Pest und Corona in Kamen

von Klaus Holzer

Abb. 1. Kamens Fußgängerzone in Coronazeiten 

Seit fast einem Jahr leiden wir unter Corona, einer Pandemie, die 2018/19 in China ihren Anfang nahm, viel zu weit weg, als daß sie uns hätte berühren können, wie wir damals glaubten. Doch dann erwischte sie uns mit aller Macht und legte alles Leben, so wie wir es kannten, monatelang lahm. Die Pandemie zu bestehen, gar zu überwinden, hilft uns die Wissenschaft, die Naturwissenschaft vor allem. Ihr ist es gelungen, das Virus, seine Wirkung und seine Verbreitung, zu entschlüsseln, es weitgehend zu verstehen. Sie hat sogar inzwischen ein Gegenmittel, einen Impfstoff, entwickelt, der verspricht, die Seuche zu überwinden. 

Abb. 2 & 3: Im MA noch unbekannt: Die Verbreiter der Pest, die Ratte und der Floh

Damit sind wir in einer vergleichsweise glücklichen Position gegenüber unseren mittelalterlichen Vorfahren. Sie standen der Seuche ihrer Zeit, der Pest, hilflos gegenüber. Sie nannten sie „Pestilenz“ und den „Schwarzen Tod“. 

Abb. 4: Der schwarze Tod

Mangels naturwissenschaftlicher Kenntnisse nahmen sie an, Gott habe die Seuche geschickt, um den Menschen für sein sündiges Verhalten zu bestrafen. Daher lag denn auch die einzige Möglichkeit der Heilung in verschiedenen Arten von Buße, um Gott wieder versöhnlich zu stimmen: man ließ Messen lesen, sammelte Almosen, führte Prozessionen und mehrtägige Altargänge durch und hielt strenges Fasten ein. 

Abb. 5: Die Geißler

Schwärme von Geißlern zogen überall durch die Straßen und schlugen sich mit ihren Geißeln blutig, die härteste Buße. Die meisten dieser Maßnahmen führten jedoch zu einer weiteren Verbreitung der Pest, weil fast immer große Gruppen von Menschen zu dieser Art von Buße zusammenkamen. Und die hygienischen Verhältnisse im allgemeinen waren katastrophal.

Abb. 6: Juden als Sündenböcke

Eine weitere Art, diese Seuche zu bekämpfen, bestand darin, einen Sündenbock zu suchen. Nach einem Pestausbruch entstand sehr schnell das Gerücht, die Juden seien schuld. Sie hätten die Brunnen vergiftet, um alle Christen zu ermorden, Kinder rituell geschlachtet und deren Blut getrunken und, vor allem, sie seien für den Tod Jesu verantwortlich. Befeuert wurden die folgenden  Pogrome durch die Tatsache, daß die jüdischen Gemeinden von der Pest nur relativ wenig betroffen waren. Daß das an der wesentlich besseren Hygiene der Juden lag, ahnte man nicht.

Die erste große Pestwelle in Westeuropa begann 1347 in Genua, aus Asien eingeschleppt von genuesischen Händlern und Seeleuten, umgehend nach Marseille und Barcelona weitergetragen. Bis 1352 erreichte sie fast ganz Europa (Corona reist heute nicht per Segelschiff, sondern mit dem Flugzeug und ist entsprechend schneller. Obendrein haben wir heute eine digitale Informationsverbreitung, die uns das Weltgeschehen in Echtzeit miterleben läßt). Sie hatte eine verheerende Wirkung und rottete mancherorts bis zur Hälfte der Menschen aus, im Durchschnitt wohl etwa 40% der europäischen Bevölkerung. 

Abb. 7: Die Pest entvölkert ganze Landstriche

Immerhin kam man in Venedig schon 1374 zu der Einsicht, daß man die Erkrankten isolieren müsse, wenn auch sowieso niemand den Kontakt mit ihnen suchte (Venedig war auch die erste Stadt, die 1423 ein Pestkrankenhaus einrichtete). Es wurde eine Meldepflicht eingeführt, die Erkrankten isoliert. In der Regel dauerte diese Isolation 40 Tage1, auf italienisch „quaranta“, bald danach griffen die Franzosen diese Idee auf und nannten sie „quarantaine“, woher unser heute gebräuchliches Wort Quarantäne stammt. Die Toten wurden so schnell wie möglich in Massengräbern beerdigt. Die Situation war schlimm, doch wird der mittelalterliche Mensch auf den Schwarzen Tod mit mehr Gelassenheit reagiert haben, als wir uns das heute vorstellen können, gab es doch so viele Gründe für einen frühen Tod, von der hohen Kindersterblichkeit bis zu vielen Krankheiten, Mangelernährung, den häufigen Unfällen, oft schlechter, weil eintöniger Ernährung, meist Getreidebrei, mangelhafter medizinischer Versorgung, der soziale Stand und Krieg waren alltägliche Risiken. Die meisten Menschen erreichten nicht 50 Lebensjahre. Außer Aderlaß und Astrologie gab es kaum etwas, das den Ärzten zur Verfügung stand. Sie wußten es einfach nicht besser.

