt er sich mit Zauberei und Giftmischerei und wird dessen überführt, den soll man auf dem Scheiterhaufen verbrennen.“  (Hexenglauben und –verfolgung gibt es noch heute in Afrika, Südostasien und Südamerika.)

Abb. 3 Hexenverbrennung

Abb. 6: Hexenverfolgung/verbrennung

Der Hexereibegriff, den wir heute zugrundelegen, wurde erst gegen Ende des Mittelalters (MA) geschaffen. Kennzeichen: 1. Pakt mit dem Teufel. 2. Geschlechtsverkehr mit ihm; 3. Möglichkeit zum Schadenszauber bzgl. Mensch, Tier und Ernte; 4. Teilnahme am Hexensabbat.

Nahezu alle frühen Hexenprozesse wurden nicht von Geistlichen veranstaltet, hatten nichts mit kirchlicher Gerichtsbarkeit zu tun, sondern von Politikern und Laien, da die weltlich-staatliche Justiz generell die Zuständigkeit bei Hexenprozessen für sich reklamierte. 1532 beanspruchte die Constitutio Criminalis Carolina Kaiser Karls V., das für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation erlassene Strafgesetzbuch, die Kompetenz für Hexenprozesse, ließ sie aber nur für „wirklich nachweisbaren Schadenszauber“ zu und erlaubte nur begrenzte Folteranwendung. Dadurch wurden in schwierigen Fällen studierte Juristen notwendig, was die weltlich-staatliche Justiz nach sich zog.

Fast immer kamen Hexenprozesse durch Anzeigen aus der Nachbarschaft  und der Dorfgemeinde in Gang. Oft gab es im Dorf Hexenausschüsse, und da diejenigen, die jemanden der Hexerei bezichtigten, sich das Vermögen der „Hexen“ mit den Richtern teilen durften, endeten Hexenprozesse hier auch so gut wie immer mit einem Todesurteil. Auf dieser Ebene, zusammen mit den adeligen Ortsgerichten, kam es auch immer wieder zur kirchlicherseits längst verbotenen Wasserprobe. Und hier führte man in der Regel auch sofort die keinen Normen verpflichtete Folter durch. Ausgerechnet päpstliche Inquisitoren erkannten mit als erste, daß maßlose Folterung zu zahlreichen Fehlurteilen führen mußte und geführt hatte.

Abb. Ersatz Erkenntnis der ZauberinnenAbb. 7: Wasserprobe

In summa: Die Inquisition verfuhr rechtsbewußter und weniger grausam als die weltliche Justiz.

Zu 3.:

Der Dominikanermönch Heinrich Kramer, der sich lateinisch Institoris nannte, war eine zwielichtige Gestalt, die u.a. wegen Unterschlagung von Ablaßgeldern belangt worden war. Er besorgte sich 1484 von Papst Innozenz VIII. eine Bulle, die Hexenverfolgung vorsah, nicht jedoch Hexenverbrennung. Daraufhin zettelte er Hexenverfolgungen an, scheiterte jedoch kläglich, so z.B. in Innsbruck. Der Bischof von Brixen nannte ihn „kindisch“ und „verrückt“ und warf ihn aus Innsbruck hinaus. Erst dann schrieb er den „Hexenhammer“ (Malleus Maleficarum), und zwar allein, ohne den meist mitgenannten Jakob Sprenger. Er fügt seinem Buch die päpstliche Bulle bei, ein Gutachten der Kölner Theologischen Fakultät und ein kaiserliches Privileg, wodurch der Eindruck höchster Autorität entstand. Jedoch zeigen neue Forschungen, daß die Bulle in Wahrheit aus der Bürokratie des Vatikans stammt und ohne Wissen des Papstes verfaßt wurde. Und das Gutachten der Kölner Theologen ist mittlerweile als Fälschung entlarvt worden. Bleibt nur noch das kaiserliche Privileg, das bislang nicht angezweifelt wird.

Abb. 5 Malleus_1669

Abb. 8: Der Hexenhammer

Seit seinem Erscheinen in der Karwoche 1487 und einem weiteren Druck 1520 erschien der Hexenhammer in 10.000 Exemplaren und traf offensichtlich den Nerv der Zeit: Er wurde zur Grundlage der Hexenverfolgungen und –verbrennungen, die vor allem das 16. und 17. Jh. erschütterten. Von nun an wurden Hexereidelikte nördlich der Alpen ausschließlich vor weltlichen Gerichten verhandelt, die sich ja der Zustimmung der katholischen Kirche gewiß waren, waren doch die Umstände ihrer Entstehung nicht bekannt. Selbst die protestantischen Kursächsischen Konstitutionen (1572 vom sächsischen Kurfürsten August publizierte Sammlung von Rechtsentscheidungen) übernahmen Teile des Hexenhammers. Sie bieten eine organische Weiterentwicklung des auf dem Sachsenspiegel fußenden sächsischen Rechts und wandten ihn an, samt der Todesstrafe. Selbst die bekannten Gegner der Hexenverfolgung, Spee und Prätorius, bestreiten nicht, daß es Hexen gibt. Und Luther äußert sich in seiner Predigt vom 6. Mai 1526: „Sie schaden vielfaltig, also sollen sie getötet werden, nicht allein, weil sie schaden, sondern auch, weil sie Umgang mit dem Satan haben.“ Calvin scheint hier nicht klar zuzuordnen zu sein. Zum einen erklärte er, Gott selbst habe die Todesstrafe für Hexen festgesetzt („Hexenverfolgung“, wikipedia). Zum anderen soll Calvin für  Praetorius eine Autorität sein, die er im Kampf gegen Hexenverfolgungen auf seiner Seite sieht (Detmers, historicum.net). Es bleibt jedoch klar festzuhalten, daß Hexerei im MA Bestandteil der Lebenswirklichkeit war.

Die spanische Inquisition lehnte den Hexenhammer auf einer Konferenz in Granada 1526 ab, die römische Inquisition urteilte 1580 genauso.

Zu 4.:

Ein weiteres Indiz dafür, daß es nicht „die Kirche“ war, die vor allem für Hexenverfolgung und –verbrennung verantwortlich war, ist die Tatsache, daß es der Mönch Friedrich Spee (FS) (25.2.1591 – 7.8.1635) und, noch vor ihm, der Pfarrer Anton Praetorius (AP) (um 1560 – 6.12.1613) waren, die vehement gegen diese Praxis Stellung bezogen, ja, sie in Wort und Tat bekämpften, und nicht etwa die Juristen in städtischen und landesherrlichen Diensten. Allerdings hatten Theologen und Prediger durchaus ihren Anteil an diesen Greueltaten.

Abb. 6 Friedrich Spee

Abb. 9: Friedrich Spee von Langenfeld (Ölbild von Martin Mendgen, 1938, Stadtbibliothek Trier)

Der wirkungsvollste Gegner der Hexenverfolgungen war ein Jesuit, Friedrich Spee, der Autor der Cautio Criminalis seu de processibus contra Sagas Liber (deutsch: Rechtliches Bedenken oder Buch über die Prozesse gegen Hexen). In dieser Schrift, die er 1631 anonym veröffentlichte, argumentiert FS zunächst vor allem juristisch. Er verlangt eine wirksame Strafverteidigung: der Richter solle dafür sorgen, daß es den Gefangenen nicht an Advokaten fehlt. Den Verteidigern solle der Zugang zum Gefängnis nicht verwehrt werden dürfen. Dann solle der Richter ein festes Gehalt bekommen, um ihn vor Bestechlichkeit zu schützen und seine Unabhängigkeit zu gewährleisten. Und er fordert die Beachtung des Grundsatzes in dubio pro reo ein, heute als „Unschuldsvermutung“ in aller Munde.

Abb. 7 Cautio_criminalis_1631

Abb. 10: Cautio Criminalis eines unbekannten römischen (katholischen) Theologen (anonym von Friedrich Spee veröffentlicht)

FS belegt an Beispielen aus seiner eigenen Erfahrung, daß die Folter ein inhumanes, ganz und gar unzuverlässiges Mittel zur Erforschung der Wahrheit ist. Die Verantwortlichkeit für Folter und Hexengerichte verteilt FS folgendermaßen: 1. die Fürsten, 2. die Ratgeber der Fürsten, 3. die Hexenrichter, 4. die Hexenbeichtväter, 5. das Volk,      6. die Hexenliteratur, 7. die Prediger. Seine Schrift richtet sich demzufolge ausdrücklich ad magistrates Germaniae: Ratgeber und Beichtväter der Fürsten, Inquisitoren, Richter, Advokaten, Beichtiger der Angeklagten und Prediger.

Schon 1627 hatte ein anderer Jesuit, Adam Tanner in Bayern, seine theologischen Argumente gegen Hexenverbrennungen vorgebracht, voller Abscheu gegen die zu der Zeit in den geistlichen Fürstbistümern Eichstätt, Bamberg, Würzburg und Mainz tobenden Hexenverbrennungen.

Doch entwickelte FS nicht nur eine lückenlose juristische Argumentationskette gegen die Hexenverbrennungen, sondern legte auch ausführlich christlich–kirchliche Argumente dar. Zuallererst berief er sich auf den Gott der Liebe: Gott ist ein für alle Male von unbegreiflicher Liebe zum Menschengeschlecht erfüllt. Im Gegensatz zu den Scharfmachern interpretiert er das Weizen/Unkraut–Gleichnis in Matthäus 13, 24 – 30 tolerant: Wenn Gefahr droht, daß zugleich der Weizen mit ausgerauft werde, dann darf das Unkraut nicht vertilgt werden. Mit seiner Klage „Ecce Germania tot sagarum mater“ (Sehet Deutschland, so vieler Hexen Mutter) spielt er auf das Ecce homo der Passionsgeschichte an. Seine Haltung kam „vom Glauben her“.

Und weiter unten heißt es: „[…] Schadenszauber und damit auch Hexerei [galten] bei den kirchlichen und bei den weltlichen Instanzen als wirklich existent und strafbar. Darum verfolgte die weltliche Justiz den durch Hexerei angerichteten Schaden als justiziables Verbrechen. Die kirchliche Vorgehensweise wollte […] nur geistliche Bestrafung, bei Verzicht auf Körperstrafen. Da jedoch kirchlicherseits bei den Ketzern die Todesstrafe möglich geworden war, mußte allen Hexern und Hexen wegen ihres häretischen Teufelspaktes ebenfalls der Tod drohen. Aber die Kirchengerichte wie besonders die Inquisition hielten sich zurück, ja lehnten ab. So ist am Ende festzustellen: Zauberei galt allgemein als teuflisch, wegen des Teufelspaktes als Glaubensaufkündigung, wurde aber kirchenoffiziell nicht mit dem Tode geahndet, allerdings nicht deswegen, weil man die Todesstrafe grundsätzlich für bedenklich gehalten hätte, sondern weil man bei Hexerei den erforderlichen juristischen Erweis für unmöglich hielt.“

Und es verdient festgehalten zu werden, daß alle Konfessionen bei diesem Kampf gegen Hexenverfolgungen beteiligt waren: der calvinistische Pfarrer Anton Praetorius  als Vorreiter mit seinem „Gründlichen Bericht von Zauberei und Zauberern“ , der Jesuit Friedrich Spee mit seiner „Cautio Criminalis“ von 1631 als wirkungsvollster Kämpfer, lutherische Pfarrer, als sie AP öffentlich unterstützten, indem sie die dritte Auflage von 1613 seines „Gründlichen Berichts“ förderten.

Fazit: Die aufklärerisch-liberale Interpretation der Hexen-Verfolgung lautete, wie die Aufarbeitung der Hexerei-Geschichtsschreibung inzwischen ergeben hat: „mehrere Millionen Opfer, mittelalterliches Phänomen und ausschließliche Schuld bei der katholischen Kirche bzw. der Inquisition“. Das Gegenteil ist inzwischen herausgearbeitet: weder Millionen Opfer, noch mittelalterliches Phänomen, sogar Ablehnung durch Päpste und Inquisition.

Abb. 8 Titelseite 1602

Abb. 11: Antonius Praetorius – Gründlicher Bericht von Zauberey etc. (vgl. Artikel über Praetorius)

Auch Hartmut Hegeler kommt in seiner Schrift „Hexenprozesse. Die Kirchen und die Schuld“ (Unna 2003) zu einem ähnlichen Verdikt: „Von einer alleinigen Verantwortung der Kirchen für Entstehung und Durchführung der Hexenprozesse kann jedoch nicht gesprochen werden.“ (S.8) Allerdings beurteilt er die Verstrickung der lutherischen, calvinistischen und katholischen Kirche als so schwerwiegend, daß er offizielle Schuldanerkenntnisse von ihnen verlangt und darüber hinaus auch die Rehabilitierung aller als Hexen verurteilten Personen. Hierin hat er durch seine Initiative auch schon einiges erreicht: bis 2015 wurden „Hexen“ in 40 Städten und Gemeinden rehabilitiert. Winterberg im Sauerland machte am 19. November 1993 den Anfang, heute steht Gelnhausen in Hessen seit dem 10. Juni 2015 am vorläufigen Ende der Liste.

Hegeler sagt dazu: „Eine rechtliche und theologische Rehabilitierung der unschuldig hingerichteten Opfer der Hexenprozesse ist ein überfälliger Akt im Geiste der Erinnerung und Versöhnung.“

Wie komplex die Materie ist, wird allerdings auch deutlich. „Man darf nicht vergessen, dass die Menschen nach damals geltendem Recht verurteilt wurden. Hexerei war ein existierender Straftatbestand, auch Folter war erlaubt,“ sagt der Jurist Prof. Dr. Wolfgang Schild von der Universität Bielefeld. „ Eine tatsächliche juristische Rehabilitierung – also die Aufhebung der Urteile – ist deshalb nicht möglich. Was die Städte also lediglich tun können, hat vielmehr symbolischen Wert.“ (lt. dpa vom 27. Nov. 2011) Er betont also das juristische Prinzip, wonach Gesetze nicht rückwirkend (ex post) angewandt werden dürfen.

Auch wenn vielleicht nicht überall eine juristische Aufarbeitung und, damit einhergehend, eine Revision der mittelalterlichen Hexengerichtsurteile möglich oder erwünscht ist, mindestens läßt sich aber Hegelers Vorschlag umsetzen, wenigstens eine Straße nach dem ersten Kämpfer gegen Hexenprozesse, Antonius Praetorius, zu benennen. Eine mitgegebene Erklärung wird alle an diese doch im ganzen unrühmliche Zeit erinnern. Ein Akt der Aufklärung.

