von Klaus Holzer
Abb. 1: Christian Philipp Zucchi, 8. Februar 1811 in Mainz – 19.September1889 in Leipzig
Wie der Name vermuten läßt, stammt die Familie aus Italien, genauer: aus Venedig, wenngleich auch in dieser Beziehung vieles im
Abb. 2: Das Wappen der Familie Zucchi
Dunkeln ist. Die Familie wandert aus und läßt sich in Mainz nieder, wo Sohn Christian Philipp (CZ) am 8. Februar 1811 geboren wird1.
Seine Jugend fällt in eine äußerst unruhige Zeit. Die Französische Revolution liegt erst 22 Jahre zurück; Napoleon hatte Deutschland erobert und wieder verloren; die deutschen Länder fühlten sich befreit und gleichzeitig durch den Franzosen inspiriert. Ein Virus hatte die Deutschen befallen und ließ sich nicht vertreiben, und Mainz war besonders stark infiziert: die Idee der Republik faszinierte die Bevölkerung.
Schon am 17. März 1793 hatte der Mainzer Jakobinerklub die Mainzer Republik ausgerufen.
Abb. 3: Das Wappen des Mainzer Jakobinerklubs
Ihr maßgeblicher Mann war Johann Georg Forster2
Abb. 4: Johann Georg Forster,
27. November 1754 – 10. Januar 1794
der seine Republik an Frankreich anschließen wollte. Während er in Paris war, um die Bedingungen zu verhandeln, eroberten Preußen und Österreich das abtrünnige Territorium zurück, doch ließ das Virus des Republikanismus die an sich revolutionsfeindlichen Deutschen nicht mehr los.
In mehr und mehr deutschen Staaten rumorte es, bis der Vormärz in der Frankfurter Paulskirche gipfelte. Gleichzeitig entwickelte sich ein Wunschbild bürgerlicher Behaglichkeit, das Biedermeier,3
Abb. 5: Zimmer im Biedermeier-Stil
das sich den von Frankreich ausgehenden Empire-Stil anverwandelte und sich einerseits durch Geradlinigkeit, Feierlichkeit, nüchterne Strenge und sachliche Zweckmäßigkeit auszeichnete, andererseits aber auf Repräsentation und Dekoration, auf die damals modische Vorstellung von wohnlicher Gemütlichkeit hinzielte.
In diesem Spannungsfeld wuchs CZ auf. Aber ebenso wenig, wie er politischer Revolutionär wurde, modernisierte er die Malerei, blieb stattdessen den Konventionen verhaftet 4. Sein Talent zu zeichnen verhieß ihm eine Karriere als Porträtmaler, zumal die großbürgerlichen Familien großen Wert auf repräsentative Familiengemälde legten, Gemälde, die den wirtschaftlichen und privaten Erfolg unterstrichen. Hier wollte man sich zeigen, zugleich aber wollte man auch den Schmuck fürs großbürgerliche Heim.
Abb. 5a: Der junge Cristian Zucchi, gemalt von seinem Lehrer Friedrich Fleischmann
Es ist nicht bekannt, wo CZ gelernt hat. Man darf annehmen, daß er das machte, was damals fast alle machten, die Maler werden wollten: er ging zu einem Meister in die Lehre, schließlich galt Malerei grundsätzlich noch als Handwerk. Um 1830 jedenfalls ist er beim Nürnberger Kupferstecher Friedrich Fleischmann und eignet sich dessen Fertigkeiten an. Nach frühen Wanderjahren nach Süden – Italien war immer die Sehnsucht der Deutschen, und das war der gebürtige Mainzer ja – etwa an den Chiemsee, nach Obermais, Ittensee, Tegernsee, zum Südtiroler Rosengarten bis nach Bozen. Am 30. April heiratet er zum ersten Mal, Anna Maria Becker. Offenbar ist er immer noch in Süddeutschland, da ihr Sohn Carl Georg am 2. Februar 1840 in Freising geboren wird.
Im Jahre 1848 kommt CZ nach Kamen. Es ist unbekannt, wieso er ausgerechnet hierher kam, war Kamen doch ein kleines, verträumtes Landstädtchen, dessen Bürger Handwerker und Ackerbürger waren, ein Städtchen, das nicht durch Reichtum auffiel. Janna Westerholz vermutet, er könne vom Kirchenneubau gehört und einen Auftrag erhofft haben. Viel Auswahl an Gasthäusern wird es nicht gegeben haben, CZ quartiert sich im Hotel „Preußischer Hof“ (so genannt seit 1822) ein. Der Wirt Heinrich Wilhelm Grevel hat eine hübsche Tochter namens Sybilla Elisabeth (6.4.1825 – 29.7.1910), in die Zucchi sich sofort verliebt, obwohl er zu dieser Zeit noch verheiratet ist (seine erste Frau stirbt am 20. September 1850 in Mainz). Diese Liebe wird erwidert und so heiraten die beiden am 3. Oktober 1851 und werden von Pfarrer Overbeck „zuhause“, d.h., im Gasthaus Grevel, getraut.
