Es gibt Leute, die meinen, daß es sich um ein kleines Stückchen Land handelt, etwas höher gelegen, wenn man vom Fluß in die Stadtmitte, auf den Markt ging, (es gab damals nur den einen, daher brauchte man das Attribut „alter“ nicht). Ein kleines Stück eher unfruchtbares Land, das von der Seseke nicht regelmäßig überflutet wurde und daher „Geest“ hieß (aus niederdeutsch gēst = trocken, unfruchtbar). Das soll der Ursprung des Straßennamens „Am Geist“ sein. Und als Beleg führen sie an, daß es gleich hinter der Seseke, ein wenig südöstlich, eine Straße namens „Mersch“, früher „In der Mersch“ gibt, eine Bezeichnung, die immer eine Niederung bedeutet, die regelmäßig vom Meer oder einem Fluß überschwemmt wird. (Marsch oder Mersch aus germ. *mariska = zum Meer (Wasser) gehörig, vgl.a. lat. mare = das Meer).
Vermutlich aber haben diejenigen recht, die eine ganz andere Deutung vorziehen. Ein Heilig-Geist-Hospital wurde in Kamen vor 1359 gegründet, das erste und jahrhundertelang einzige Armen– und Siechenhaus der Stadt. Arm und krank, das gehörte offenbar nicht nur im Mittelalter zusammen. Nach 1648, nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs, wurde es nicht mehr genutzt und verfiel vollständig. Erst 1717 wurden die Trümmerreste entfernt. Schon 1662 war das neue Hospital erbaut worden, 1865 gründlich renoviert. Das stand dann bis in die 1930er Jahre, als es baufällig war und dem Möbelhaus Reimer Platz machen mußte.
Abb. 1: Das alte Heilig-Geist-Hospital, in den 1930er Jahren abgerissen
Im Laufe des 15. und 16. Jh. wurden dem Armenhaus zahlreiche Grundstücke und Renten, d.h., Stiftungen von Geld, überschrieben. Im Kamener Urkataster von 1827 heißt das Gelände zwischen dem Norden– oder Viehtor und Ostentor „Auf (auch: An) den Geistgärten“. Es umfaßt heute das Gebiet Gartenstadt und Kastanienallee etwa bis zur Friedhofstraße. Und die „Renten“ waren ausreichend für die Versorgung von durchschnittlich 16 Armen, in manchen Jahren, so z.B. 1729, blieben gar noch 40 Taler am Jahresende übrig.
Zur Zeit der Gründung dieses Spitals fingen Kamener Kaufleute an, sich mit anderen Kaufleuten zusammenzutun, wenn sie ihre Waren in anderen Städten und Ländern anbieten wollten und heuerten Bewaffnete zu ihrem Schutz an. Solch eine Gruppe nannte sich „Hanse“. Daraus entwickelte sich zuerst die Kaufmannshanse, die später, als Lübeck die Führung übernommen hatte, zu einem richtigen Bund, der Städtehanse wurde. Und auch Kamener Kaufleute bereisten weite Teile Europas, von London über Brügge und Bergen übers Baltikum bis nach Nowgorod. Doch wo sollten sie auf ihren weiten Reisen übernachten? Ein ausgebautes Hotelsystem gab es nicht. Da boten sich Armenhäuser und Hospitäler (aus lat. hospēs = Gastfreund, Wirt) geradezu an. Die Kaufleute verdienten gut und wollten für Dienstleistungen bezahlen. Die Armen und Kranken boten diese Dienstleistungen an, z.B. Tiere füttern, tränken, pflegen und verdienten sich so ein wenig Geld.
Abb. 2: Das erste „Kamener Kreuz“
Das Kamener Heilig-Geist-Hospital lag verkehrsmäßig außerordentlich günstig, so wie Kamen heute noch, nämlich am ersten „Kamener Kreuz“: dort, wo (die heutige) Ost–, West– und Nordstraße zusammenlaufen und ein kleines Stück Straße zum Markt, über ihn hinweg in die Mühlenstraße durchs Mühlentor zum Hellweg führte, dem damals wichtigsten Handelsweg in unserer Region. Seit den 1240er Jahren war Kamen Stadt mit allen Rechten und konnte daher drei Wochen– und zwei Jahrmärkte abhalten. Zu diesen Märkten strömten Händler, Kaufleute und Bauern, eben alle, die etwas verkaufen wollten. Und nach der Einführung des ersten „ÖPNV“ – Kamen wurde schon im 18. Jh. von einem mehr oder weniger regelmäßigen Postkutschendienst angefahren – entstand in der Oststraße eine Pferdewechselstation, im Photo gleich hinter der Kurve, auf der linken Seite.