Anhang: Die drei Passagen (44, 52, 109), die oben aus der Carolina zitiert werden, im Erscheinungsbild  der Ausgabe von 1696 (im Stadtarchiv Kamen):

44 Zauberey

Ziff. 44: Von Zauberey genugsame Anzeigung

52 gefragte Person

Ziff.  52: So die gefragte Person Zauberey bekennt

109 Straff

Ziff. 109: Straff der Zauberey

Bildnachweis:

aus Wickiana: Abb. 1

aus Wikipedia: Abb. 2, 5, 7, 8 (MM, Lyon 1669), 10 (Rinteln 1631), 11

Stadtarchiv Kamen: Abb. 3 & 4

aus H. Hegeler, Hexenverfolgung am Beispiel von Anton Praetorius: Abb. 6

Friedrich-Spee-Gesellschaft Trier: Abb: 9

KH

Ulrich Kett

von Klaus Holzer

Abb. 1 Ulrich Kett

Ulrich Kett,  geb. 15. Juli 1942

„Kunst ist, was ein Künstler macht. Und Künstler ist, wer vom Finanzamt als Künstler anerkannt ist.“

Ist eine uneitlere Definition des eigenen Tuns vorstellbar? Entspannt und gelassen sitzt Ulrich Kett in seinem Atelier in Meinerzhagen, umgeben von seinen Bildern und Büchern, mit sich und der Welt im reinen. So etwas kann wohl nur jemand sagen, der sich sicher ist, daß er sein Handwerk beherrscht, vom Porträtzeichnen bis hinter den Horizont des Abstrakten.

Ulrich Kett beherrscht das alles. Schon das Gekleckse und Gemale des kleinen Uli im Kindergarten in Kamen war besser als das der anderen Kinder. Die betreuende Nonne sammelte alles von ihm und gab es seiner Mutter, als der Junge auf die Volksschule wechselte. Er hörte nicht auf, Blatt um Blatt malte er voll, von der verständnisvollen Oma geduldet, ja gefördert: Häkeldecke vom Wohnzimmertisch, Zeitung als Unterlage darauf, ein Blatt, viele Blätter Papier zum Malen, Nachmittag für Nachmittag.

Nach der Schule ging’s in die Lehre als Dekorateur und Plakatmaler bei Kaufhaus Küster in der Weststraße in Kamen (heute Vögele), wo ein Jahr später Helmut Meschonat (vgl. Artikel Helmut Meschonat) ebenfalls diese Lehre begann. Zwei Jungen, eine Seele. Zu diesen beiden stieß Heinrich Kemmer als Dritter hinzu, der allerdings eine Lehre als Möbeltischler in Hamm machte.

Lehre, „künstlern“, über Kunst reden, abends ein Bierchen in einer der vielen Kamener Kneipen, Schaschlik extra scharf im Bacchus in der Weißen Straße. Der Plakatmaler Uli malte in Handarbeit alle die Plakate, die die Jazzbandbälle und –tanztees der „primitiven“ ankündigten.

Inzwischen hatten sich bei den drei Freunden sechs Bilder angesammelt, also wollten sie auch ausstellen. Aber wie das anfangen? Erst einmal mußte ein Name her: „Malkasten Schieferturm“ nannten sie sich, merkten jedoch sogleich, daß Heine Kemmer sich mehr mit Plastiken und Skulpturen beschäftigte, daher wurde daraus das allgemeinere „Gruppe Schieferturm“ (vgl. Artikel „Gruppe Schieferturm“). Aber ohne den Leiter des damaligen Kamener Bildungswerks, Wolfgang Baer, wäre es schwierig geworden, so ohne alle Kontakte. Er übernahm die Organisation, druckte Einladungszettel und tatsächlich kamen die ersten Ausstellungen der jungen Kamener in den beiden neuen Schulen am Koppelteich (vgl. Artikel Gustav Reich), Martin-Luther- und Glückaufschule, zustande, protegiert von Professor Lothar Kampmann (vgl. Artikel Lothar Kampmann). Dort trafen die drei auch Emile Künsch, einen umtriebigen Luxemburger, der sich in Kamen niedergelassen hatte. Ca. sieben Jahre lang war er der „Manager“ der Gruppe Schieferturm, bis man sich trennte.

Abb. 2 Der König 1964 100 x 80 cm Kopie

Abb. 2:  Der König (1964)

Abb. 3 Der König auf dem Weg nach Unna 1964 100 x 80 cm Kopie

Abb. 3: Der König auf dem Weg nach Unna (1964)

Für den heutigen Betrachter, seit Jahrzehnten gewöhnt an abstrakte Kunst, ist die Aufregung kaum noch verständlich, die Bilder wie diese „Königsbilder“ im Oktober 1964 erregten, als das Kamener Publikum erst sehr spärlich, nach Prof. Lothar Kampmanns sehr geharnischten Worten bei der Eröffnung etwas zahlreicher in die Ausstellung der Gruppe Schieferturm in die Glückauf-Schule ging. Das Abstrakte war in Kamen noch nicht „angekommen“. Hier sah man noch „realistisch und naturalistisch“. Kampmann: „ Wer ‚Gegenstand‘ gehört hat, soll ‚Gestalt’ denken, und wer ‚Natur‘ gehört hat, soll sie als Inbild und Abbild verstehen. In den ausgestellten Bildern kommt das Elementarische, das hinter dem hantierbaren Gegenstand steht, zum Ausdruck. … Die Künstler … befassen sich vielmehr mit der neuen Wirklichkeit.“ Um dem Publikum bei der Eröffnung der „Jubiläumsschau“ der Gruppe  Appetit zu machen, preisen die „Heimat-Nachrichten“ (leider ohne Datum, vermutlich HA 1964): „Außer bei Meschonats Werken ist durchweg eine gewisse Verwandtschaft zum Jugendstil erkennbar – insbesondere bei Kett, der jedoch die schreienden Formen auflöst und reduziert.“ Naja, die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Und „Jugendstil“?

Ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis zur abstrakten Kunst wirft auch ein mit -d gezeichneter Bericht (ebenfalls ohne Datum, wohl ebenfalls HA 1964). Die Zeitung hatte das Photo eines Bildes von Kett erhalten: „Der König auf dem Wege nach Unna“ (Abb. 3). „In unserer Redaktion … machte diese Aufnahme einiges Kopfzerbrechen. Was war oben, was war unten? … Bis einer auf einer Ecke des Bildes so etwas entdeckte, was wie ein Signum aussah. … Ulrich Kett 64.“

Ein überzeugter Förderer der Kamener Künstler war Museumsrat Dr. Carl Baenfer aus Münster, der ihnen vielleicht den Weg zum freien Künstlertum hätte ebnen können. Für ihn malte „der Künstler von heute nicht schön, aber wahr“. Er müsse das Risiko auf sich nehmen, mißverstanden zu werden. Er schrieb der Kunst „geistige und übermaterielle Potenz“ zu. Alles dieses fand er in der Kunst der drei jungen Kamener. Er war so überzeugt von ihren Qualitäten, daß er immer wieder anreiste und sie beriet, ihnen das theoretische Gerüst vermittelte, sie ermutigte. Leider starb er bei einem Verkehrsunfall auf dem Weg von Münster nach Kamen auf dem Weg zu „seiner“ Gruppe Schieferturm.

Nach diesen ersten Erfolgen schien mehr möglich. Ulrich bestand die Gesellenprüfung zum Abschluß seiner Lehrzeit. Nun betrachtete er sich als Halbprofi und daher prinzipiell unbescheiden, Halbprofi reichte ihm nicht. Positiv gewendet könnte man sagen, Neugier und künstlerischer Hunger setzten ein, Kunst und Kultur avancierten zum Lebensmittel. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er meldet sich zur Aufnahmeprüfung an der Werkkunstschule Dortmund und besteht auch diese. Aber um studieren zu können, braucht man Geld. Uli ging den harten Weg, mußte ihn gehen. Ein halbes Jahr lang verlegte er Betonplatten zu Fußwegen in der neuen Siedlung Lüner Höhe. Harte Arbeit, aber gut bezahlt, die wirtschaftliche Grundlage seines Kunststudiums, dessen Anfang ein halbes Semester Grundlehre in Dortmund war.

Abb. 22 Felsen mit Vogel 2014 110 x 90 cm Kopie

Abb. 4: Felsen mit Vogel

Der späte Uli Kett (2014) liebt Farben, aber keine Farbexplosionen mehr. Eine Farbe dominiert. Der Felsen im Hintergrund ist stark strukturiert, von Rissen durchzogen als geologische Formation erkennbar. Davor links unten der Vogel, offenbar ein Jungvogel, mit gelblichen Tönen eingefärbt, durchsichtig. Organische Natur vor anorganischer. Leben vor Stein.

Und wieder fiel Ulis Talent auf. Sein Dozent Ulrich Knispel riet ihm zur Aufnahmeprüfung an der Hochschule für Bildende Künste Berlin. Die war in vier Tagen! Also: Mappe untern Arm geklemmt, raus an die Straße, Daumen raus, auf nach Berlin, eine Woche Aufnahmeprüfung, bestanden (als einer von nur 18, und einer von nur 10, die zeichnen konnten!), richtiger Student. Heureka!

Daß Kett ein begnadeter Zeichner ist, zeigt Abb. 5. Alle hier dargestellten Personen sind „richtige“ Personen, lebende Personen, die genau so aussehen. Sie sind wiedererkennbar: Gesichter, jede Falte darin, Bärte, Haarfarbe, Körperhaltung. Und damit das alles nicht zu einfach wird, wählt er grünen Karton und Farbstifte. Bei dieser Kombination muß jeder Strich sitzen, radieren geht nicht, das verzeihen weder Karton noch Stifte. Es braucht unendliche Präzision und Geduld.

Abb. 23 Kopie

Abb. 5: Bekannte Vinologen, Die Erklärung der Welt, 1980

Sein Sinn für Humor und, böser, Ironie kommt im Titel zum Ausdruck. Er beschäftigt sich mit dem, was man zur Erklärung der Welt braucht: Rotwein erleichtert den Einblick, ermöglicht den Durchblick und verschafft den Ausblick. Die drei Vinologen sitzen hinter einem Tisch, eine zu zwei Dritteln geleerte Flasche Rotwein vor sich, aus der aber nur der mittlere der drei getrunken zu haben scheint. Ulrich Kett (rechts mit erhobenem Zeigefinger) sitzt ganz am Rand, schaut den Betrachter direkt an, er erklärt die Welt, ausgerechnet der, der wohl nichts getrunken hat. Die Farbe, mit der er dargestellt wird, ist der Farbton des Hintergrundes, aber kräftiger, nur der rötliche Haarschopf hebt sich farblich aus der Komposition heraus. Die Rotweinflasche trennt ihn von den anderen. Die mittlere Figur, der Rotweintrinker, geht farblich im Hintergrund auf, nur seine Kappe und seine gleichfarbige Krawatte stechen heraus. Neben ihm der Dritte im Bunde schnuppert am leeren Behälter, der aus dem Chemieraum zu stammen scheint. Auf dem Kopf trägt er einen umgedrehten Trichter, dessen Ablaufschlauch abgeklemmt ist, nichts geht hinein, nichts kommt heraus. Keine Farbe hebt diesen Vinologen hervor. Der Tisch, an dem die drei sitzen, schwebt über einer sauerländischen Hügellandschaft, Wald, Wiesen, keine Menschen. Die spirituelle Dreifaltigkeit schwebt über einer menschenleeren Welt.

Wieder Grundlehre: Formenlehre, Zeichnen und Malen in und nach der Natur (!), täglich von 8.00 bis 16.00 Uhr. Anschließend Vorlesungen und Aktzeichnen. Seminare waren abends oder samstagnachmittags. Ab dem dritten Semester Freie Malerei, Kunstgeschichte und Philosophie als Wahlfach. Philosophie? Für einen Künstler? Sie hilft, sagt Kett, ein „Ordnungssystem der eigenen Kunsttheorie zu entwickeln“. So erfährt der Künstler, „was Menschen denken können und wo ihre Grenzen sind“. Sie hilft, „Kunst zu erkennen und zu begreifen“.

Im folgenden Jahr kam Helmut Meschonat nach bestandener Gesellenprüfung auch nach Berlin, wurde auch Kunststudent und man wohnte zusammen in einer WG. Praktisch, heimelig und preisgünstig.

In den Semesterferien zog es sie wieder nach Kamen. Vereinzelte Aufträge, private Wohnhäuser auszugestalten, ermöglichten künstlerisches Arbeiten und brachten Uli Geld ein. Er wollte intensiv weiterarbeiten, malen, Omas Wohnzimmertisch reichte nicht mehr. Mescho und Heine wollten das auch. Ein Atelier mußte her. Da trafen glückliche Umstände zusammen. Mescho war der Neffe des damaligen Stadtdirektors Fritz Heitsch (vgl. Artikel Fritz Heitsch), der Bürokrat und auch Künstler war. Das Amtsgericht war damals gerade aus seinem alten Gebäude an der Bahnhofstraße aus– , die städtische Bauverwaltung eingezogen. Der Dachboden des Gebäudes wurde vom Bauamt nicht benötigt. Da brauchte es nur den kurzen Draht zwischen Fritz Heitsch und dem Leiter des Bauamts, Horst Schulze-Bramey, und die Jungs hatten ein Atelier. Schulze-Bramey ließ ihnen Heizung und fließendes Wasser legen, verpflichtete sie im Gegenzug aber dazu, alle Holzbalken im Raum mit Wasserglas als Feuerschutz zu streichen.

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Abb. 6: Das erste Atelier

Die Einweihungsfête war legendär, die Menge der dort entstandenen Bilder aber auch. Es war die Zeit des Ausprobierens: Zeichenkohle, Graphitstift, Tusche, Mischtechnik, Tempera & Farbstifte, Blei– & Farbstifte, Ölfarben, erst auf Papier, auch Packpapier, dann auf Leinwand, Siebdruck; zunächst figürlich, bald schon abstrakt – hier fühlte sich die Kunst nach den 1000 Jahren von 33 – 45 frei von Zwang, wurde so zur beherrschenden Form für Jahrzehnte – doch blieben figürliche Elemente erkennbar. Vor allem seine Landschaften von der Algarve von 1965 lassen deutlich die Konturen realer Landschaften erkennen, die Farben sind naturbezogen, doch sind sie so weit abstrahiert, daß sie den Betrachter zu ihrer Entschlüsselung brauchen. Die Farben evozieren jedoch alles das, was der beginnende Wirtschaftswunderdeutsche mit Portugal assoziiert: rot, blau, grün, sandfarben.

