von Klaus Holzer
Überall wo Menschen sich bewegen, wo sie siedeln, brauchen sie Orientierung, d.h., sie benennen ihre Umgebung z.B. nach natürlichen und topographischen Gegebenheiten: Hain oder Wald, Bach oder Fluß, Berg oder Tal, Teich oder Weg usw., die zur Unterscheidung, als Orientierungsmerkmale ländlichen Wohnens und Arbeitens dienen. Als der Mensch in der Jungsteinzeit vom Jäger und Sammler zum Siedler, also seßhaft, wurde und anfing, Land zu bearbeiten, konzentrierte sich jeder immer wieder auf dasselbe Stückchen Land, das er bearbeitete und alsbald als „sein“ Land betrachtete. Und er nannte es in Abgrenzung zum Land seiner Nachbarn nach einer Besonderheit, d.h., er gab ihm einen „Namen“, der es vom angrenzenden Land unterscheidbar machte: Landschaftsform, Eigenarten der näheren Umgebung, Lage- und Nutzungsbezeichnungen, Bezug auf sich als Eigentümer oder auf das umgebende Milieu wurden zu geläufigen Mitteln bei der Benennung. Größere Bereiche erhielten ihre Namen oft nach den Himmelsrichtungen: Osten–, Süden–, Westen– und Nordenfeldmark. Und natürlich wurden nicht nur Acker- und sonstige Nutzflächen mit Namen versehen, sondern auch „Weidestücke und Waldstreifen, [ … ] Wege und Wegeränder, [ … ] kultivierte Moorflächen und Heiden, [ … ] Berghänge und Felsformationen, [ … ] Teiche, Bäche und deren Uferflächen“.1
Abb. 1: Kamen in seinen drei Entwicklungsphasen, mit Flurnamen (nach Stoob, Westfälischer Städteatlas, Kamen, 1975)
Flurbezeichnungen stammen aus einer Zeit, die noch keine Schrift kannte, als alles mündlich weitergegeben wurde, aus einer Zeit, in der der Mensch, gerade seßhaft geworden, wenig mobil war, meistens aus seinem Dorf, allenfalls seiner näheren Umgebung, in der Regel nicht hinauskam. Und das bedeutet auch, daß Flurbezeichnungen keine großen Areale bezeichneten, die so eine mindestens regionale Bedeutung haben konnten (und damit eine größere Chance hatten, einen wenig veränderlichen Namen zu erhalten), sondern kleinteilig angelegt waren und sich durch Generationen auch verändern konnten. Immer aber hatten sie ursprünglich „Namen“, die aus den Umständen heraus eine Bedeutung hatten. „Je nach Ordnungskategorie können für einen Gegenstand verschiedene Bezeichnungen anwendbar sein: Ein eingehegter Acker ist ein „Kamp“. Gleichzeitig kann er nach der Nutzung als „Haferland“ bezeichnet werden, nach seiner Größe als „Dreimorgen(-Stück)“, nach seinem Relief als „Horst“, nach seiner Form als fîfhôk (Fünfheck). Alle diese „Flurnamen“ sind richtige Beschreibungen, also nicht Namen, sondern Bezeichnungen.“2 Daß Bezeichnungen sich mit veränderten Bedingungen ändern, liegt auf der Hand.
Systematisiert wurden diese Angaben auf Napoleons Initiative (Wieder einmal! Wie so viel Grundlegendes der Moderne in Deutschland geht auch dieses auf ihn zurück), der das eroberte Land vermessen ließ. Als er endgültig besiegt und vertrieben war, führten die Preußen (Westfalen war seit dem Wiener Kongreß 1815 preußische Provinz) diese Maßnahme fort. Geometer vermaßen flächendeckend das ganze Land, listeten die Grundstücke auf, notierten die Größe der Parzellen, beschrieben die Bodenbeschaffenheit, trugen die Bezeichnungen ein, die die Eigentümer nannten – und sorgten so dafür, daß sich alte, niederdeutsche, Flurbezeichnungen erhalten konnten. Sie geben Auskunft über die alte Welt, aus der sonst keine schriftlichen Aussagen erhalten sind.
Beide, Franzosen und Preußen, hatten gute Gründe für diese doch eigentlich sehr aufwendige Sache, ein ganzes Land zu vermessen: zum einen hatte man auf diese Weise präzise Karten für Wirtschaft, Handel und Verkehr, zum anderen aber auch eine Grundlage für die Besteuerung der Grundeigentümer, deren Namen anfänglich mit eingetragen wurden (was sich als nicht zweckmäßig erwies, weil jede Erbschaft, jeder Verkauf erfaßt werden mußte und ständig neue Karten gezeichnet werden mußten); nicht zuletzt aber hatten diese Karten auch einen militärischen Sinn.
Die heute noch erhaltenen Namen für solche „Flur“ genannten Stücke Land entstammen dem Plattdeutschen, das oft von Dorf zu Dorf seine eigenen Ausprägungen hatte: sogar zwischen Kamen und Methler gab es Unterschiede. Solche Namen, die sich heute noch in Kamener Straßennamen erhalten haben, sind z.B. Mersch, Bredde, Bleiche, Brink, Hemsack u.a.