Abb. 8: Der Pestarzt schützte sich mit dieser speziellen Maske, die mit Essig getränkt und mit Kräutern gefüllt war

Die Pest breitete sich in fast ganz Europa aus, auch Kamen blieb nicht von ihr verschont. Wir wissen nicht, ob sie unsere Stadt noch im 14. Jh. erreichte. Lt. dem ersten Stadtchronisten Friedrich Buschmann dauerte es ungefähr 230 Jahre, bis sie Kamen heimsuchte, dann aber heftig. 

Bis zur Mitte des 15. Jh. war Kamen eine wohlhabende und mächtige Stadt, für damalige Verhältnisse bevölkerungsreich, etwa 1500 – 1600 Einwohner. Sie genoß Privilegien, die die Grafen von der Mark ihr eingeräumt hatten und pflegte gute Beziehungen zur Hanse, nach Lübeck vor allem, wo Kamener Kaufleute wichtige Händler waren und einige es sogar in den lübischen Senat schafften. Kamen war, nach Hamm, die zweitwichtigste Stadt in der Grafschaft. Wöllner und Weber schufen Reichtum, weil sie ihre Tuche über die Hanse auf dem Weltmarkt anboten, schon früh die Globalisierung des Handels nutzten und vorantrieben.

Die glänzenden Aussichten wurden jäh zunichte gemacht, als 1580 zum ersten Mal die Pest hier ausbrach. Es ist nicht bekannt, wie viele Leben sie forderte, es ist keine Chronik, kein Kirchenbuch auf uns gekommen, das Genaueres festgehalten hätte. Das älteste noch vorhandene Kamener Kirchenbuch beginnt 1620, aus dem wir freilich das Grauen der folgenden Jahre erfahren.

Abb. 9: Marodierende Soldaten im Dreißigjährigen Krieg

1624 begann der Dreißgjährige Krieg, unter dem Kamen entsetzlich leiden sollte. Es gab Durchmärsche, Einquartierungen, es waren Kontributionen zu entrichten, Plünderungen zu erleiden, kurz, Kamen verarmte. Und als wäre der Krieg nicht schon genug der Last gewesen, brach im Jahre des Kriegsbeginns die Pest aus und forderte 267 Tote. Und das bei einer Bevölkerung von etwa 1600 Personen! Innerhalb eines Jahres starb an der ersten Pestwelle also etwa ein Sechstel der hiesigen Bevölkerung! 1625 starben weitere 209, 1626 noch einmal 115 Einwohner. Das bedeutet, daß Kamens Bevölkerungszahl von ca. 1600 auf ca. 1000 zusammenschmolz, über ein Drittel aller Kamener starb in nur drei Jahren an der Pest!

Abb. 10: Beerdigung von Pestopfern

Und 1636 erfolgte ein weiterer Ausbruch, der weitere 213 Leben forderte. Buschmann berichtet 1841, daß am Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) „die Einwohnerzahl der Stadt auf die Hälfte zusammengeschmolzen“ war. 1673 starben in Kamen und im Kirchspiel noch einmal 400 Menschen. Solchen Verlust kann keine Geburtenrate ausgleichen, die im 17. Jh. in Kamen im Durchschnitt 60 betrug (so der zweite Stadtchronist Friedrich Pröbsting). Noch 1722 hatte Kamen mit 1.413 Einwohnern nicht wieder die Zahl von vor 1624 erreicht. Erst 1816 sind es mit 1.941 Einwohnern deutlich mehr. Die Auswirkungen der Pest auf die Demographie, und damit die Wirtschaft, waren enorm.