Leider hielten die Verkäufe nicht Schritt, Geld wurde also wieder knapp. VKU und Post boten Arbeit ab 4.00 bzw. 5.00 Uhr morgens und passable Bezahlung. Uli griff zu, reinigte Busse, trug Briefe aus. Er konnte sich das Material für weitere Bilder leisten, Geld für das abendliche Bierchen und Schaschlik war auch noch da. Am schönsten waren aber wohl immer die Abende bei Kümper, wenn Fritz Heitsch dort in der Ecke hinter der Theke saß. Dann gab’s Gespräche über Kunst, launige Erzählungen und zur Abwechslung Wein statt Bier, Bocksbeutel. Klar, Fritz Heitsch bezahlte. Und es gab Ausstellungen, in Kamen, Esch/Luxemburg, Mailand, den USA. Und natürlich nahmen die Studenten an Ausstellungen in Berlin teil.

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Abb. 7: Blauzeichen 2015

Der Titel ist wörtlich zu nehmen. Blau in verschiedenen Abtönungen bildet den Grundton des Bildes. Die für Uli Kett typischen Einschüsse gliedern die Fläche, noch in Blautönen. Formen werden identifizierbar. Hinter dem Blau gehen Orangetöne auf.

1968 dann Abschluß des Studiums, danach Meisterschülerprüfung und zwei Semester Meisterschüler bei Prof. Kuhn in Berlin. Zwei Einzelausstellungen in Berlin in diesem Jahr waren aufwendig, aber unergiebig. Alle Künstlerkollegen kamen, die Galerien waren voll, das Bierfaß leer, kein Bild verkauft, die malten die Kollegen sich selber. Aber immerhin stand die Kunst im Mittelpunkt ihrer Gespräche, während heute die großen Galerien eher vom Geld bestimmt werden, wie auch die Frage nach der Qualität (zu) oft vom Preis entschieden wird: je teurer, desto besser. Auktionsrekorde überlagern die Kunst. Wie gut ist Giacometti? 140 Millionen Dollar. Der Kunstmarkt, d.h., Angebot und Nachfrage, bestimmt, was Kunst ist, nicht mehr der Künstler. Und beides kann man „machen“. Damit wird Kunst zur Geldanlage. Nicht ihre Qualität ist allein entscheidend – schon schwer genug zu bestimmen, zumal wenn man sich von der Abhängigkeit von Moden befreien will – sondern die Möglichkeit der Wertentwicklung.

Der politische Umbruch von 68 bewirkte in Ulrich Kett eine veränderte Sicht auf das eigene Tun, wie von außen: es gibt so viele Maler, noch mehr Gemälde bzw. Kunstwerke, dennoch ist Kunst nach wie vor etwas für die Minderheit. Doch die 68er wollten revolutionieren, Neues denken und schaffen. Aus dem Mißtrauen gegen die Elterngeneration (Was hast Du damals gemacht?), dem Protest gegen den Kapitalismus (Intellektuelle trugen plötzlich blaue, kragenlose Arbeiterhemden und 20er-Jahre-Ballonmützen) und dem Verlangen nach mehr Teilhabe an Bildung (auch für das legendäre „katholische Arbeitermädchen vom Lande“ von Georg Picht und Ralf Dahrendorf) erwuchs eine Bewegung, für die „Elite“ mit einem negativen Geruch behaftet war. Der „Mensch“ sollte in den Mittelpunkt allen Tuns rücken. Am besten faßte wohl der Slogan zweier Hamburger Studenten die Stimmung der Zeit zusammen: „Unter den Talaren, Muff von 1000 Jahren.“ Ulis Berliner Clique setzte das um und gab Kunstkurse in Kinderheimen, Gefängnissen und Behindertengruppen. Damit wurden sie zu Vorreitern einer Bewegung, die derzeit in den Bemühungen gipfelt, durch Inklusion auch denen zu Bildung zu verhelfen, die sich sonst ausgeschlossen fänden. Uli und seiner Ulla, seit 1966 verheiratet, beide richtige 68er, schien das keine Lebensperspektive zu sein, zumal sie eine Art Inselsyndrom entwickelten.

Wir können uns das heute gar nicht mehr vorstellen, aber Berlin war nicht die offene Stadt, in der jeder sich frei bewegen konnte, wie wir sie heute kennen. Sieben Jahre vorher, am 13. August 1961, hatten DDR-Grenztruppen eine Mauer quer durch die Stadt gebaut, getrennt, was doch eigentlich zusammengehörte, und drum herum war DDR. Nirgends konnte man als Berliner oder Westdeutscher hin. Ohne strenge Kontrollen, oft Schikane, durch DDR-Grenzer konnte man nur per Flugzeug aus Berlin raus. Das kostete Geld. Uli hatte aber nun Ausstellungen im Bundesgebiet, Bilder mußten hingebracht werden. Ein Auto hatte er nicht. Es gab nur eine Spedition, die für Kunsttransporte durch die DDR eine Lizenz hatte, ohne Konkurrenz, daher entsprechend teuer, zu teuer für den jungen Künstler. Da blieb nur: ab mit den Bildern in Kartons und auf die (DDR-) Reichsbahn. Aber der DDR-Zoll respektierte kein Postgeheimnis, die adressierte Verpackung wurde geöffnet. Es konnte ja Konterbande darin sein. Und wenn der Inhalt nicht gefiel, und das war für Freunde des Sozialistischen Realismus der Regelfall, dann mußte man dem Klassenfeind schaden. So wurden nicht wenige Bilder von Ignoranten zerstört. Dann Ausstellung adé!  Wahrscheinlich hatten die Zöllner instinktiv begriffen, daß freie Kunst der Art, wie Uli Kett sie malte, einem Regime wie dem im „Ersten Deutschen Arbeiter– und Bauernstaat“ gefährlich werden konnte.

Eines Tages wollte Uli mit einem geliehenen Auto von Berlin nach Bochum fahren, Bilder in eine Ausstellung bringen. Aber dann: Stau auf der Avus. DDR-Grenzer machen „Dienst nach Vorschrift“,  d.h., jedes Auto wird genau durchsucht, vielleicht fand man ja einen „Republikflüchtling“. Das dauerte. Und wieder: Ausstellung adé! (Unsere westlichen Freunde, die Amerikaner, waren übrigens in dieser Beziehung nicht weniger banausisch. Eine Ladung Bilder aus Kamen kam bei einer Ausstellung in Dallas/Texas an, vorschriftsmäßig mit Zollstempeln versehen – auf der Vorderseite!) Kurz gesagt: die Chance auf eine erfolgreiche künstlerische Karriere in Berlin und von dort aus war fast Null.

Das Gute an 68, dieser Aufbruchszeit, war, daß nun jedermann die geforderte Teilhabe an Bildung zugute kommen sollte und es überall Schulversuche gab. Vor allem NRW tat sich mit einer Vielzahl von Gesamtschulgründungen hervor. Und so zogen Uli und Ulla mit Sack und Pack von Berlin nach Kierspe, wo Uli an den vorbereitenden Planungen für die spätere Gesamtschule Kierspe mitarbeitete, dort in der Sekundarstufe II lange Jahre unterrichtete und schließlich auch noch am Lehrplan Kunst für Gesamtschulen in NRW für die Sekundarstufe I mitarbeitete. Planerische, bürokratische Arbeit bedeutete natürlich, selber malen ging erst einmal nicht mehr. Jetzt war der Planer, Organisator, Didaktiker gefragt. Dabei entwickelte Kett neue Formen des Kunstunterrichts, er ließ in Projekten arbeiten. Eine Aufgabe konnte z.B. lauten: „Ich mache mir ein Bild vom Tod.“ Oder: „ Das Bild  der Frau im 20. Jh.“ Und dabei waren alle Darstellungsformen erlaubt. Das Ziel war, Bewertbarkeit, Vergleichbarkeit mit anderen Fächern herzustellen, Kunst war schließlich auch Abiturfach.

Abb. 22b Immer morgens 2015 90 x 110 cm Kopie

Abb. 8: Immer morgens, 2015

Wie bei Abb. 7 ist der Grundton Blau. Von links wie von rechts ragen die Einschüsse hinein, der rechte nach außen hin gegabelt, organische Formen versprechen Ende und Beginn, geht das Tageslicht auf oder unter? Ironie?

Ulrich Kett wollte die Kunst aus den Galerien hinaustragen, aus den Büros, Sparkassen und Arztpraxen, ihr das „Heilige“ nehmen. Hier ist er immer noch der 68er. Man ist an die bbb (Bergkamener Bilder Basare) erinnert, wo Dieter Treeck in den 1970er Jahren „Kunst zum Kumpel bringen“ wollte, da der „Kumpel schon nicht zur Kunst“ kam. Kunst soll den Menschen in seinem Alltag begleiten, nicht nur eine Wohnzimmerveranstaltung sein. Kett hat nichts dagegen, wenn seine Bilder auch schon mal in einer Küche hängen, wenn ihre Besitzer ihr Leben von Kunst umgeben haben wollen, ständig in Gefahr, bespritzt zu werden. Dennoch verlangt er, daß der Mensch die richtige Einstellung zur Kunst mitbringt: geht er zu einer Vernissage, sollte er das tun, als wenn er zum Konzert ginge: in guter Kleidung und mit der richtigen Einstellung, offenen Sinnes, eben zu einer besonderen Veranstaltung.

Aber der Künstler will selber schaffen, ohne seine Kunst ist er kein Künstler mehr. Zaghaft, tastend fing Uli wieder an zu malen, wie seinerzeit in der Grundlehre im Studium, gegenständlich, kleinformatig, Heiteres und Surreales, das half am Anfang, endete aber in einer Sackgasse. Wichtiger als das „Produzieren“ von Bildern wurde ihm die Erfahrung des Arbeitsprozesses. Da gab es zwei Möglichkeiten: zu malen, was er sah oder zu sehen, was er malte.Ulrich Kett malt nicht, was er sieht, sondern er sieht, was er malt. Er malt nicht (mehr) die Natur ab, seine Kunst schafft sich ihre eigene Natur. Daraus entwickelte sich, wie er es selber nennt, ein „Lust-Quäl-Prozeß“. Hin und weg. Hin(zufügen) und weg(nehmen). Aber das „Weg“ ist nie ganz weg. So wird Sehen zum Ahnen, Assoziationen entstehen. Das, was man in der Geschichte der Literatur und der Schreibkunst ein Palimpsest nennt, das war es, was Uli anstrebte. So wird der „Inhalt“ eines Bildes so lange reduziert, bis nur noch Flächen und Linien übrigbleiben, Farbe und Form. Aber unter der Oberfläche schlummert alles, was je dort war. Er malte, wozu er Lust hatte. „Ein Bild ist erst dann fertig, wenn ich es (das Bild) aushalte“. Er selbst sagte dazu einmal: „Ich male aus dem Bauch heraus, aber einen Bauch muß man auch erst einmal haben.“

Kett hat auch klare Vorstellungen davon, was Kunst kann und soll. Wenn es also von einem neuen Namen auf dem Kunstmarkt heißt, dieser Künstler überschreite die Grenzen der Kunst, dann sagt Kett nur: „Quatsch, wahre Kunst hat keine Grenzen.“ Seit der Dokumenta V ist auch Kitsch Kunst. „Kunst ist, was  Künstler  herstellen.“ Selbstbewußt oder schon arrogant?

Die 1980er Jahre brachten auch die Beschäftigung Ketts mit anderen Künstlern, den Heroen der Kunstwelt, als er Leonardo da Vincis „Abendmahl“ nachstellt: Liebermann, Bruegel, van Dyck, Picasso, Dix, Beckmann, Dali, Dürer, Rubens, Corinth, Wunderlich, Hausner, Rembrandt treten gemeinsam auf in seinem Bild „Geschichten über Kunstgeschichte: Die Jury bei der Arbeit.“ Die Ähnlichkeit der Gesichter mit den uns bekannten Vorlagen ist frappierend. Vielen Künstlern heute fehlt das handwerkliche Rüstzeug, man muß zeichnen können, richtig hinsehen. Das kann Kett. Und macht sich gleichzeitig über sie lustig in dem Bild „Die Vielsichtigkeit beim Trinken ist normal“, auf dem der betrunkene künstlerische Archetyp eine Frau gleich viermal sieht. Alternativ kann der Betrachter auch glauben, die zentrale Figur in diesem Bild sei Teil eines Renaissance-Gemäldes und der Maler habe die Frau im Hintergrund viermal gesehen und gemalt. Hier ist Kett hintergründig und vieldeutig. Wenn der Künstler so viel Zeit und Mühe in ein Bild steckt, braucht auch das Publikum Zeit zum Betrachten und muß sich Mühe geben. Der Betrachter soll „betrachten“, sich Zeit lassen dabei, es sich langsam erschließen, immer wieder Neues dabei entdecken. Weiteres Beispiel: „Landschaft in NRW“: Landschaft ist immer Ausschnitt, ob NRW oder Hessen, ist gleichgültig, doch der Betrachter ist erst verblüfft, dann wird es ihm dämmern. Wichtig ist, daß Kunst ihm gefällt, daß er aber weiß, warum oder warum nicht. Es steht ihm vollkommen frei, sich eine eigene Vorstellung von dem Bild zu machen. Der Künstler formuliert das so: „Alles dient zum Anlaß für das eigene Sehen – ein gestalterisches Sehen.“ Die Freiheit des Malers bedingt auch die Freiheit des Betrachters.

Ironie fasziniert Kett: auf einem Bild dieser Zeit, betitelt „Die Hl. Drei Könige betrachten das Jesuskind“, eigentlich ein Thema, das seit Jahrhunderten Standardmotiv der Malerei ist, geht Kett einen anderen Weg. Die drei Könige schauen aus dem Bild heraus den Betrachter an! Und der ist wieder verblüfft.

