von Klaus Holzer
Am Kirchplatz stoßen diese beiden Straßen zusammen, und auf den ersten Blick ist erkennbar, was für einen Hintergrund diese Namengebung hat. Schwestern und Kloster – hier hat mal eines gestanden. Auch wenn das vielleicht gar nicht so klar ist, wie es den Anschein hat, denn eigentlich war es ein Beghinenhaus, aus dem später ein Kloster wurde. Für die Kamener war es immer das „Kloster“. Und so ist die Geschichte dieser beiden Straßennamen auch die Geschichte des „Klosters“.
Gegenüber der Pauluskirche, die ja vorreformatorisch einfach eine christliche Kirche, St. Severin, war, wurde schon zu Beginn des 15. Jh. ein Frauenkonvent1 gegründet, und zwar ursprünglich als ein Beghinenhaus. Dieser Konvent war kein Nonnenkloster, da die Frauen nicht in Klausur lebten, sondern einer außerhäuslichen Tätigkeit nachgingen. In städtischen Dokumenten ist von dem „Süsterhaus“ (= Schwesternhaus) auf der Vlotowe, Vlotauwe oder Marienove (Flußaue bzw. Marienaue) die Rede, d.h., das Haus lag nahe dem Flußufer. Es wird in einer Urkunde vom 14. Oktober 1411 zum ersten Mal erwähnt. Das waren „Jungfrauen und Witwen“ aus der Bürgerschaft Kamens, d.h., sie entstammten Kamener Bürger- und Burgmannenfamilien und wollten ein christliches Leben leben, jedoch ohne Klostergelübde. Sie legten ein Gelübde auf Zeit ab, das wohl jedes Jahr erneuert wurde. Es war ihnen gestattet, aus der Gemeinschaft wieder auszuscheiden und sich ein bürgerliches Leben aufzubauen.
Abb. 1: Die Pauluskirche, vom Schwesterngang aus gesehen (die Arkaden wurden um 1930 gebaut und in den 1960er Jahren abgerissen)
Die Bewegung der Beghinen stammt vom Beginn des 12. Jh. (der Name wird erst ab dem 15. Jh. von ihnen selbst gebraucht, sonst „Schwestern/Brüder/Brüdergemeinden“, „Waldenser“) in den Niederlanden, heute Belgien und Holland, und kam im Laufe des späten 13. Jh. nach Deutschland. Ursprünglich handelte es sich um religiöse Arbeits- und Lebensgemeinschaften, Brüder- (die nannten sich Begharden) und Schwesternhäuser, in denen arme und alte Personen unentgeltlich Wohnung, Heizung und Licht erhielten. Sie widmeten sich dem Gebet, aber auch der tätigen Nächstenliebe. Diese Stifte hatten große Ähnlichkeit mit den heutigen evangelischen Frauenstiften/Diakonissenhäusern.
Beghinenhäuser nahmen vor allem Witwen, Waisen, Frauen aus Arbeiter-, Handwerker- oder einfacheren Kaufmannsfamilien und dem niederen Adel auf. Soweit sie konnten, verdienten Beghinen sich ihren Lebensunterhalt durch alle möglichen Handarbeiten, Krankenpflege, Leichenwäsche und sonstige Tätigkeiten wie Waschen und Nähen. Sie übernahmen mit ihrer karitativen Tätigkeit Aufgaben – den Sozialstaat gab es noch nicht –, die sonst Klöster und die Kirche ausübten, ihnen fehlte aber der klösterliche Charakter und daher standen ihnen auch nicht deren Immunitätsprivilegien zu, d.h. ohne den Schutz, den die Kirche Klöstern gewährte.
Sie konnten aus dem Konvent wieder austreten und z.B. heiraten, während „richtige“ Nonnen „mit Jesus verheiratet“ waren, und das ein Leben lang, durch ein „ewiges Gelübde“ gebunden. Wirtschaftlich wurden die Beghinen sehr erfolgreich, was oft auf den Unwillen und Widerstand der örtlichen Handwerker traf, denen eine echte Konkurrenz erwuchs. Der Erfolg machte auch selbständig und selbstbewußt, was zusätzlich den Neid anderer erweckte. Und was machte man um diese Zeit in einer solchen Situation? Man warf diesen Frauen einen ketzerischen und unmoralischen Lebenswandel vor, vor allem, weil sie sich organisatorisch nicht von der römischen Kirche abhängig machten. Auf dem Vierten Laterankonzil 1215 wurde festgelegt, daß neue geistliche Gemeinschaften grundsätzlich nur nach bereits bestehenden Ordensregeln leben durften.
Seit 1311 erfolgten Maßnahmen, die man als Unterdrückung, aber auch als seelsorgerisches Verhalten verstehen konnte, war doch auch ein Motiv päpstlichen Handelns, diese Gemeinschaften nicht in Häresie2 abgleiten zu lassen. Am 7. März 1319 erließ Papst Johannes XXII. eine Bulle, die denen, die die 3. Regel des Hl. Franziskus annehmen wollten, Gnade zusicherte.