Kein Wunder, daß Kamen seine starke wirtschaftliche Stellung in der Grafschaft Mark nicht länger behaupten konnte, nachdem es schon 1492 auf den dritten Platz hinter Unna abgerutscht war. Jetzt ging es weiter bergab, bis ins Mittelfeld, doch blieb die Stadt mit ihrer Bevölkerungszahl immer noch weit vor z.B. Bochum (!). Knapp gesagt: Kamen war verarmt. „So fand sich denn am Schlusse jenes grauenvollen 30jährigen Krieges die hiesige Stadt fast aller ihrer Besitzungen beraubt und mit Schulden belastet, und die gesamte Bürgerschaft war allmählig verarmt.“ (Buschmann) Die Stadt mußte den größten Teil ihres Grundbesitzes notverkaufen, „ganze Reihen von Häusern [waren] ohne Bewohner, die entlegenen Ackergründe [blieben] culturlos liegen, und große Flächen Ackerland in der Reck-Camenschen Gemeinheit bewaldeten“ (Buschmann). 

Abb. 11: Das Siechenhaus vor Dassow in Mecklenburg-Vorpommern

Immerhin, schließt Buschmann, gab es in der Gemeinde Overberge einen kleinen Kirchenkotten, Siechenhaus genannt, der, von der evangelischen Kirche unterhalten, für die Aufnahme von Kranken bereitstand und wohl aus der Pestzeit stammte. Man kümmerte sich trotz der immer bewußten Risiken um seine Pestkranken, wenn auch, weise, weit außerhalb der städtischen Bebauung.

Abb. 12: Aus der mittelalterlichen Seuchenerfahrung griff das Barock das clunianzensische memento mori wieder auf

Abb. 13: Ein besonders schönes Beispiel des memento mori: der freundlich lächelnde, ekstatisch tanzende, äußerst lebendige Tod

Und zu all diesem Unglück aus Pest und Krieg kamen damals immer noch verheerende Stadtbrände. Zwischen 1250 und 1712 brannte Kamen elf Mal. An Pfingsten 1452 blieben nur die Kirche, das Rathaus und 20 Häuser stehen, alles andere brannte nieder. Und Heilung und Rettung suchten die Menschen in der Buße. Allerdings gibt es auch heute noch religiöse Gemeinschaften, die der Medizin mißtrauen und Gebete für das einzige Gegenmittel halten. Und wenn sie nicht helfen sollten, nun, dann hat Gott anderes mit einem vorgehabt.

Ein Blick in Kamens Historie relativiert unser Leid vielleicht doch etwas.

1 Die Dauer von 40 Tagen bestimmt sich wohl aus der Bibel: Jesu Versuchung; die Sintflut; Noah; Auszug des Volkes Israel aus Ägypten; Moses auf dem Berg Sinai; die Fastenzeit; die Zeit zwischen Auferstehung und Himmelfahrt: immer handelt es sich um einen Zeitraum von 40 Tagen, der Gelegenheit zu Buße und Besinnung gibt, Wende und Neubeginn ermöglichen soll. 

KH

Abb. 1: Photo Klaus Holzer

Abb. 2: planet wissen (Wikipedia)

Abb. 3: planet wissen (Wikipedia)

Abb. 4: Arnold Böcklin, Die Pest, 1898, Kunstmuseum Basel (Wikipedia)

Abb. 5: Carl von Marr, Die Flagellanten, 1889, Museum of Wisconsin Art (Wikipedia)

Abb. 6: Chronik von Gilles Li Muisis, Darstellung der Geißlerzüge, um 1350, Bibliothèque royale de Belgique (Wikipedia)

Abb. 7: Chronik von Gilles Li Muisis, Scène de la peste de  1720 à la Tourette (Marseille) 1720 (Wikipedia)

Abb. 8: Paul Fürst, Der Doctor Schnabel von Rom, 1656 (Wikipedia)

Abb. 9: Sebastian Vranckx, Marodierende Soldaten, 1647 Deutsches Historisches Museum Berlin, (Wikipedia)

Abb. 10: Chronik von Gilles Li Muisis, Beerdigung der Pestopfer in Tournai, um 1350, Bibliothèque royale de Belgique

Abb. 11: Autor unbekannt, Siechenhaus von Dassow, Mecklenburg-Vorpommern, (Wikipedia)

Abb. 12: Autor unbekannt, Pesttafel mit dem Triumph des Todes, Deutsches Historisches Museum Berlin (Wikipedia)

Abb. 13: Hans Leinberger zugeschrieben, 1596, auf Schloß Ambras, Österreich (Wikipedia)