Abb. 3: Blick in die Ostraße; hinter der Kurve stand die Pferdewechselstation, auf der linken Seite
Aber nicht nur wegen des Heilig-Geist-Hospitals ist „Am Geist“ bemerkenswert. Am Ausgang vom Markt in den „Geist“ standen bis etwa 1910 das Wohnhaus der Familie von Mulert, einer prominenten Kamener Familie, deren hohe Gruft noch auf dem alten Kamener Friedhof bewundert werden kann und das Verlagshaus Velting an der Ecke, wo heute die große Platane auf dem Parkplatz steht.
Abb. 4: Blick von der Einmündung der Güldentröge in Richtung Markt
Diese Familie von Mulert stammte aus Holland und war recht begütert. Irgendwann kam sie nach Kamen und besaß auch hier viel Land, z.B. die o.e. „Geistgärten“ und weiteres Areal. Der Baron war sehr freigebig, aber auch sehr verschwenderisch. Er brachte fast das gesamte Vermögen der Familie durch. Seine zwei ihn überlebenden Schwestern, beide kinderlos und unverheiratet, vermachten dann das gesamte noch vorhandene Restvermögen der Stadt Kamen gegen eine lebenslange Rente. So hatte die Stadt genügend Land, um die Wohnbebauung im Osten, außerhalb der Stadtmauern fortzusetzen (vgl.a. den Artikel über Gustav Reich unter „Kamener Köpfe“).
Abb. 5: Kamener Urkataster; die Geistgärten befinden sich im Nordosten
Nachtrag:
Das Haus Am Geist 6 erscheint heute eher ziemlich baufällig. Man ahnt aber noch, daß es einmal ein sehr schönes, altes Fachwerkhaus war, eines der Sorte „Kamener Ackerbürgerhaus“, das unter Denkmalschutz steht. Es stammt aus dem 17. Jahrhundert. Vor kurzem wurde es zusammen mit den beiden Häusern Nr. 4 & 5 von einem Investor erworben, der hier eine Neubebauung plant. Hoffen wir, daß Nr. 6 in erkennbarer Form stehenbleibt, denn es hat eine Geschichte, die eng mit den 1950er und 60er Jahren in Kamen verwoben ist.
In den 1960er Jahren hatte Kamen überall im Ruhrgebiet (damals wohl eher noch der „Kohlenpott“) zu Recht den Beinamen „Die sündige Stadt“. An Wochenenden war die ganze Stadt voller Autos, darunter viele der gehobenen Klasse, mit Nummernschildern bis aus Köln und Düsseldorf. Damals war in diesem Haus eines der führenden Lokale der Kamener Nachtszene beheimatet, das „Haus Kajak“. Es war eines der wenigen Häuser, die nicht dem Kamener Kneipenkönig Willi Neff gehörten. Kajak Junior gefiel sich darin, in einem Mercedes 600 („Adenauer-Mercedes“) Cabriolet durch Kamen zu fahren, immer mit mindestens einem hübschen Mädchen neben sich.
Polizeistunde gab es hier nicht. Bis sechs Uhr morgens war regelmäßig Betrieb, die Bude rammelvoll, der Bierumsatz phänomenal. Besonderen Ruf erwarb „Kajak“ sich, als ein Pferd als Vehikel für Striptease eingesetzt wurde. Da zog sich dann eine junge Frau unter erheblichen Verrenkungen auf diesem Tier aus, das natürlich nicht immer ruhig hielt. Ständig war sie in Gefahr, herunterzufallen. Das ganze fand im ersten Stock statt! Und wenn man alten Kamenern zuhört, waren zumindest die Männer damals alle im Lokal, und sie grinsen heute noch wissend, wenn der Name fällt. „Die hatten damals ein Pferd dadrin.“ Und jeder schwört, dabei gewesen zu sein.
Abb. 1: Fred Kaspar, Kamen in alten Ansichten, Nr. 69
Abb. 2 & 5: nach Heinz Stoob, Westfälischer Städteatlas, Kamen, Dortmund 1975; Abb. 2: bearbeitet von Klaus Holzer
Abb. 3: Archiv Klaus Holzer
Abb. 4: Fred Kaspar, Kamen in alten Ansichten, Nr. 44
KH