Surreale Darstellungen nehmen Anfang der 1980er Jahre einen breiten Raum in Ketts Werk ein. Auf „Die Arche der natürlichen Art“ (schon der Titel ist doppeldeutig: die Arche selber ist von „der natürlichen Art“, sie nimmt aber auch „die natürliche Art“ auf) thronen Zwiebeln und eine Birne jeweils auf einem Eisberg. Wir wissen, daß diese Eisberge schmelzen werden, die darauf sich gerettet wähnende Natur im Meer versinken wird.

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Abb. 9: Das Zerbrochene Spiel, 1981

Der Prophet Ulrich Kett zeigt in diesem Bild einen sich weit ausdehnenden trocken-rissigen Boden, eine Wüstenei, vertrocknetes, von Insekten zerfressenes Obst und ein verzweifelt schauendes Kind, über allem steht bedrohlich ein riesiger Heizkörper, wie wir ihn zum Beheizen unserer Häuser benutzen. Er nimmt in seinem Bild das beherrschende Thema unserer Tage vorweg: der Heizkörper symbolisiert menschliches Tun, Verantwortung für das Klima.

Ein weiteres Thema, das unseren Alltag betrifft, ist das Auto. Mittel des Transports, aber für manche auch Symbol der Freiheit. In Ketts Bildern kann es sich als beschützende Hülle um den Menschen legen, als Bedrohung anderer empfunden wurden, einzeln oder in Massen auftreten. Hier ist Kett der politische Maler.

Langsam arbeitete er sich wieder an seinen künstlerischen Stand von Berlin heran. Das Malen wirkte wie eine Befreiung. Seine ersten großformatigen Bilder in dieser neuen Phase sind so farbig, wie sie nie zuvor waren, wahre Farbexplosionen zeigen, wie befreit der Künstler sich fühlte.

Das Gebäude der Dorfschule Kierspe, erst neun Jahre alt, stand eines Tages leer, mitten im Grünen, Wald und Wiesen als Nachbarschaft. Dorfschulen waren in NRW abgeschafft worden, eine Anschlußnutzung war nicht in Sicht. Das war die Gelegenheit für die beiden Ketts, zu einem Heim zu kommen, das auch die Möglichkeit bot, die großformatigen Bilder, die längst Ulis Markenzeichen geworden waren, zu malen und aufzuhängen. Die Stadt Kierspe wollte das Gebäude loswerden, weil ein nicht benötigtes Gebäude zu unterhalten schlicht zu teuer ist. Hinzu kam, daß die Heizkosten phänomenal waren, weil es ein typischer 60er-Jahre-Bau war, mit großen Fensterfronten und der damals üblichen Dämmung: gar nicht. Hier trafen der Wunsch, zu verkaufen und der nach einem eigenen Heim zusammen. Man traf sich in einer vernünftigen Mitte und so wurde die ehemalige Schule, nach geringfügigen Umbauten, für 40 Jahre das erste eigene Zuhause der Ketts. In dieser ländlichen Abgeschiedenheit entstanden nun die neuen Bilder, in ländlicher Idylle, bis zu 25 Kettsche Heidschnucken auf den Wiesen drumherum.

Ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre läßt sich in seinen Bildern so etwas wie „abstrakte Figürlichkeit“ erkennen, wenn es so etwas überhaupt gibt. Wir erkennen Figuren, Körper, Körperlichkeit, können aber keine konkreten Formen sehen, identifizieren, sie nur erahnen.

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Abb. 10: Luft Wasser Erde, 1997

Abstrakt und doch auf den ersten Blick klar. „Luft, Wasser, Erde“. Weiß, blau, erdig-braun-grün. Leichtigkeit und Schwere. Oben und Unten. Zwei Diagonalen schießen ins Bild.

Kett wählt organische Formen für seine Darstellungen, sogar für Anorganisches wie Stahl. Hier tritt etwas für seine späteren Landschaften Typisches in seine Bilder: durch (fast) monochrome Flächen schießt ein senkrechter, waagerechter, diagonaler, gerader oder gekrümmter Strahl, der die Fläche gliedert, ein dynamisches, strukturierendes Element. Beschleunigung und Verlangsamung. Solche ast–, zweigartigen „Strahlen“ veranlassen Kett, diese „linearen Großstrukturen“ in Großplastiken umzusetzen, die, in Landschaften gestellt, den Raum gliedern.

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Abb. 11. Grüne Fahne, 1992

Man könnte Ulrich Ketts Sinn für Ironie vermuten, wenn man nicht sein Prinzip des „Hin & Weg“, des Palimpsests, kennte. Alles, was vorher da war, ist noch unter der Oberfläche vorhanden. An der Oberfläche ist das Grün nur noch zu erahnen.

Die erste Ausstellung des neuen Ulrich Kett fand 1975 in Lüdenscheid statt. Seine Arbeiten wurden jetzt oft der art informel zugeordnet. Uli war das egal, er malte, was er wollte und konnte. Und damit begann eine außerordentlich fruchtbare Phase, in der 864 Bilder entstanden. Das war ein Konvolut, das zum Teil in Buchform (Kett, Band I + II, ISBN 3 – 9808670 – 0 5)  veröffentlicht wurde . Aber weil es so viele Bilder waren, kam Kett in mit der Erfindung von Titeln in Not. Da hat er die Jahre nach dem Alphabet benannt. 2003 war z.B. das O-Jahr. Das führte aber zu neuen Problemen. Wer weiß etwas anzufangen mit Titeln wie: Obsequent, Observanz, OD, Obligat, Observabel, Offerent? So ließ er sich bereitwillig überreden, wieder „literarische Titel“ zu machen wie „Das was Elger Esser uns (zu Recht) nicht zeigen wollte“ oder „Irgendwie war der Molch unter den Fluss geraten“.

Abb. 5 Das, was Elger Esser uns (zu recht) nicht zeigen wollte 2009 110 x 90 cm Kopie

Abb. 12: Das, was Elger Esser uns (zu recht) nicht zeigen wollte, 2009 


Abb. 6 Irgendwie war der Molch unter den Fluss geraten 2009 110 x 90 cm Kopie

Abb. Nr. 13: Irgendwie war der Molch unter den Fluss geraten, 2009

Die fast monochrome Bildfläche wird grob strukturiert. Ganz weit am oberen Rand entdeckt der Betrachter, blau eingefaßt, einen „Fluß“, unter dem eine Figur mit vier Beinen entfernt an ein lebendes Wesen erinnert, und rechts daneben noch einmal. Der Betrachter setzt seine Vorstellungskraft ein.

So nahm er als Vorlage für Abb. 12 ein Photo von Elger Escher. Der hatte eine bretonische Küstenlandschaft photographiert und dann das Photo so lange „reduziert“, bis nur noch zu ahnen war, was da eigentlich abgebildet war. Oder auch nicht mehr. Uli hat dieses Verfahren anders herum angewandt: durch die Hinzufügung von Linien und Farben (trotzdem fast nur Weiß und Grautöne) wieder ins Bild hineingegeben, was Escher vorher herausgenommen hatte. So zeigt er, daß das Originalbild auch ohne diese Hinzufügungen funktioniert, ja, sogar besser ist. Deswegen sagt er: „… (zu recht) nicht zeigen wollte.“ Daher zeigen seine eigenen Bilder auch immer weniger. Man könnte fast sagen, daß Uli in seinen besten Bildern alles ausläßt außer der Magie.

1990 erhielt er den Ida-Gerhardi-Publikumspreis der Stadt Lüdenscheid. Es folgten viele weitere Ausstellungen, weit über 100, Vertretung durch mehrere Galerien, Vertretung und Verkäufe auf der Art Cologne, besonders erfolgreich eine Einzelausstellung in Löwen/Belgien.

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Abb. 14: Saison, 2006

Wer genau hinschaut, könnte ein weites Bergtal erkennen, überall Schnee, Felsspitzen und ein Stück blauen Himmels ragen aus ihm heraus. Wintersaison? Die dunklen Einschübe unten links und rechts erwecken den Eindruck, man stehe auf einer gegenüberliegenden Höhe und nähme die Weite des Anblicks in sich auf.

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Abb. 15: Ich weiß es auch nicht so genau, 2006

Deutlicher als in Abb. 14 ragt ein grauer Berggipfel in den grauen Himmel, oben verläuft ein Grat diagonal von links nach rechts. Doch da ragt ein Fremdkörper ins Bild hinein. Der Künstler „malt aus dem Bauch heraus“, das, was dabei herauskommt, überrascht ihn. „Ich weiß es auch nicht so genau.“ (Größer könnte der Unterschied zu seinem Freund und Malerkollegen Helmut Meschonat nicht sein: bei Kett entstehen organische Formen aus dem Bauch, Helmut Meschonat konstruiert streng geometrische Formen. Doch beider Bilder „entwickeln sich“.)

Ab 1994 malt Kett Gesichter, die auf den Betrachter wirken, als seien sie Landschaften. Zwei Jahre später beginnen auch so genannte Landschaften sein Malen zu beherrschen: Urbane Zonen, Wasser, Großes Haus für M, Bebautes Wasser – so lauten jetzt die Titel. Und später: Neue Kräfte, Zweimal durch, Saison, Stadtlandschaft, Naturlandschaft, Stimmungslandschaft, Seestück, Landschaftsporträt in NRW. Landschaft ist nur noch als Erinnerung, als Ahnung erhalten. Die Kunsthistorikerin Dr. Carolin Krüger-Bahr schreibt in der Broschüre „Ulrich Kett, Landschaften“: „Ketts Bilder zeigen natürlich keine bestimmten Orte. Und natürlich vermag der Betrachter keine klar identifizierbaren Landschaften wiederzuentdecken. Vielmehr rühren die formale und die farbliche Gestaltung einer jeden Arbeit an die Erinnerung, die jeder Mensch an Natur und Landschaft hat: Weite und Horizont oder Enge und Berg/Tal.“

Abb. 9 Stadtlandschaft 1 2014 60 x 75 cm Kopie

Abb. 16: Stadtlandschaft 1, 2014 

Der Betrachter fragt sich: Wo ist hier Stadt? Wo Landschaft? Vielleicht kommt er der Sache näher, wenn er sich die „Stadtlandschaft“ als Photo aus dem Weltraum vorstellt. Dann erscheinen Strukturen unter Wolken, die für menschliches Leben als geeignet erscheinen.

Abb. 9a Stadtlandschaft 2 2014 110 x 90 cm Kopie

Abb. 17: Stadtlandschaft 2, 2014

Besonders deutlich wird Ketts Technik des Palimpsests in seinem Bild „Noch Rot“. Immer wieder entfernte er alles, was er am Anfang auf die Leinwand aufgetragen hatte, fügte stattdessen Neues hinzu. Das Ergebnis: nur noch an wenigen Stellen scheint Rot durch. Der dominierende Eindruck ist Blau. „Noch Rot“.

Abb. 10 Noch rot 2014 110 x 90 cm Kopie

Abb. 18: Noch rot, 2014

Ende der 80er Jahre zwangen Uli schlimme Krankheiten zu längeren Pausen. Das sieht man auch seinen Bildern aus dieser Zeit an. Sie werden von Weiß und Grautönen dominiert, bis hin zur Monochromie.

Trotz aller internationalen Erfolge vergaß Uli seine Heimatstadt Kamen nicht. Ausstellungen seiner Großformate gab es zu sehen in der Kamener Stadthalle, kuratiert von Reimund Kasper, und im Haus der Kamener Stadtgeschichte, zusammen mit den alten Freunden aus der Zeit der „Gruppe Schieferturm“, Helmut Meschonat und Heinrich Kemmer.

Jetzt hat der Künstler sich weitgehend vom Trubel des Kunstbetriebs zurückgezogen, malt auch  viel weniger. Doch zeigen die Bilder aus den letzten beiden Jahren immer noch (oder wieder?) die Kraft, die den Maler UK beflügelte und befähigte, Hunderte von Bildern in wenigen Jahren zu malen.

Abb. 11 Blaues Bild mit hohem Bogen 2006 200 x 460 cm Kopie

Abb. 19: Blaues Bild mit hohem Bogen

Der Einfluß des Bauhauses auf die Architektur ist unübersehbar. Sparsam werden Farben eingesetzt, weiß und schwarz. Wie dekorativ wirken Uli Ketts Bilder hier! Das Format nimmt den Bauhausstil auf, fast monochrom blau, streng rechteckig. Doch das intensive Blau bildet den Kontrapunkt zur Farbgestaltung des Raumes. Erst durch diese „Gegenstimme“ verliert der Raum seine Kälte. (In Lüdenscheid und Umgebung, wo UK seit Jahrzehnten wohnt, hängen in Firmen und in öffentlichem Besitz 35 z.T. sehr große Arbeiten. Das Triptychon in Abb. 19 hat 2 m x 4,6 m!)

Klaus Holzer

im Januar 2016

Dank an Ulrich Kett, der sich einen ganzen Tag für mich Zeit nahm und mit dem sich zu unterhalten eine große Freude war. Abstecher in die Philosophie und die Theologie gelangen mühelos. Und  Dank auch für die Bereitstellung des Bildmaterials. Alle Photos, bis auf Nr. 2 & 3, sind von Rainer Halverscheid

Antonius Praetorius, der erste Kämpfer gegen Hexenprozesse

von Klaus Holzer

Antonius Praetorius, geb. um 1560 in Lippstadt, gest. 6.12.1613 in Laudenbach a/d Bergstrasse

Antonius Praetorius

Antonius Praetorius, gesehen von Reimund Kasper

Wie unschwer zu erkennen ist, ist der Name des Mannes lateinisch. Und das, obwohl er als Sohn des Matthes Schulze in Lippstadt geboren wurde. (Der Name „Schulze“ kommt von „Schultheiß“, d.h., es handelt sich um jemanden in herausgehobener Position, einen Verwalter, der „jemanden heißen kann, dem Grundherrn Verpflichtungen (=Schuld) abzuleisten“, der also bestimmt, was und wieviel jemand an Abgaben und Diensten an den Fron– bzw. Lehnsherrn zu leisten hat.) Dieser hatte mit seinem Sohn Großes vor und schickte ihn zur örtlichen Lateinschule. Und schon zu Hause in Lippstadt hatte Anton mit 13 Jahren ein Erlebnis, das später sein Leben bestimmen sollte: er wird Zeuge eines Hexenprozesses und erlebt, was die Anwendung der Folter mit Menschen macht. Er wurde Zeuge, wie Frauen hinausgeführt und verbrannt wurden, „nur darum, sie hätten mit dem Satan … gezecht, getanzt, bebuhlt und Wetten gemacht; welches doch alles ihrer Natur zuwider und unmöglich gewesen“.