Am 12. Februar 1453 wurden alle damals noch bestehenden Konvente wieder in die Kirche aufgenommen und ihnen die Rechte der Tertiarierinnen3 verliehen. Es war Kunne Hake, Oberin des Hauses in Kamen, die am 22. 9. 1470 (andere Quellen nennen den 4. Oktober 1470) die dritte Regel annahm, die für Laien galt, (die erste galt den Klosterbrüdern, den Mönchen, ursprünglich nach Franz von Assisi Minoriten genannt, die ihr Leben Gott weihten; die zweite den Nonnen, die „mit Christus verheiratet“ waren), wodurch das Beghinenhaus in ein Tertiarierinnenkloster umgewandelt wurde. Insgesamt gewannen durch diesen Akt Frauen– und Laienfrömmigkeit an Gewicht.
Daraufhin erhielten sie den Schutz von Johann I., Herzog von Kleve und Graf von der Mark (seit 1417 gehörte Kamen zu Kleve, Mark und Kleve gehörten schon seit 1391 zusammen), der sie gleichzeitig von Steuern und Landesdiensten befreite. Die Beghinen konnten im großen und ganzen so weitermachen, ihr weltliches mit einem religiösen Leben verbinden, mußten aber städtische Auflagen akzeptieren. Offenkundig waren bei dieser Angelegenheit wirtschaftliche Aspekte entscheidend. Z.B. wurde die Zahl der Schwestern auf 12 begrenzt, von denen 6 aus Kamen stammen mußten; behielt die Stadt die Hälfte des Vermögens, das jede neue Schwester ins Stift einbrachte, für sich ein, übernahm aber dafür die bauliche Unterhaltung des Klostergebäudes; verlangte Anteile an den Pfründen des Konvents; erlaubte später nur noch die Aufnahme von Kamener Frauen in den Konvent und bekam Mitspracherecht darüber eingeräumt wie auch bei der dauerhaften Aufnahme nach dem Noviziat4. So wurde der Konvent klein und unbedeutend gehalten. Bei allen Konflikten zwischen Stadt und Konvent setzte sich die Stadt durch.
Abb. 2: Katharina von der Mark
Bürgermeister und Rat der Stadt Kamen hatten auf Wunsch des Landesherrn 1473 die Einrichtung des Klosters „zur Ehre Gottes, aller Heiligen und besonders des hl. Franzikus und zum Schutze der Stadt“ genehmigt.
Seit 1470 wohnte Katharina, eine natürliche (= uneheliche) Schwester Herzogs Johann I. im Beghinenhaus. Sie besaß ein beträchtliches Vermögen, das sie für den Bau eines neuen Klosterhauses und einer Kapelle stiftete. Am 22.11.1475 wurde dieses Kirchlein feierlich eingeweiht. Dazu schreibt der Kamener Stadtchronist Friedrich Pröbsting: „Gott in seiner Mutter unter dem Geheimnis des Mitleidens in ihrer Seele zu ehren.“ Natürlich war wieder Anröchter Sandstein das Baumaterial. 1479 bekamen die Schwestern einen eigenen Geistlichen, ab 1481 erhielten sie ihren eigenen Kirchhof. Statt des eigenen Geistlichen, der ja auch hätte unterhalten werden müssen, ließen die Schwestern die geistlichen Handlungen jedoch durch einen der vielen Kamener Vikare vornehmen, bis 1622 im reformierten Kamen der letzte katholische Vikar an der Pest starb. Danach wurde das Stift vom Franziskanerkloster in Hamm geistlich betreut. Die Conventualinnen sahen sich „genöthigt, zur Besorgung ihrer geistlichen Bedürfnisse jedesmal, in der dritten und vierten Woche, einen Geistlichen aus dem Franciscanerkloster zu Hamm, welches dafür jährlich ein kleines Geschenk an Korn erhielt, kommen zu lassen“. (Essellen)
Abb. 3: Lageplan des Klosters (Erläuterungen am Ende)
Eine besonders schwere Zeit hatte das Stift in der Zeit der Reformation zu bestehen, da fast alle Kamener Bürger sich nach 1553 dem lutherischen, ab etwa 1590 dem Reformierten Glauben zuwandten. So wurde der kleine Konvent zu einer „katholischen Insel inmitten eines protestantischen Meeres“ (Pröbsting). Die St. Severinskirche wurde protestantisch, die kleine Konventskirche zur einzigen katholischen Kirche.
Es kam zu einer Reihe weiterer, auch gerichtlicher Auseinandersetzungen zwischen Stadt und Konvent, Kamener Bürger belegten die Pfründen des Konvents und zahlten keine Pacht mehr an ihn. Doch der Konvent hielt durch. Später wurde sein Kirchlein katholische Pfarrkirche, der Konvent selber zur Keimzelle der heutigen katholischen Kirchengemeinde.
