von Klaus Holzer
Abb. 1: Straßenschild
Abb. 2: Straßenschild
Die Wohnsiedlungen Gartenplatz I & II liegen nordöstlich der Stadtmauer auf einem Gelände, das einmal „Auf den Geistgärten“ bzw., das Stück direkt neben der Chaussee nach Hamm, „An den Geistgärten“ hieß und noch zu Beginn des 20. Jh. der Familie von Mulert gehörte. Der Bestandteil „Geist“ des Namens verweist auf das erste Armen– und Siechenhaus Kamens, vor 1359 gegründet und jahrhundertelang das einzige in unserer Stadt (vgl.a. Artikel „Am Geist“). Sein Besitz wuchs und wuchs, weil nicht wenige Kamener Bürger bei ihrem Tode ein gottgefälliges Werk tun wollten und dem Hospital ein Stück Land oder eine Rente, d.h., eine Stiftung von Geld überschrieben. Das ermöglichte es dem Hospital, seine laufenden Kosten zu bestreiten, und in den Gärten zog man natürlich auch Gemüse, das den täglichen Küchenbedarf deckte.
Die letzte Erinnerung an das Heilig-Geist-Hospital in Kamen ist die kleine Straße „Am Geist“, wo das Hospital einmal zwischen Nord– und Oststraße stand. Der letzte Bau wurde in den 1930er Jahren wegen Baufälligkeit abgerissen.
Die früheren Geistgärten umfaßten etwa das Areal zwischen Hammer und Friedhofstraße.
Abb. 3: Grabsteine der Fam. von Mulert
Der letzte Baron von Mulert verspielte und vertrank jedoch seinen Familienbesitz. Die Familie verarmte und mußte Haus und Ländereien veräußern. So kam die Stadt Kamen in den Besitz des von Mulertschen Hauses am Markt und des Geländes im Osten der Stadt. Sie gab den zwei Schwestern von Mulert dafür eine Leibrente, d.h., eine Rente bis an ihr Lebensende.
Nachdem Bürgermeister Berensmann aus Laasphe den Baurat Reich (vgl. a. Artikel Gustav Reich) nach Kamen geholt hatte, baute der ganz Kamen um: er schuf den Gondelteich und den Postteich, ließ die Koppelstraße anlegen und verwirklichte in Kamen die noch gar nicht so alte Gartenstadt–Idee des Engländers Ebenezer Howard, die dieser 1898 vorgestellt hatte. In seinem Buch
„To-Morrow: A Peaceful Path to Real Reform“ veröffentlichte er das Modell einer Gartenstadt. Sie sollte die Trennung zwischen Stadt und Land aufheben und die Vorzüge beider in einem verwirklichen.
„Hinaus ins Grüne“ war seit der industriellen Revolution der Wunsch vieler Menschen, vor allem von Großstädtern. Das „Grüne“ verhieß Naturnähe, Ruhe, Entspannung, Gesundheit, Frieden und Harmonie. Das konnten sich aber nur die Reichen leisten. Howards sozialreformerische Idee war es, auch dem Arbeiter Wohnen im Grünen zu ermöglichen und ihm ein Stück Land zu Selberbearbeiten zu geben. Dazu ersann er seine „Gartenstadt“.
Abb. 4: Three Magnets
Howard vergleicht Stadt und Land mit zwei Magneten, die ein Stück Eisen, den Wohnung und Beschäftigung suchenden Menschen anziehen. Diesen stellt er einen stärkeren gegenüber, die Land- und Gartenstadt, die die Vorzüge von Stadt und Land vereinigen soll, ohne ihre Nachteile.
Schon 1864 hatte es in Deutschland ähnliche Gedanken gegeben, als in Dresden die ersten sog. Schrebergärten gegründet wurden. Doch blieben diese Kleingärten ohne Einbettung in die Stadtkonzeption, meistens in die Randlage der großen Städte abgeschoben, oft direkt neben Bahngleisen.
Howard hingegen entwickelte eine neue Idee von Stadt. Seine Gartenstadt sollte eine eigenständige Stadt im Grünen werden. Da es in Deutschland, anders als in England, bereits eine Fülle von kleinen und mittleren Städten gab, wurde dieses ursprüngliche Konzept hier 1907 dahingehend abgewandelt, daß man den bestehenden Städten Gartenvorstädte, Wohnsiedlungen oder Industriekolonien angliederte oder sie im Sinne der Gartenstadtidee ausweitete.
Die beiden Wohnsiedlungen Gartenplatz I und II im Osten Kamens stellen einen Höhepunkt in Reichs Wirken dar, als Vorstadt ausschließlich für Wohnzwecke mit Gartenstadtcharakter errichtet. Daher baute er nah am Stadtzentrum, aber mit genügend Platz für Grünflächen. Die Häuser wurden karréeförmig gruppiert.
Abb. 5: Reichs Mulde
In jede der beiden Siedlungen fügte er einen zentralen Platz ein, als Mulde ausgelegt, mit einem Springbrunnen in der Mitte, wie auf dem Platz zwischen den beiden großen Kirchen „zur Erhöhung nach oben“, hier auf Profanbauten bezogen. Die Muldenhänge wurden natürlich von allen dort wohnenden Kindern gleich beim ersten Schnee als kleine Rodelhänge benutzt. Plätze waren für Reich konstitutives Element von Stadt, Versammlungsorte, Orte der Gemeinschaft. Und natürlich ließ er ausreichend Platz für Gärten. Zwischen ihnen führt eine mit Kastanien bepflanzte Allee hindurch, die den ländlichen Charakter unterstützt und die den Anwohnern im Herbst viel Arbeit macht, ohne die sie aber in einem Hohlraum wohnten.
Abb. 6: Kastanienallee
Wie detailversessen Reich war, zeigt sich an den Einzelheiten: Einzelhäuser immer giebelständig, Doppelhäuser traufenständig; Anordnung der Gauben nach festen Regeln; Dachgestaltung; symmetrische Fassadengestaltung; Fenstergestaltung; Freisitze; einheitliches Baumaterial.
Was an der Planung der Gartenstadt auffällt, ist die Modernität auch in unserem heutigen Sinne, und das vor 80/90 Jahren. Das war die Zeit, als Kohle und Stahl die wichtigsten Wirtschaftsträger waren, die die mit Abstand meisten Arbeitsplätze boten. Doch war die Arbeit anstrengend und schmutzig, die Luft durch Kohlekraftwerke, Verkokung und Stahlherstellung verpestet. Filter, die Kraftwerksabgase reinigten, für uns heute selbstverständlich, gab es nicht. Urlaub an der See, in den Bergen, war für die Arbeiter an der Ruhr unerschwinglich. Erholung konnte es also nur in der unmittelbaren Nähe, zu Hause, geben. Grün in der Stadt war überlebenswichtig, und die beiden Gartenstädte verfügen über viel Grün.
Waren die Häuser in der Kamener Gartenstadt schon bei ihrer Errichtung eher für Beamte und „höhere Angestellte“ gedacht als für Arbeiter, sind sie heute sicherlich eine bevorzugte Wohnlage. Es wohnt sich hier immer noch stadtnah, ruhig und grün.
KH
Abbildungen: Abb. 1-3: Photos Klaus Holzer; Abb. 4: 100 Jahre Leben in der Gartenstadt, Gartenstadt Nürnberg e.V., Nürnberg 2008; Abb. 5 & 6: Stadtarchiv Kamen