Mit 21 Jahren hat er eine theologische Ausbildung absolviert und sich fundierte Bibelkenntnisse erworben, die ihm später bei seiner Argumentation gegen die Hexerei nützlich sein werden. Er wird Lehrer und nennt sich fortan „Antonius Praetorius“ (AP), was eine Übersetzung des Familiennamens ins Lateinische ist. Damit folgt er der humanistischen Tradition, den Namen zu latinisieren, damit die gelehrte Disputation, die vorherrschende Form des wissenschaftlichen Streits, in der lingua franca des Mittelalters (MA) geführt werden konnte. (Das Lateinische ist eine synthetische Sprache, d.h., alle grammatischen Umstände werden durch Formen bestimmt und zum Ausdruck gebracht, es finden sich Bedeutung und grammatische Kategorien in einem Wort, daher können z.B. deutsche Namen wie „Schulte“ im Lateinischen nur äußerst umständlich verwendet werden.) 

1580 geht er als Lehrer nach Kamen. Hier heiratet er 1584 Maria, eine Kamenerin, die ihm 1585 den Sohn Johannes gebiert. Offenbar ist er ein guter Lehrer, er erwirbt sich bald Ansehen. Schon 1586 wird er zum Rektor der Kamener Lateinschule ernannt – der Vorläuferin des heutigen Städtischen Gymnasiums – was durch eine vom Urkunde vom 28. April 1586 im Kamener Stadtarchiv belegt ist.

Abb. 0a. Schulurkunde mit AusschnittAbb. 1: Urkunde vom 28. April 1586 

Die Stifter schreiben in der besagten Urkunde, „das die Schuele alhier zu Camen ettliche viele Jahren hero mit erfarnen fließigen Schuldienern nitt fast woll versehenn  gewesenn“. Sie erklären dann, daß „ … dahero die Jugendt ubell erzogenn, alß wilde Rancken auferwachsenn unnd jetzo auf heuttige stunde ein gewißer  Verlauf und mangell bei Burgschaft und gemeinde dieser Stadt gespuiret würdt.“ Es bedürfe aber „erfarner christlicher Schuelldiener, … Sinthemall dadurch die junge anwachsene Jugendt vonn Kindt auf zu Gottsfruchtt, guiter Lehr, Künsten, ehr, Zuchtt unnd tugendt dermaißenn angeführet unnd aufertzogen wurdt“.

Offenbar trauen die Stifter AP zu, die Dinge in Ordnung zu bringen und geben ihre „Donation, gifft, contribution und ordnung“ „zu befuderung seiner christlichen Kirchen und gemeinden, auch dieser Stadt Burgerschaft, und den benachbarten zu Dienst, nutz und besten“.

Damit das möglich wird, stiften 14 Bürger, darunter auch der Bürgermeister Joachim Buxtorf, insgesamt 1520 Taler und 72 Taler Rente pro Jahr, weil „die Mittel der Unterhaltung der Schuldiener zu gering seien und Kirche und Staat wegen eigener Bedürftigkeit nicht zulegen können“. (zit. aus Theo Simon, Die Geschichte der Schule, in: 100 Jahre Städtische Höhere Lehranstalt Kamen, Festschrift 1958; Übersetzung bzw. Zusammenfassung: unter einem Mangel an erfahrenen Lehrern gelitten habe; woher die Jugend übel erzogen sei, als wilde Rangen aufgewachsen sei, und daß Bürgerschaft und Stadt diesen Mangel spürten; da ja dadurch die heranwachsende Jugend von Kind auf zu Gottesfurcht, guter Lehre, den Künsten ( = hier sind gemeint die septem artes liberales, an erster Stelle Grammatik: Lateinische Sprachlehre und ihre Anwendung auf die Werke der klassischen Schulautoren), Ehre, Zucht und Tugend ( = zu tugendhaftem Verhalten) angeleitet und erzogen werden; sie geben ihre Stiftung und deren Ordnung zur Unterstützung der christlichen Kirchen und Gemeinden, der Bürgerschaft Camens und benachbarter Orte zu ihrem Nutzen und Besten.)

Abb. 0bAbb. 2: Widmungsseite der Ausgabe von 1613

Zwei weitere Stifter, Hermann Reinermann und Johann Bodde, dazu Pfarrer Wilhelm Schulenius, werden ihn im Jahre 1613 noch einmal unterstützen: sie erscheinen als Praetorius’ Unterstützer auf der Widmungsseite der dritten Auflage seines Buches „Gründlicher Bericht von Zauberey und Zauberern/ darinn dieser grausamen Menschen feindtseliges und schändliches Vornemen/ und wie Christlicher Obrigkeit ihnen Zubegegnen/ ihr Werck zuhindern/ auffzuheben und zu Straffen / gebüre und wol möglich sey … kurtz und ordentlich erkläret. Durch Joannem Scultetum Westphalo-camensem. Gedruckt zu Lich/ in der Graffschaft Solms bey Nicolao Erbenio“. Darin behandelt er das Zauberwesen, die Folter und die Rolle der Obrigkeit im Hexenprozeß. Mit Argumenten aus der Bibel distanziert er sich von Calvins und Luthers Aufrufen zur Verbrennung der Hexen und forderte die Abschaffung der Folter.

Abb. 1a, Titelseite 1602

Abb. 3: Gründlicher Bericht, 2. Auflage 1602

Abb. 1 Titelseite 1613

Abb. 4: Gründlicher Bericht (Facsimile-Titel, 3. Auflage von 1613)

Allerdings hält es ihn in Kamen nicht lange. Hartmut Hegeler, der sich wohl am ausführlichsten mit AP auseinandergesetzt hat, vermutet unter den Gründen auch die Fehlgeburten, die seine Frau in den nächsten Jahren hatte, und ihren dadurch verursachten frühen Tod. Schon 1587 wird er lutherischer Diakon in Worms. Bevor er 1589 zweiter Pfarrer in Oppenheim wird, wechselt er von der lutherischen Lehre zum Calivinismus und wird noch 1589 reformierter Pfarrer in Dittelsheim. AP war überzeugt, daß die Radikalität der Botschaft Christi, wie Calvin sie verkündete, die fortschrittlichste Variante der Reformation war. 1596 schon veröffentlicht er seine Schrift De Pii Magistratus Officio (Des frommen Amtsträgers Pflicht), in der er eine bibelorientierte Erneuerung von Kirche und Nation gemäß Johannes Calvins Lehren fordert.

In der Mission für die Verbreitung der calvinistischen Konfession fand er sein erstes Lebensthema. Schon 1597 veröffentlicht er sein „Haußgespräch. Darinn kurz doch klärlich und gründlich begriffen wird/was zu wahrer Christlicher Bekanntnuß/auch Gottseligem Wandel gehörig/und einem jeden Christen vornemlich zu wissen von nöhten“ . Des weiteren mischt er sich in den Streit mit den Lutheranern um das Abendmahl ein. Nach einem Disput mit dem Mainzer Erzbischof über die Marienverkündigung nach der Rekatholisierung von Oberwöllstadt wurde er für ein paar Tage ins Gefängnis geworfen, kam erst nach dem persönlichen Eingreifen seines Landesherrn wieder frei.

Seit 1560 herrschte in Mitteleuropa die „kleine Eiszeit“: extrem kalte Winter und nasse Sommer führten zu Mißernten, daraus erwuchsen Hungersnöte, das Vieh starb, Krankheiten breiteten sich aus. Nur in zwei der über 40 Jahre gab es normale Ernten. Kriege, Krankheiten und Katastrophen erzeugten bei den Menschen Angst und Panik. Es herrschte Endzeitstimmung. Um 1590 wüteten spanische Truppen in Deutschland. Eine Pestepidemie raffte an manchen Orten die Hälfte der Bevölkerung hinweg.

Da im MA Naturereignisse als gottgegeben verstanden wurden, war eine solche Katastrophe das Zeichen für die göttliche Bestrafung des Menschen für sein sündiges Leben oder das Ergebnis eines Schadenszaubers durch Hexen. Dann suchte man sich einen Sündenbock (Sündenbock: ein Ziegenbock, auf den am Versöhnungstag durch den jüdischen Hohepriester [nach 3, Mose 16] symbolisch die Sünden des Volkes übertragen wurden und der anschließend, mit diesen „Sünden beladen“, „in die Wüste geschickt“ wurde), z.B. eine Hexe, die man verbrannte. Die Kamener verhielten sich zivilisierter, hier gab es keine Hexenverbrennung. Hier verursachte die kleine Eiszeit die Hinwendung zum Reformierten Glauben in den 1590er Jahren. Diese Variante der Reformation war besonders streng, ihre Anhänger glaubten sich Gott besonders nahe.

Bei vielen mittelalterlichen Gelehrten fällt auf, wie breit ihre Interessen gefächert waren, wie sehr ihr Spezialistentum, im Gegensatz zu heute, nur eine Facette ihres Schaffens darstellte (vgl.a. Johannes Buxtorf und Hermann Hamelmann). AP veröffentlicht 1595 die erste bekannte Beschreibung des Heidelberger Großen Fasses „De Vas Heidelbergense“, ein wahrlich nicht sehr theologisches Thema, wenngleich er es als Symbol für die Überlegenheit des reformierten Glaubens preist.

Abb. 2 Faß HeidelbergAbb. 5: Das Heidelberger Faß

1593 wird AP Zeuge des Dalberger Hexenprozesses und empört sich über „schändliche, närrische und greiflich lügenhafte Dinge von teuflischer Gemeinschaft“ dermaßen, daß er zum ersten Mal dagegen anschreibt.

1596 starb seine zweite Frau an der Pest. Er verlobte sich ein weiteres Mal, doch schon drei Tage nach der Ankündigung der Hochzeit starb seine Verlobte.

Abb. 2a KarteAbb. 6: Wirkungsbereich des Antonius Praetorius

Sein entscheidendes Lebensthema fand AP im Jahre 1597, als er als Pfarrer in Ysenburg-Birstein in der Nähe Frankfurts am Main angestellt war. Als die Bewohner des Ortes gegen vier Frauen des Ortes einen Hexenprozess forderten, wurde AP vom Grafen, der ihn als fürstlichen Hofprediger angestellt hatte, zum Mitglied des Hexengerichts berufen. In dieser Funktion erlebte er, wie grausam die Folter gegen die vermeintlichen Hexen angewandt wurde, um ihnen das Geständnis abzupressen, als Hexen den Schaden an Menschen, Tieren und der Ernte (während der kleinen Eiszeit) verübt zu haben. AP, der Ortspfarrer, ist außer sich vor Zorn. Als er sieht, was bei der Folter geschieht, kann er nicht still bleiben: „O Ihr Richter, was macht Ihr doch? daß ihr schuldig seid an dem schrecklichen Tod Eurer Gefangenen? Ihr seid Totschläger! Gott schreibt es auf einen Denkzettel! Welche Richter zu der Ungerechtigkeit Lust haben und unschuldiges Blut vergießen, werden in Gottes Hand zur Rache verfallen und sich selbst in die unterste Hölle hinabstürzen!“ So schreibt er es in seinem „Bericht“.

Eine der Frauen stirbt an der Folter, die anderen drei bleiben noch vier Wochen in Haft, bleiben so lange von der Folter verschont. Dann jedoch werden sie zum zweiten Mal dem „peinlichen Verhör“ unterworfen, werden erneut zwei Tage lang gefoltert. Zwei weitere Frauen sterben. „Sind also drey Weiber im Gefengnuss umbkommen/und kan noch niemand sagen/wie/wem//was/sie böses gethan“.

Abb. 3 Vorrede BerichtAbb. 7: Aus der Vorrede zum Gründlichen Bericht

Er verlangt die Einstellung der Folter und die sofortige Freilassung der Beschuldigten so heftig, daß die einzige überlebende Gefangene freigelassen wird. Es ist kein weiterer Fall bekannt, daß ein Pfarrer während eines Hexenprozesses die Beendigung der von ihm als unmenschlich erkannten Folter verlangte und damit Erfolg hatte. Im Prozeßprotokoll heißt es: „weil der Pfarrer alhie hefftig dawieder gewesen, das man die Weiber peinigte, alß ist es dißmahl deßhalben underlaßen worden. Da er mit großem Gestüm und Unbescheidenheit vor der Tür angericht den Herrn D. angefürdert und heftig CONTRA TORTURAM geredet.“

Abb. 4 Prozeßakte 1597Abb. 8: Auszug aus dem Protokoll von 1597

Angesichts der Stimmung zu der Zeit und der Umstände ist es nur natürlich, daß AP daraufhin seine Stelle als Hofprediger verlor. 1598 wurde er Pfarrer in Laudenbach an der Bergstraße. Doch sein Erlebnis in Birstein läßt ihn nicht mehr los. Jetzt beginnt er seinen Kampf gegen den Hexenwahn und die damit einhergehenden unmenschlichen Foltermethoden und schreibt seinen „Gründlichen Bericht“ (s.o.). Er fordert Verteidiger für die der Hexerei Angeklagten, ihre Gleichbehandlung und mehr als nur einen Zeugen gegen sie. Grundlage seiner Argumentation bleibt immer die Bibel, das AT und das NT.

Grundlage für die Hexenverfolgungen war zum einen die Bulle (lat. bulla – Kapsel, Schutzkapsel für Metallsiegel, auch das Metallsiegel selbst; seit dem 13. Jh. ein päpstlicher Erlaß über wichtige kirchliche Angelegenheiten, in lat. Sprache auf Pergament geschrieben) Summis desiderantes affectibus (Hexenbulle) Papst Innozenz‘ VIII. von 1484 und der Malleus Maleficarum (Hexenhammer) des Dominikanermönchs Henricus Institoris (Heinrich Kramer), der 1486 in Speyer veröffentlicht worden war und über zwei Jahrhunderte zur Legitimation dieser Praxis diente. Und die Schuldvorwürfe konzentrierten sich auf folgende vier Punkte:

  1. Hexen haben einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.
  2. Das geschieht in der Form der Teufelsbuhlschaft (Eheschließung) und gipfelt im Geschlechtsverkehr mit dem Teufel.
  3. Sie üben Schadenszauber aus: an Menschen, Tieren, Ernten und Wetter.
  4. Sie nehmen am Hexensabbat teil, daher kennen sie alle anderen Hexen und müssen deren Namen im Verhör nennen.