Das Ende begann 1803. Das Kloster (so wurde das Stift nun allgemein genannt) wurde am 4.7.1818 endgültig geschlossen, nachdem nach dem Reichsdeputationshauptschluß vom 25.2.1803 beim Reichtstag in Regensburg durch Säkularisation4 (das war die letzte große Entscheidung durch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation) alle Kloster- und Kirchenvermögen durch den preußischen Staat eingezogen worden waren, man noch die Drangsalierung durch die französischen Besatzungstruppen (Napoleon) überstanden hatte. Teile Deutschlands wurden nach den napoleonischen Kriegen zunächst französisch, damit deutsches Territorium enteignet. Als Entschädigung dafür bekamen die deutschen Fürsten, deren Territorien beschnitten worden waren, Kompensation aus Kloster- und Kirchenvermögen. Auch das Kamener Kloster wurde enteignet, alle Landgüter konfisziert. Die Gebäude wurden von der neu etablierten katholischen Kirchengemeinde6 übernommen. Buschmann schreibt hierzu: „Des Königs Majestät geruhte allergnädigst, der neuen Gemeinde das sämmtliche noch vorhandene Klostergut, bestehend in den Gebäuden, dem Klostergarten, 2 anderen Gärten, einem Weidekamp, 161 Scheffeln Ackerland, 20 Morgen Waldung, 13 Thlrn. jährlicher Renten und 460 Thlrn. in Kapitalien, worauf im Ganzen an Schulden 330 Thlr. lasteten, zu schenken.“ Das reine Vermögen wurde auf „13415 Thaler und 55 Stüber“ (Pröbsting) taxiert.
Das Klosterkirchlein wurde 1841 wegen Baufälligkeit geschlossen, sein Nachfolger erst am Weihnachtstage 1848 mit einem feierlichen Gottesdienst geweiht. Doch war ihm kein langes Leben beschieden. Erste Bauschäden zeigten sich schon während des Baus, bald entstanden Risse in den Mauern, und durch den Bergbau wuchs die katholische Gemeinde unaufhörlich. Nachdem 1902 die neue, große Kirche Hl. Familie konsekriert worden war, dämmerte das Klosterkirchlein noch ein paar Jahre vor sich hin, wurde 1907 abgerissen.
Abb. 4: Die Pfarrkirche von Osten: das Klosterkirchlein von 1848
Und daher erinnern heute nur noch die Namen dieser beiden Straßen an die jahrhundertelange Geschichte des Kamener Klosters.
Abb. 5: Straßenschild Schwestergang
PS: Am 11. Mai 2017 berichtete der HA, daß dem Straßenschild „Schwesterngang“ ein „n“ fehlt. Seit vielen Jahren gehen wir also an diesem Schild vorbei und bemerken diesen Rechtschreibfehler nicht. Wir lesen meistens, was wir lesen wollen. Erst ein 15-jähriges Mädchen (aber auch nur eins!) schaut genau hin und sieht die Bescherung.
Doch schon Mitte Juli ist das Mißgeschick behoben.
KH
Fußnoten:
1 In der katholischen Kirche ist ein Konvent die Versammlung aller stimmberechtigten Mitglieder eines Klosters oder die Bezeichnung für das Kloster selbst.
2 Ketzerei
3 aus lat. tertius, a, um = der, die, das dritte
4 aus lat. novicius = Neuling, d.h., die Zeit, in der ein Neuling in das Klosterleben eingeführt wurde
5 Die Überführung kirchlichen Besitzes in weltliche Hände.
6 Dieser neu formierte Pfarrsprengel (auch Kirchspiel oder Kirchsprengel: der Bezirk, in dem eine Kirche und ihr Pfarrer zuständig war) bestand aus der „Stadt Camen, sowie den Gemeinden Heeren, Ostheeren, Werve, Alten-, Lütgen- und Nordbögge, Lerche mit Reck, Rottum, Derne, Overberge, Bergcamen, Wedinghofen mit Tödinghausen (sic), Metheler, Altenmetheler, Westick, Wassercourl und Südcamen. Die Gemeinde soll jetzt 800 Seelen zählen“. (Buschmann)
Erläuterungen zu Abb. 3:
Lageplan des Klosters:
a. Die Einfahrt im Kloster Hofe b. Der Hof c. Ein Brunnen
d. Der Garten e. Ein Wasser-Graben f. Wege
g. Zwey Abfoh(laege), wo in einen ein Abtritt befindlich
h. Das Pater-Haus i. Die Kirche k. Verbindung der Kirche mit
l. des Kloster Gebäudes m. Das Bau-Haus n. Das Oeconomie-Gebäude
Letztere beÿde Gebäude sind verkauft
Quellen:
Friedrich Buschmann, Geschichte der Stadt Camen, o.O. 1841
Moritz Friedrich Essellen, Beschreibung und kurze Geschichte des Kreises Hamm und der einzelnen Ortschaften in demselben, Hamm 1851 (S.102 – 124: Die Stadt Camen)
Friedrich Pröbsting, Geschichte der Stadt Camen und der Kirchspielsgemeinden von Camen, Hamm 1901
Theo Simon und Franik, Leonhard, Die Pfarrkirche „Heilige Familie in Kamen“, Paderborn 2002
Wilhelm Zuhorn, Geschichte des Klosters und der katholischen Gemeinde zu Camen (Kamen 1902).
Abbildungen:
Abb. 0 & 5: Photo Klaus Holzer; Abb. 1, 2 & 4: Stadtarchiv; Abb. 3: Simon/Franik