Abb. 2: Übersicht Fluren Kamen
Diese alten Flurbezeichnungen wurden aufgegeben, als die Industrialisierung im 19. Jh. Deutschland grundlegend veränderte. Agrarland wurde zu Industrieland, Dörfer zu Städten, Städte zu Großstädten (Beispiel Bochum: 1843 hatte Bochum 4282 Einwohner, 1905 schon über 100.000), unbebautes Land wurde zugebaut, Städte vergrößerten sich ins Umland (Beispiel Kamen: die Westenfeldmark, freies, offenes Land, wurde ab 1873 mit dem Einzug des Bergbaus entlang der Lünener Straße dicht bebautes Stadtgebiet) landschaftliche Eigentümlichkeiten veränderten sich bis zum Verschwinden. Man schaue sich nur einmal die vielen Einfamilienhaussiedlungen (Schlafstädte für die nahe Großstadt) um den Kern alter Städte an, die vielen Einkaufszentren, die auf die „grüne Wiese“ gesetzt wurden und die Einkaufsqualität „innenstadtunschädlich“ verbessern sollten, doch entgegen allen gelehrten Gutachten den Tod eben dieser einläuteten (heute durch den Internetbestellhandel zu Ende geführt).
Die Flurnamen verloren ihren Sinn, die Fluren sollten aber aus eigentums-, verwaltungs- und steuerrechtlichen Gründen weiterhin erfaßt werden. 1861 wurde per Gesetz die Bildung eines Katasters vorgeschrieben. Erst ab diesem Zeitpunkt also wurden die Flurbezeichnungen katastermäßig erfaßt. Von nun an wurden die Namen durch Nummern ersetzt, so daß bei Veränderungen die Karten nicht mehr betroffen waren, nicht neu gezeichnet werden mußten, es reichte, z.B. bei einem Besitzerwechsel, die Eintragung im Grundbuch zu verändern.
Abb. 3: Flurstücke Kamen
Abb. 4: Flurstücke Altstadt Kamen
Heute sind diese Flurbezeichnungen in Straßennamen zwar manchmal noch erhalten, aber nicht mehr von praktischer Bedeutung, weil die Landschaft sich sehr stark verändert hat, die städtische Bebauung sich immer weiter in die Außenbezirke hinausgezogen hat, es also z.B. die frühere Randlage (Brink) gar nicht mehr gibt, allenfalls noch in alten Namen erhalten ist, in Dörfern kein Platz mehr für eine Wiese (Anger) freigelassen wurde, oder die tägliche Arbeit sich ganz anders darstellt, man keine Wäsche mehr auf die Bleiche legt, Stadtgräben sind trockengelegt worden und verschwunden (Beispiel Kamen: die noch in den 1960er Jahren vorhandenen Reste des alten Stadtgrabens außerhalb der Ostenmauer an der Ostenallee liegen heute unterirdisch), wo in der Stadt gibt es noch Weiden und Wiesen, den Hemsack gibt es noch, doch ist die Körne im Zuge des Sesekeumbaus in den 1920er Jahren verlegt worden, das Flußdreieck von früher gibt es so nicht mehr (und außerdem steht dort jetzt das Klärwerk). Und natürlich hat das Zusammenlegen früher selbständiger Städte (Elberfeld und Barmen zu Wuppertal, 1929) und Gemeinden (die Kommunalreform NRW Ende der 1960er Jahre: die ehemals selbständigen Gemeinden Derne, Heeren-Werve, Methler, Rottum und Südkamen sind heute Kamener Stadtteile) ebenfalls diese Wirkung. Kurz, wenn es heute noch Flurnamen in Straßennamen gibt, ist das in der Regel eine Reminiszenz an frühere Verhältnisse, die nur noch dem an der Ortsgeschichte Interessierten etwas bedeuten.
Und Platt sprechen heute nur noch wenige Menschen, die Bedeutung unserer Flurnamen ist uns nicht mehr geläufig. Daher wird hier der Versuch unternommen, die Bedeutung wenigstens einiger dieser Namen zu erklären.
Dank an Herrn Eckard Pischel für seine Angaben zu Katastern.
Glossar: Flur (die) – offenes, unbewaldetes Kulturland, in Parzellen eingeteilte landwirtschaftliche Nutzfläche
Gewann (das) – abgegrenztes Teilstück einer Flur
Allmende (die) – auch: die gemeine Mark, Gemeinheit; Areal, das allen Dorfbewohnern zur gemeinsamen Nutzung zur Verfügung stand
Gemarkung (die) – Gebiet, gesamte Fläche einer Gemeinde; Gemeindeflur
Feldmark (die) – Fläche aller zu einer Gemarkung (also einer Gemeinde oder einem Landgut) gehörenden unbebauten Grundstücke (Ackerland, Wiesen, Weiden, Waldungen usw.)
1 Gunter Müller, Westfälischer Flurnamenatlas; Lieferung 1-5; Im Auftrag der Kommission für Mundart- und Namenforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte. Alle fünf Bände sind im Stadtarchiv Kamen vorhanden; zur wissenschaftlichen Vertiefung geeignet.
2 Gehölz, Baumgruppe
3 Leopold Schütte, Wörter und Sachen aus Westfalen, 800 bis 1800, zweite überarbeitete und erweiterte Auflage, Duisburg 2014
4 Karl Kühnapfel, Sau hätt se kürt in Kamen und drümmrümm, Kamen 1997, 2. Aufl. zusammengestellt von Wilfrid Loos
5 Weitere Werke, die Grundlage dieses Artikels sind: Hugo Craemer, Alt-Kamen im Lichte seiner Orts- und Flurnamen. aus: Zechenzeitung, 1929, Jgg. 3-7 & 8;
Ferdinand Brandenburg, Die Kamener Flurnamen, Westfälischer Anzeiger, fünf Folgen zwischen Anf. Feb. und Anf. April 1944
KH