AP wußte genau, in welcher Gefahr jeder schwebte, der gegen Hexenprozesse zu Felde zog. Daher wurde sein „Gründlicher Bericht“ zunächst unter dem Namen seines 13-jährigen, in Kamen geborenen, Sohnes veröffentlicht. (Durch „Joannem Scultetum Westphalo-camensem“ ist sein Pseudonym: Johannes Schulze aus Kamen in Westfalen. Er selber war ja als Antonius Praetorius bekannt. Und lange Zeit hat wirklich niemand diese Schrift mit AP in Verbindung gebracht. Das ist die zweite Möglichkeit der Latinisierung: man hängt eine lateinische, d.h. deklinierbare Endung an den deutschen Namen an.) Erst vier Jahre später, 1602, traut er sich, die zweite Auflage unter seinem eigenen Namen herauszubringen. 1613 erscheint die dritte Auflage, zu der AP ein Vorwort schreibt und die durch Gutachten lutherischer Theologen untermauert wird, was bedeutet, daß sie zu einem überkonfessionellen Appell gegen Folter und Hexenprozesse wurde. Und es zeigte sich auch, daß es in ganz Deutschland Menschen aller Stände gab, die gegen Hexenprozesse waren und daß AP mit seinem „Gründlichen Bericht“ sozusagen offene Türen einrannte. Er war es, der sich als erster öffentlich äußerte und die Bibel wie auch menschliche Vernunft gegen die Hexenhysterie und die ungesetzliche Anwendung der Folter durch die Justizbehörden setzte.

Damit wir uns ein Bild davon machen können, mit welcher Vehemenz AP zu Werke schritt, hier ein paar Zitate aus seinem „Bericht“ (zit. nach Wikipedia, „Anton Praetorius“):

„Es muss ein Ende sein mit der Tyrannei, die bisher viele unterdrücket, denn Gott fordert Gerechtigkeit.“

„Es sollten die obersten Herren gelehrt sein in Gott, fromm und ein Vorbild. … Christliche Obrigkeiten sollen das Werk der Zauberer auf christliche Weise hindern und strafen.“

„Ihr seid im Unrecht. Ihr steht in des Kaisers Strafe, denn Ihr seid für mutwillige und öffentliche Totschläger und Blutrichter zu halten!“

„Welche Richter zu der Ungerechtigkeit Lust haben und unschuldiges Blut vergießen, werden in Gottes Hand zur Rache verfallen und sich selbst in die unterste Hölle hinabstürzen!“

Und seine rechtliche und moralische Auseinandersetzung mit der Folter ist von bestechender Schärfe und liest sich so (zit. nach Wikipedia, „Anton Praetorius“): „Ich sehe nicht gern, daß die Folter gebraucht wirdt

1. Weil fromme Koenige vnd Richter im ersten Volck Gottes sie nicht gebraucht haben:

2. Weil sie durch Heidnische Tyrannen auffkommen:

3. Weil sie vieler vnd grosser Luegen Mutter ist:

4. Weil sie so offt die Menschen am leibe beschaediget.

5. Weil auch endlich viel Leut/ ohn gebuerlich vrtheil vnd Recht/ ja ehe sie schuldig erfunden werden/ dadurch in Gefaengnussen vmbkommen: Heut gefoltert/ Morgen todt.

Auch findt man in Gottes Wort nichts von Folterung/ peinlicher Verhoer/ vnd durch Gewalt vnd Schmertzen außgetrungener Bekaentnuß/

Weil dann die peinliche verhoerung so vnchristlich/ so scharpff/ so gefaehrlich/ so schaedlich/ vnd darzu so betrieglich vnd vngewiß/ soll sie billich von Christlicher hoher Oberkeit nicht gebrauchet noch gestattet werden.

Je mehr jemand foltert vnd foltern laesset/ je gleicher er den Tyrannen thut vnd wird.

Endlich ist gewiß/ der Teuffel fuehlet der Folter Schmertzen nicht/ vnd wirdt dardurch nicht vertrieben.

Ihr Herrn vnd Richter habt den armen Leuten mit Folterung … auff den Weg der verzweiffelung gebracht …: Derhalben seyd ihr schuldig an ihrem Todt.

unterschrift_praetoriusAbb. 9: Antonius Praetorius‘ Unterschrift

Am 6. Dezember 1613 starb der Kämpfer gegen Hexenprozesse und Missionar für den calvinistischen Glauben, Antonius Praetorius, in Laudenbach in Hessen. Er wurde 53 Jahre alt.

KH

Große Teile meines Wissens über AP und etliche Zitate entstammen den zahlreichen Schriften, die Hartmut Hegeler aus Unna über AP verfaßt hat. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. Folgende Schriften von Hartmut Hegeler bilden die Grundlage obigen Artikels:

Hartmut Hegeler, Anton Praetorius – Vom Kirchenreformator zum Kämpfer gegen Hexenprozesse und Folter in der Wetterau – De Pii Magistratus officio – Des frommen Amtsträgers Pflicht

Hartmut Hegeler, Anton Praetorius – Kämpfer gegen Hexenprozesse und Folter

 

Die Zitate stammen aus Hartmut Hegelers Schriften, soweit nicht anders vermerkt.

Weitere Informationen im Internet unter:

www.anton-praetorius.de

Hier finden Sie Hartmut Hegelers Publikationen über AP:

http://www.anton-praetorius.de/buecher/buecher.htm

 

Die Abbildungen entstammen:

Stadtarchiv Kamen: Nr. 1 (bearbeitet von KH)

Universität Heidelberg, Repro-Faksimile  Deutsches Rechtswörterbuch: Nr. 2, 4, 7

H. Hegeler, – ein Kapitel Rheinhessischer Geschichte: Nr. 5

Wikipedia: Nr. 3, 6, 8, 9

KH

Stadtbaurat Gustav Reich

von Klaus Holzer

Abb. 1

Abb. 1: Gustav Reich, 22. August 1887 – 9. Juli 1970

Erst Ansiedlungen, dann Dörfer, schließlich Städte wurden
nicht geplant, sondern entstanden nach Gesichtspunkten zeitgemäßer Zweckmäßigkeit. Kamen verdankt seine Entstehung der Lage an einer einstmals für den Verkehr wichtigen Sesekefurt. Entscheidend für die Entstehung der Siedlung war, daß es dort alles gab, was der Mensch für seine Existenz brauchte: Der Fluß gab Wasser, zusammen mit Fischen, Krebsen und Muscheln als Nahrung; Wald versorgte die Siedler mit Jagdtieren und Holz zum Hausbau, zum Heizen und Kochen; Weide und Wiese für das Vieh gaben Sommer– wie auch Winterfutter. (Die erste in Deutschland planmäßig gegründete Stadt ist Freiburg im Breisgau, 1120.)

Jäger und Sammler hatten andere Bedürfnisse als seßhafte Bauern, die Stadt mußte sich anders organisieren als das Dorf, und die mittelalterliche Stadt mußte andere Lebensweisen ermöglichen als die moderne. Doch der Kernbereich menschlichen Zusammenlebens in der Stadt umfaßte immer: das Zentrum mit Rathaus, Kirche, Handwerker– und Bürgerhäuser, Selbstverwaltung und städtische Gerichtsbarkeit, soziale und berufliche Differenzierung der Stadtbevölkerung in Stadtvierteln. Daraus folgte zunächst wie von selbst eine räumlich sinnvolle Gliederung der Stadt. Lediglich Einzelheiten wurden anfangs vorgeschrieben: keine Strohdächer mehr wegen der Brandgefahr (in Kamen ab 1712), der Abstand der Häuser zueinander ebenfalls wegen der Brandgefahr (in allen Häusern gab es offene Feuerstellen), aber auch, damit jedes Haus den notwendigen Lichteinfall hatte.

Nach dem Ersten Weltkrieg war Kamen eine kleine Stadt, die sich noch viel von ihrem mittelalterlichen Erscheinungsbild bewahrt hatte. Immer noch war sie das ländliche Ackerbürgerstädtchen, das sich nur an zwei Stellen über die alte Stadtmauer ausgedehnt hatte: im Westen hatte sich die Zeche Monopol angesiedelt, im Süden bot der Bahnhof Anschluß an die Köln-Mindener Eisenbahn, die den Beginn des Industriezeitalters ermöglichte, den Anschluß an die Moderne.

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Abb.2: Kamen auf einem Luftbild von 1922: ein kleines Ackerbürgerstädtchen

Nach der langen Amtszeit als Bürgermeister von Vater und Sohn von Basse (1847 – 1913!), trat Dr. Kurt Hermann Wiesner am 1. Juli 1913 sein Amt als Kamener Bürgermeister an, verließ Kamen aber am 13. November 1923, um Polizeipräsident in Erfurt zu werden. Nach einem zweijährigen Interregnum, in dem der Beigeordnete August Siegler von November 1922 an stellvertretender Kamener Bürgermeister war, wurde am 25. September 1924 der aus Aplerbeck gebürtige Gustav Adolf Berensmann sein Nachfolger. Dieser war vorher schon BM in Laasphe gewesen und erwies sich als ausgesprochen tatkräftig. In einer seiner ersten Amtshandlungen holte er seinen dortigen Stadtbaumeister Gustav Reich nach Kamen. Er wußte genau, wen er da holte. „Baurat Reich ist von uns berufen, die alte Stadt mit ihrem schiefen Turm aus ihrem Dornröschenschlaf zu wecken,“ mit diesen Worten führte Berensmann ihn am 1. Mai 1925 in sein Amt ein. Reich brachte für seine neue Aufgabe reichlich Erfahrung mit. Von 1911 bis 1914 war er Regierungsbaumeister und Bauführer in Frankfurt gewesen, anschließend 6 Jahre in Wiesbaden, war dabei auch „als Kommissar gegen die Verschandelung des Rheintals“  zuständig gewesen. Reich brachte sowohl in der Planung wie Bauausführung, im Tiefbau wie im Hochbau viel Erfahrung mit. Zu seinem neuen Tätigkeitsbereich in Kamen gehörten das gesamte Bauwesen und die Versorgungsbetriebe: Verwaltungsabteilung und Baupolizei, Stadtplanungs– und Baupflegeamt, Hochbauamt, Tiefbauamt, Grundstücks– und Vermessungsamt und die Städtischen Betriebswerke.

GR hatte zuvor bereits vier Jahre im Ersten Weltkrieg gedient, schied 1918 als Oberleutnant der Reserve aus dem Dienst, reich dekoriert: EKI und EK II, Ritterkreuz des Zähringer Löwen mit Schwertern, das Ehrenkreuz für Frontkämpfer und das Treudienstehrenzeichen.

Abb. 3

Abb.3: Reichs Entwurf der Stadtplanung für Kamen von 1927

Ohne Titel

Abb.4: Kamen auf einem Luftbild von vor 1938, Reichs Handschrift ist schon zu erkennen

Reich erwies sich als ebenso energiegeladen wie Berensmann. Umgehend entwickelte er eine Stadtplanung, um Kamen zu einer modernen Stadt zu machen, fit fürs 20 Jh. 1927, nach nur zwei Jahren im Amt, wartete GR mit einem Stadtbauplan auf, der „als Grundlage jedweden gemeindlichen Unternehmens nach neuzeitlichen Gesichtspunkten“ (GR) aufgestellt war, für Kamen, die siebenhundertjährige Stadt, der erste Stadtbebauungsplan überhaupt. Wenn eine Leitidee darin zu entdecken ist, dann die des „Zusammenklangs von weltlicher und geistlicher Autorität“ (GR). Dr. Fred Kaspar von der Denkmalbehörde des LWL urteilte 1988: „Das … in seiner Komplexität weit überdurchschnittliche Konzept … ist … bis heute prägend geblieben“. Und weiter: „Die Bebauung und Konzeption der beiden Gartenplätze sowie der anschließenden Straßenstücke, insbesondere von Ostring und Kastanienallee [ist] exemplarisch für die großen und künstlerisch anspruchsvollen Konzepte des Städtebaus … in Kamen nach dem Ersten Weltkrieg ….“ Dr. Kaspar bezieht Reichs Konzeption für den Postbereich, den Edelkirchenhof bzw. den Bereich von Koppelteich und Schwimmbad mit ein, beklagt aber die Veränderungen durch Um– und Neubauten. Er schlußfolgert: „Für die Erhaltung und Nutzung dieses Stadtbezirkes (gemeint: Gartenstadt Ost (Ostring, Hammer Straße/Kastanienallee, Gartenplatz, Hüchtweg) in seiner ursprünglichen Konzeption liegen daher künstlerische, wissenschaftliche und städtebauliche Gründe vor.“ Er verlangt: „Sie ist als ein (Gesamt–)Baudenkmal zu betrachten.“ Und: „Der Zusammenhang der Gebäude wird … insbesondere durch die achsiale Ausrichtung der Anlage und deren Betonung durch Elemente wie Baumreihen (Pappeln, Kastanien), Hecken (Weißdorn) oder Mauern geschaffen.“ Er bescheinigt Reich „hohen gestalterischen und formalen Anspruch.“

Abb. 5

Abb.5: Das Haus Kirchplatz Nr. 5a & 5b, mit Pflanzkreuz in der Mulde

Was heißt das nun konkret? Die alte Stadt Kamen war von zwei Polen bestimmt: hier die 900 Jahre alte Pauluskirche, dort das 700 Jahre alte Rathaus. Alle anderen Bauten, Profanbauten, sind darauf zugeordnet. Um diesen Gedanken zu betonen, legte GR zwischen den beiden großen Kirchen einen Platz an, der dem Gedenken der im Ersten Weltkrieg Gefallenen gewidmet war. Der Platz war als Mulde angelegt, um, wie GR es formulierte, den Sakralbauten „Erhöhung nach oben“ zu geben. Darinnen befand sich an zentraler Stelle ein gepflanztes Kreuz. Als Ergänzung, um ein würdiges Ensemble zu schaffen, stellte er vor das städtische Wahrzeichen, den schiefen Turm,

seitlich versetzt ein Mahnmal, das Löwendenkmal, vom Dortmunder Bildhauer Beyer geschaffen. Der Sockel trug die Inschrift: „So betet, daß die alte Kraft erwache.“ Dieses Mahnmal wurde im Februar 1945 bei dem schwersten Bombenangriff auf Kamen, zusammen mit dem schiefen Turm, schwer beschädigt und 1946 abgerissen.

Und dann wurde Kamen in atemberaubendem Tempo verändert. Mitte der 1920er Jahre war die Wohnungsnot groß, Wohnungsbau wurde zu einer zentralen Aufgabe für die öffentliche Hand. Am  Beispiel Kamen: Die Stadt Kamen besaß 1924 43 stadteigene Wohnungen, 1928 bereits 190! Natürlich konnte GR bei allen seinen Bauprojekten auf das große Reservoir an Arbeitskräften zugreifen, das, verarmt durch die Inflation, nur auf Beschäftigung wartete. Reichs Pläne verhalfen der Stadt zu einer Erneuerung, den Arbeitslosen zu Einkommen. Der Stadtplaner und Architekt Reich war in seinem Element.

Dabei war eine berufliche Orientierung als Architekt gar nicht sein erstes Ziel. Direkt nach dem Abitur in Hanau 1906 ging er ans Konservatorium nach Frankfurt und studierte Musik, Klavier und Violine. Dieses Studium brach er zwar nach einem Jahr wieder ab, doch war er ein so guter Musiker, daß er z.B. im März 1921 bei einer „Beethoven-Feier in der städtischen Turnhalle in Laasphe“ als Pianist in einem Beethoven-Trio und einem –quartett , als Sologeiger und Chorleiter auftrat. Da war er bereits Stadtbaumeister in Laasphe.

Keine drei Monate nach GRs Amtsantritt in Kamen, am 24. August 1925, begannen die Arbeiten am Bau der Kamener Kanalisation, 15 km wurden unter seiner Ägide gebaut. GR bettete diese Arbeiten in ein umfassenderes Konzept ein. Begünstigt wurden viele dieser Arbeiten durch die Möglichkeit, sie im Rahmen von Notstandsarbeiten durchzuführen, insgesamt 12 Maßnahmen. Er ließ die Hauptstraßen in der Innenstadt ausbauen, plante und baute Umgehungsstraßen, legte Straßen und Plätze in neu erschlossenen Stadtteilen an und legte die entsprechenden Versorgungsleitungen.

Ohne Titel

Abb.6: Der Koppelteich, auch Gondelteich genannt

Abb. 7

Abb. 7: Der Postteich, von vielen ebenfalls Gondelteich genannt

Es besteht ein Zusammenhang mit der zu dieser Zeit stattfindenden Sesekeregulierung, da das Abwasser nun in die regulierte Seseke floß. Und in dieses Konzept gehörte auch die Anlage zweier „Gondelteiche“ (ca. 1930), die den Freizeit– und Erholungswert Kamens erheblich steigerten, zu einer Zeit, in der der jährliche Urlaub für die Mehrheit der Menschen keineswegs eine Selbstverständlichkeit war.

Abb. 8

Abb.8: Sommeridyll am Postteich

Ohne Titel

Abb.9: Winterfreuden auf dem Koppelteich

Im Sommer waren diese Teiche beliebte Ziele für Spaziergänger, fast immer saßen Angler an ihren Ufern, die Karpfen und Hechte fingen, im Winter war Schlittschuhlaufen auf wirklich großen Flächen beliebte Freizeitbeschäftigung, Eishallen gab es schließlich nicht. Enten und Schwäne fühlten sich auf ihnen wohl, Häuser für sie waren auf Inseln in die Teiche gebaut. Beide Teiche lagen, wie auch die Mulde zwischen den Kirchen, mehrere Meter unter Straßenniveau.

Bestimmte Gestaltungsprinzipien sind bei Reichs Entwürfen und ihren Ausführungen durchgängig erkennbar:

  1. Symmetrie ist ein zentrales Prinzip: Abgang in Bogenform am Postteich, zentral vor Postgebäude gelegt; Eingang zur Kastanienallee von der Hammer Straße her; ähnlich am Koppelteich: gegenüberliegende Auf/Abgänge; Anordnung der Bebauung an der (heutigen) Koppelstraße links und rechts der Auffahrt zur Hochstraße; Skulpturen am Gebäude der (heute) alten Post, desgl. am Privathaus Reichs, Kreis und Oval sowie ihrer beider Segmente, an verschiedenen Stellen im Plan erkennbar, u.a. auf dem Edelkirchenhof. Durch diese Symmetrie ergeben sich immer wieder interessante Sichtachsen.
  2. Springbrunnen an Land, im Wasser Inseln
  3. Anlage der beiden Schulgebäude am Koppelteich einander gegenüber, Gebäude in einem einheitlichen Baustil errichtet
  4. Die Mulde zwischen den Kirchen ist nach diesem Prinzip angelegt
  5. Gartenplatz I & II in der Gesamtanlage wie auch der Detailgestaltung desgl., das gilt auch für die zentralen Mulden
  6. Reich hat sehr häufig Pappeln verwendet: ihre schlanke Form wirkt wie ein Rahmen: Edelkirchenhof, Koppelteich, Hemsack u.a., überhaupt war Kamen eine „grüne“ Stadt. Es dominierten Pappeln, Trauerweiden und Rotdorn.

Abb. 11a

Abb.10: Der Edelkirchenhof, von 100 Pappeln umstanden

13. Dezember 1925: die Arbeiten zur Umgestaltung des Edelkirchenhofs in eine Parkanlage beginnen. Er wird nun von 100 Pappeln umstanden.

Anfang der 1920er Jahre baute die Zeche die Zechenhäuser nördlich des heutigen kleinen Kreisels an der Lünener Straße, die bis zum ehemaligen Hause Recker reichten. Dafür wurde als Ausgleichsgelände der neue Park „Am Edelkirchenhof“ angelegt. Dieser war bis dahin eine Viehweide des Bauern Koepe gewesen. An diese Familie erinnert heute noch der Koepeplatz.

Im Zuge des Baues dieser neuen Häuser entstand die neue Straße „Am Reckhof“.

Abb. 10

Abb.11: Am Reckhof

15. Februar 1926: der Ausbau des Kirchplatzes mit dem Kriegerehrenmal beginnt.

Abb. 12

Abb.12: Einweihung des Löwendenkmals vor der Pauluskirche am 27. Oktober 1927

29. April 1926: der Kamener Stadtrat faßt den Beschluß, der Reichspost ein Grundstück im Mersch zu schenken, damit dort die neue Post gebaut werden konnte. Hintergrund war 1928 die Ankündigung der Reichsbahn gewesen, den alten Bahnhof aufzugeben und hierher zu verlegen. Dann hätte man die zwei wichtigsten Transportträger, Bahn und Post, an einer Stelle im Stadtgebiet zusammen gehabt. Doch der neue Bahnhof wurde nie gebaut.

Abb. 13

Abb.13: Die neue Reichspost

4. März 1926: Beginn des Umbaus des Krankenhauses

15. Juni 1926: Beginn des Rathausumbaus.

15. März 1927: Abschluß der Instandsetzungsarbeiten des Stadtparks an der Hammer Straße

12. Mai 1927: Beginn des Baus der Badeanstalt im Hemsack

Ohne Titel

Abb.14: Reichs Planung in der Umsetzung: Koppelteich, Badeanstalt, Hemsack mit 3 Sportplätzen und Deutschlands einziger 1000-Meterbahn

2. Oktober 1927: Einweihung des Kriegerehrenmals am Kirchplatz

24. September 1927: Einweihung des Ratskellers im Rathaus

Abb. 16

Abb.15: Der Ratskeller, Innenansicht

28. August 1928: die Badeanstalt im Hemsack wird eröffnet

Abb. 15

Abb.16: 28. August 1928: Bürgermeister Berensmann eröffnet die Badeanstalt im Hemsack

9. Juni 1928: Einbau des Gedächtnisbrunnens für die gefallenen Verwaltungsbeamten und –angestellten der Stadt Kamen in der Rathaushalle.

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Abb.17: Gedächtnisbrunnen im alten Rathaus

1. November 1928: Beginn der baulichen Erschließung des feuchten Merschgebietes

1. November 1928: Beginn des Baus des Bürgermeisterhauses am Sesekedamm

Abb. 19

Abb.18: Das Bürgermeisterhaus für BM Berensmann

1930: die Arkaden des Schwesterngangs werden errichtet

Abb. 18

Abb.19: Die Arkaden am Schwesterngang

12. November 1938: die Reichsautobahn Recklinghausen – Bielefeld wird eingeweiht, heute A2.

Überall in Kamen tauchte der neue Stadtbaurat auf, war sogleich bestens bekannt, fuhr er doch ein einzigartiges Fahrrad, ein Familienerbstück von 1890, dessen Rahmen so hoch war, daß er gar nicht „normal“ aufsteigen konnte. Dazu brauchte er die auf der Hinterachse liegenden kurzen Trittstangen, mit deren Hilfe er sich in einem kuriosen Schwung von hinten in den Sattel hievte. Und immer hatte er seine geliebte Pfeife im Mund, manchmal durch eine Zigarre ersetzt. Einmal passierte es, daß sich seine Hose in der offenen Kette verfing, auf der Bahnhofstraße, gleich hinter dem Rathaus, in Höhe der Metzgerei Radtke. Reich stürzte, die Pfeife aber behielt er im Mund. Passanten sahen das und sagten: „Selbst beim Unfall hat er seinen Knösel im Mund.“ Und sogar für Urlaubsfahrten nahm GR immer das Fahrrad, zusammen mit seiner Familie ging es bis an den Bodensee.

Allerdings brachte der passionierte Radfahrer sich (und andere) auch immer mal wieder in Gefahr. An der Gabelung Bahnhof–/Horst-Wessel-Straße (heute Koppelstraße) war immer viel Verkehr. GR radelte einfach weiter: „Ich habe Vorfahrt.“ Später besaß er ein leichtes Motorrad, das von Ernst Sander aus der Zünderfabrik betreut wurde. Als GR eines Tages nach Heeren fuhr, aber dort nicht ankam, ging man auf die Suche nach ihm. Er wurde verletzt im Straßengraben an der Derner Straße gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Weil GR beim Fahren zunehmend unsicher wurde und seine Familie sich sorgte, beschwor Reichs Sohn Herbert Herrn Sander, seinem Vater zu sagen, er könne es nicht mehr reparieren. Leider müsse er von nun an auf sein Motorrad verzichten. Da war es mit dem Fahrrad dann doch sicherer.

Ohne Titel

Abb.20: Kamens zweite Straßenbrücke an der Koppelstraße

Im Zuge seiner Planungen entstanden mehrere Straßen, die wichtigste wohl die damalige Emil-Rathenau-Straße, dann Horst-Wessel-Straße, heute Koppelstraße, weil in ihrem Verlauf die erst zweite vollwertige Straßenbrücke über die Seseke entstand. Bis 1923 war die 1695 zum ersten Mal erwähnte Maibrücke die einzige Straßenbrücke in Kamen. Die Notwendigkeit einer zweiten Brücke war offenbar geworden, als die Maibrücke 1923 baufällig geworden war und erst halbseitig, dann ganz gesperrt werden mußte und alle Bauern, die aus dem Süden auf den Kamener Markt wollten, große Umwege über Derne bzw. Weddinghofen gehen mußten.

Er plante außerdem bereits eine Umgehungsstraße, die vielleicht sogar die in den 1970er Jahren gebaute, die Stadt zerschneidende Hochstraße überflüssig gemacht hätte, den heutigen Unkeler Weg.

Abb. 21

Abb.21: In der Fortführung des Ostrings: der als Umgehungsstraße geplante Unkeler Weg

Weiters baute GR den Friedhof an der Werner Straße um und verlegte den Haupteingang wegen des zunehmenden Verkehrs in die Friedhofstraße. Er erlaubte sich keine Ruhe, seine Ideen sprudelten nur so aus ihm heraus. Das merkten natürlich auch seine Mitarbeiter, die stickum Reißaus nahmen, wenn sie ihren Chef am späten Nachmittag auf dem Fahrrad erspähten, wie er Kurs auf das Rathaus nahm, fand er doch gar nichts dabei, auch um 7 Uhr abends noch schnell etwas zu diktieren.

Abb. 22

Abb.22: Gartenplatz der neuen Gartenstadt „Kamen – Ost

Abb. 23

Abb. 24

Abb.23 & 24: Einfahrt von der Hammer Straße in die Kastanienallee, die zwischen Gartenplatz I und Gartenplatz II verläuft. Zwei Bauprinzipien Reichs sind schön zu sehen: Symmetrie und Kreissegmente. Ergebnis: die Bewohner haben sich dort immer wohlgefühlt.

Reich Gartenplatz Haussäulen

Ein besonders schönes Beispiel eines Einfamilienhauses am Gartenplatz

Einen Höhepunkt seines Wirkens stellen die beiden Wohnsiedlungen Gartenplatz I und II im Osten Kamens dar. Nur wenige Jahrzehnte vorher, 1898, hatte der Engländer Ebenezer Howard sein Buch „To-Morrow: A Peaceful Path to Real Reform“ veröffentlicht, in dem er das Modell einer Gartenstadt entwickelte. Sie sollte die Trennung zwischen Stadt und Land aufheben und die Vorzüge beider in einem verwirklichen. GR brachte Grün in das Wohnumfeld, die Nähe zur Stadtmitte war ohnehin gegeben. In jede der beiden Siedlungen fügte er einen zentralen Platz ein, wieder als Mulde ausgelegt, mit einem Springbrunnen in der Mitte, „zur Erhöhung nach oben“, hier sogar auf Profanbauten bezogen. Plätze waren für ihn konstitutives Element von Stadt, Versammlungsorte, Orte der Gemeinschaft.

Abb. 25

Abb.25: Die Kastanienallee verläuft zwischen Gartenplatz I und Gartenplatz II

Wie detailversessen GR war, zeigt sich an den Einzelheiten: Einzelhäuser immer giebelständig, Doppelhäuser traufenständig; Anordnung der Gauben nach festen Regeln; Dachgestaltung; symmetrische Fassadengestaltung; Fenstergestaltung; Freisitze; Baumaterial.

Ein weiterer Punkt, wo Kamen GRs Dickschädel viel zu verdanken hat, war der Bau der Reichsautobahn Recklinghausen – Bielefeld. Die ursprüngliche Planung sah vor, daß „seine“ Stadt, wie er fand, durch den Damm der Fahrbahnen „gedankenlos zerschnitten“ werde sollte. Er sorgte dafür, daß das Stadtgebiet nicht nach Norden geschlossen wurde, wodurch der Verkehr mit den Gemeinden im Norden und Westen empfindlich gestört worden wäre. Ein Zeitgenosse versichert, daß es in keiner Stadt, auch keiner Großstadt, so viele Durchlässe durch die Autobahn gibt wie in Kamen, nämlich acht (und nachträglich noch der Radweg Klöcknerbahntrasse), was sich heute als wahre Wohltat erweist. Und er trug seine Ideen zum Kamener Kreuz bei. Ideen und Planungen waren bei ihm kein Selbstzweck, sondern hatten immer den Menschen und ihrer Stadt zu dienen. Er radelte vor Ort und überprüfte seine Pläne auf ihre Stimmigkeit und Umsetzbarkeit.

Abb. 29

Abb.26: Das alte Kamener Kreuz.

 

Abb. 30

Abb.27:  Die Einweihung der Autobahn, heute A2, am 12. November 1938

Natürlich kam jemand wie Reich nicht an den Nationalsozialisten vorbei. Nach eindringlicher Aufforderung trat er am 1. Mai 1937 in die NSDAP ein, doch scheint er sich nichts haben zuschulden kommen lassen, wurde er doch gleich nach dem Krieg, nachdem er einen Entnazifizierungsbogen ausgefüllt hatte, wieder in den Dienst der Stadt Kamen aufgenommen. So geschah es, daß er 1946 als Dienstältester im Kamener Rathaus ca. ein halbes Jahr als Stadtdirektor amtierte und somit den höchsten Posten in der Stadt bekleidete.

In dieser Funktion erreichte ihn auch eine Anfrage des Arnsberger Regierungspräsidenten, ob Kamen gewillt sei, Hilfe aus Bloomfield, einem 16000-Einwohnerstädtchen (das stellte sich später als Übertragungsfehler heraus, man hatte eine Null zuviel angehängt; vgl.a. Montreuil-Juigné) in Nebraska/USA, anzunehmen.

Abb. 26

Abb.28: Spende aus Bloomfield: von links: Reich, Rissel, Canaday, Heitsch

Ohne Titel

Abb.29: Carepakete werden vor dem Rathaus abgeladen

Abb. 28

Abb.30: Die Kamener warten schon auf die Verteilung

Dort gebe es einen Farmer namens Claude Canaday, der sich vorgenommen habe, eine ausgebombte Stadt und ihre darbenden Einwohner in der schweren Nachkriegszeit mit Hilfslieferungen zu unterstützen. Reich sagte ja, und es setzte eine lange Reihe von Carepaket-Lieferungen nach Kamen ein. Bloomfield übernahm für Kamen eine Stadtpatenschaft, die immerhin dazu führte, daß Reichs Tochter und einer seiner Söhne noch im Sommer 1968 nach Bloomfield fuhren und den Kontakt erneuerten. Offenbar gibt es immer noch einen Sohn von CC, heute 85 oder 86 Jahre alt.

Für eine kurze Zeit muß GR seine Arbeit in Kamen unterbrechen, als er am 1.8.1939 zu einer Militärübung eingezogen wird, anschließend zur Teilnahme am Krieg nach Polen, Belgien und Frankreich (in Rennes organisiert er die Wasserversorgung) abkommandiert wird. Am 27.9.1940 kommt er hierher zurück, als Hauptmann der Reserve, vom Kreis Unna als kriegswichtig angefordert. Während der Kriegszeit teilt er seine Arbeitszeit zwischen dem Kreis, wo er nebenamtlich das Bauamt leitet, wozu das gesamte Luftschutzsystem gehörte, und der Stadt Kamen auf.

Wer viel macht und tut, eckt an. Immer wird es unterschiedliche Ansichten und Meinungen geben. Und GR war ein Mann mit Ecken und Kanten. So gab es 1946 eine  politische Auseinandersetzung über den Wiederaufbau eines städtischen Hauses in der Schlachthofstraße, die in einem Disziplinarverfahren endete. Doch der Regierungspräsident in Arnsberg empfahl Abwarten, die Sache geriet in Vergessenheit und verlief im Sande.

Was an GRs Planung auffällt, ist die Modernität auch in unserem heutigen Sinne, und das vor 80/90 Jahren. Das war die Zeit, als Kohle und Stahl die wichtigsten Wirtschaftsträger waren, die die mit Abstand meisten Arbeitsplätze boten. Doch war die Arbeit anstrengend und schmutzig, die Luft durch Kohlekraftwerke, Verkokung und Stahlherstellung verpestet. Filter, die Abgase reinigten, für uns selbstverständlich, gab es nicht. Urlaub an der See, in den Bergen, war für die Arbeiter an der Ruhr unerschwinglich. Erholung konnte es also nur in der unmittelbaren Nähe, zu Hause, geben. Grün in der Stadt war überlebenswichtig, und GR plante überall mit Grün.

GR wurde auch als Käufer von Grundstücken für die Stadt tätig: z.B. Haus Heide mit seinen 450 Morgen Land, die er als Reserve ansah, die den Kamener Ackerbürgern im Tausch angeboten werden konnten, wenn eines Tages ihr Land für die Stadtentwicklung gebraucht werden sollte.

Abb. 34

Abb.31: Häusergruppe am Ostring

Abb. 35

Abb.32: Das ehemalige Altersheim Am Ufer 

Neben diesen vielen Großprojekten kümmerte sich GR aber auch um einzelne Häuser. Die Häuser am Ostring, im Baustil der 1930er Jahre, mit Ornamenten, Pilastern und Gesimsen, gehen auf sein Konto. Das Haus 5a/b am Kirchplatz, das Altersheim an der Seseke und die beiden Schulen am Koppelteich ebenfalls, im Stil der 1950er Jahre.

Die beiden Schulen am Koppelteich

Abb. 31

 

Abb. 32

Abb.33: Glückauf-Schule (oben) und Abb.34:  Martin-Luther-Schule (unten)

Abb. 33

Abb.35: Der Koppelteich mit den beiden Schulen (oben, Bildmitte)

GR wurde am 31. März 1953 aus dem Dienst verabschiedet. Und er hatte noch viel vor, jedenfalls wollte er „keine Kakteen züchten“. in den nächsten anderthalb Jahrzehnten wirkte er weiter und nutzte seine riesige Erfahrung als Baumeister im Dienste verschiedener Wohnungsbaugesellschaften,insbesondere der GAGFAH (Gemeinnützige Aktiengesellschaft für Angestellten-Heimstätten), aber auch  privater Bauherren. In Gerichtsverfahren wirkte er als amtlich bestellter Gutachter mit. Erst im April 1957 konnte er mit seiner Familie in das eigene Haus in Kamen einziehen, natürlich selber entworfen und mit einem Relief über der Eingangstür geschmückt, das seine drei Kinder über dem Zirkel des Architekten zeigt, wieder entworfen vom Dortmunder Bildhauer Beyer.

Abb. 36Abb. 37

 

 

Abb. 36: Der Eingang zu Reichs Privathaus (links)

Abb.37: Das Relief über der Haustür zeigt Reichs Kinder und den Architektenzirkel (unten)

 

 

Im Frühjahr 1970 gibt es erste Anzeichen einer schweren Gefäßerkrankung. Nur vier Monate später, am 9. Juli 1970, stirbt Stadtbaurat i.R./Regierungsbaumeister a.D. Gustav Reich in Kamen. Die Spuren, die er hinterließ, sind verwischt. Junge Kamener kennen seinen Namen nicht, ältere erinnern sich an einen Großen der Kamener Stadtgeschichte. Stadtbaurat i.R. Gustav Reich liegt auf dem alten Friedhof begraben, zusammen mit seiner Frau Luise, mit der er seit 1923 verheiratet war. Der Stein auf ihrem Grab wurde nach seinem eigenen Entwurf für das Grab seiner Eltern im Spessart als Kopie in Kamen angefertigt.

Abb. 38

Abb.38: Das Grab von Gustav und Luise Reich

Die heutige Stadt muß, um zu funktionieren, u.a. folgende Dinge verbinden: Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Freizeit, Kultur, soziale und Gesundheitspflege, Verkehr. Worum kümmerte sich GR? Worum nicht?

Wenn man diese Definition von Stadt heute zugrundelegt, fällt auf, wie sehr GR Generalist war, immer das große Ganze im Blick hatte. Stadt war für ihn ein zivilisierter Lebensraum, der dem Menschen zu dienen hatte. Daher entwarf er das System Stadt und paßte alle Einzelteile in dieses System ein. Wenn man sich seine Häuser ansieht, fällt deutlich auf, daß GR sich nicht den modernistischen Entwicklungen des Bauhauses anschloß. War hier die Intention, Handwerk und Kunst zusammenzubringen, modulares Bauen zunächst für den Industriebau zu entwickeln, dann auch für den Wohnungsbau vor allem in Großstädten, bewahrte GR „menschliche“ Dimensionen, baute das „Häuschen für Otto Normalverbraucher“, Siedlungen für Arbeiter am Sommerweg, auf dem Kupferberg. Jedoch entstanden unter seiner Leitung auch repräsentative Häuser: das Bürgermeisterhaus, die Häusergruppe am Ostring, und auch die Häuser in der Gartenstadt Ost waren vorwiegend für Angehörige Freier Berufe, Lehrer und gehobene Angestellte gedacht.

Reichs Schwerpunkt lag sicherlich auf der Stadtplanung: wie soll Kamen in der Zukunft aussehen? Wie gestalte ich die Stadt, damit sie zum einen sich den neuen technischen Entwicklungen öffnen kann, zum anderen den Kamenern Heimat ist, eine Stadt, die lebenswert ist. Innerhalb dieses Bereichs kümmerte er sich besonders um Wohnen, Freizeit, soziale und Gesundheitspflege, der kulturelle Bereich spiegelte sich in der Gestaltung. Arbeiten und Einkaufen scheinen nur am Rande, vielleicht als Folge anderer Entscheidungen, eine Rolle gespielt zu haben.

28 Jahre lang hat GR das Bild dieser Stadt geprägt. Was ist davon übriggeblieben?

  • Die beiden Gondelteiche sind verschwunden, die sie ersetzenden Parks sind nach Meinung vieler Kamener kein echter Ersatz geworden.
  • Die Mulden zwischen den Kirchen und in der Gartenstadt sind ebenfalls verschwunden. Sie wurden verfüllt, die Mulde zwischen den Kirchen ist halb Kinderspielplatz, halb Parkplatz.
  • Der repräsentative Zugang zur Kastanienallee von der Hammer Straße ist verschwunden: Pavillonbauten, seitliche Mauern, metallener Torbogen.
  • Das Löwendenkmal ist verschwunden, nach Beschädigung durch Bomben im Krieg wurde es 1946 abgerissen.
  • Der Edelkirchenhof ist nach seiner Neugestaltung von hohen, dichten Bäumen bestanden, dunkel, wenig attraktiv.
  • Der Anbau des alten Rathauses ist mitsamt dem Ratskeller verschwunden.
  • Die alte Badeanstalt wurde mehrfach verbessert, steht aber heute auf dem Prüfstand.
  • Die Sportplätze im Hemsack werden demnächst bebaut, die 1000-Meter-Bahn ist seit Jahrzehnten verschwunden. Niemand wußte mehr, wie sie zu verwenden war.
  • Die Arkaden am Schwesterngang sind verschwunden.
  • Das Bürgermeisterhaus war als Privathaus von vornherein in Randlage
  • Haus Heide wurde verkauft

Die vielen großen Veränderungen geschahen besonders in den Jahren 1965 bis 1975, als man allerorten die „autogerechte Stadt“ schaffen wollte, die dann aber die menschlichen Dimensionen einbüßte. Zwar entstand in Kamen die Fußgängerzone, doch zog sie Parkplätze nach sich, man konnte mit dem Auto überall hinfahren. Kamen mutierte damals zur „schnellen Stadt“. Die heutige gute Stube, der alte Markt, war zentraler Parkplatz, von Straßen umrundet. Aus der Not machte man eine Tugend: Kamen wurde die Stadt mit „freiem Parken“. Der große, umfassende Stadtentwurf aber fehlte.

Durch das Verschwinden wesentlicher Anlagen Reichs sind seine Symmetrie und Kreis– bzw. Ellipsensegmente aus dem Stadtbild verschwunden. Kamen hat sich verändert, jede Stadt muß sich verändern. Ob immer zum Besseren, ist durchaus fraglich, sind doch viele Zeugen von Kamens mittelalterlicher Vergangenheit aus dem Stadtbild verschwunden und zu oft durch nichtssagende oder schlechte Architektur ersetzt worden. Weitere alte Gebäude stehen auf der Abrißliste. Der Tag ist wohl nicht mehr fern, da wir die Kamener Altstadt nicht mehr „Altstadt“ nennen können.

 

Luftbild Hemsack Kamen ©Stefan Milk Kämerstraße 45 A 59174 Kamen 02307 12998 0171 5447957 stmilk@aol.com

Abb.39: Der Hemsack 2015, ein letzter Blick. Auch er wird verschwinden.

 

Mein Dank gilt Frau Reinhild Reich für ihre Geduld bei zwei langen Gesprächen über ihren Vater und die Überlassung von Material.

Desgleichen danke ich dem Stadtarchiv Kamen für die Photos, die es mir zur Verfügung gestellt hat, besonders Herrn Jürgen Dupke.

Dank auch an Rüdiger Plümpe und Hans Jürgen Kistner.

Und natürlich an Stefan Milk für die Überlassung des Luftphotos vom Hemsack.

Aspekte des Denkmalschutzes habe ich entnommen: „Zum Denkmalwert der Gartenstadt Ost (Ostring, Hammer Straße/Kastanienallee, Gartenplatz, Hüchtweg)“, von Dr. Fred Kaspar, Westfälisches Amt für Denkmalpflege, Münster 1988

 

Abbildungen:

Familie Reich: Nr. 1,5,13, 32

Stadtarchiv: Nr. 2,3,4,14,16,20,22,24,25,26,27,28,29,30

Archiv Klaus Holzer: Nr. 6,7,8,9,10,11,12,15,19; Photos Nr. 18,21,31,33,34,36,37,38

Rüdiger Plümpe: Nr. 17

Archiv Hans Jürgen Kistner: Nr. 35

Stefan Milk: Nr. 39

KH