Abb. 6: Christian Philipp und Sybilla Elisabeth Grevel
Hier präsentiert sich ein gutbürgerliches Ehepaar. Sybilla Elisabeth nach der letzten Mode der Zeit gekleidet: der Körper wird durch das wiederentdeckte Mieder stark betont, der untere Teil des Kleides ist durch mehrere (das konnten bis zu 6 sein!), teils durch Roßhaar verstärkte Unterröcke extrem stark ausgestellt. Hier paßt kein Mantel mehr, daher trägt die Frau stattdessen die pelerinenartige Rotonde.
Christian entzieht sich dem dernier cri. Er zieht den bequemeren (einreihigen) Gehrock dem Frack bzw. der Redingote vor, die ihn wegen ihrer Körperbetontheit zwänge, einen Schnürgürtel zu tragen, und statt des modischen Vatermörders trägt er einen normalen Kragen mit Plastron. Und seine Frisur ist definitiv zweite Hälfte 19. Jh.: er mag wohl keine Koteletten, Favoris genannt.
Der Eintrag im Kamener Kirchenbuch lautet: Der Witwer Christian Philipp Zucky (Schreibweise eingedeutscht, Duden gab es noch nicht), 40 Jahre alt, katholisch, Einwilligung zur Ehe durch die Mutter schriftlich und Fräulein Elise Grevel, 26 Jahre alt, evangelisch, Einwilligung zur Ehe durch den Vater mündlich.
Das erste Kind des Paares wurde wohl 1852 geboren und auf den Namen Caroline Gertrude Dorothea getauft.
Natürlich bleibt der Maler nun erst einmal in Kamen und malt eine Reihe von Kamener Motiven, Personen und markanten Stellen im Straßenbild. Rolf Fritz erwähnt auf S. 223 a.a.O. auch „eine Ansicht der Zeche Grillo, die damals noch in weiten Kornfeldern lag“. Leider trifft auf dieses Gemälde wohl zu, was er anderer Stelle sagt, daß nämlich CZs Werke „nach seinem Tode in einem Inventar zusammengefaßt, für wenig Geld verkauft wurden und heute verschollen sind“.
Abb. 7: Straßenszene „Am Geist“ in Kamen, 1850er Jahre
Ein einfaches Bild einer Kamener Straßenszene Am Geist, vor dem Gasthaus seiner Schwiegereltern. Der Gastwirt Grevel steht in der Haustür und verabschiedet Besuch. Seine Frau steht neben der Kutsche und spricht letzte Worte mit den Abreisenden, das Pferd trabt an, ein Hund läuft bellend auf das Gespann zu. Es ist nicht ganz klar, ob die Szene am späten Abend anzusiedeln ist – die Sonne steht schon tief im Westen – oder spät in der Nacht und das Licht vom Mond herrührt. Der Himmel ist zu hellblau für Mondlicht, jedoch die Straße zu leer für den späten Nachmittag oder frühen Abend. Die Straße Am Geist führt nach Süden und öffnet sich in westlicher Richtung auf den Markt. Soweit erkennbar, tragen die Personen Gesellschaftskleidung. Vielleicht reist der Sonntagsbesuch gerade ab, oder Reisende, die im Gasthaus übernachtet haben.
Es ist klar, daß CZ hier eine romantische Kleinstadtszene darstellt, die Häuser wiedergibt, wie sie dort standen. Der Kamener erkennt das Gasthaus noch heute wieder, das ehemalige Hotel König von Preußen, das Hotel Bergheim. CZ beobachtet genau, gibt alles detailgetreu wieder. Die Farbgebung ist zurückhaltend. Der blaue Himmel ist überwiegend von Schleierwolken bedeckt, das Licht scheint von Südwesten oder Westen zu kommen. Das Haus am rechten Bildrand ist dementsprechend in Dunkel gehüllt, steht es doch auf der Westseite der Straße. Auch hier zeigt sich wieder, daß CZ nicht selten ein Problem mit der perspektivgerechten Darstellung hat, doch beweist es gleichzeitig, wie atmosphärisch dicht er malen konnte.
Janna Westerholz berichtet, daß die Familie Bergheim zu erzählen wußte, daß es sich bei der Kutsche um die Hausdroschke handelt, die Hotelgäste über die damals noch unbefestigten Straßen zum Bahnhof fuhr. Das konnte sich nur das erste Haus am Platze, eben der „König von Preußen“, Besitzer Heinrich Wilhelm Grevel, leisten. Mit der Bahn zu reisen, war die modernste Art des Reisens, und Kamen hatte seit dem 2. Mai 1847 einen Bahnhof an der Köln-Mindener Strecke, auch wenn das nach Schinkel gestaltete Bahnhofsgebäude wohl erst später errichtet wurde.
Abb. 8: Die Vorhalle des Hotels „König von Preußen“ im 19. Jh.
Viele seiner Gemälde hingen früher im Hotel „König von Preußen“ der Familie Bergheim an den Wänden der Gaststube. Bergheims erbten als Verwandte der Familien Grevel/Zucchi nach deren Aussterben den gesamten Nachlaß. Am besten bekannt sein dürfte CZ in Kamen für das Altarbild, das er für die damalige „Kirche der größeren evangelischen Gemeinde“, heute Pauluskirche, malte.
Gerade, am 29. März 1849, hatte der Generalsuperintendent D. Franz Friedrich Graeber aus Münster die Kirche feierlich eingeweiht. Am 24. Juni 1849 stellte die Repräsentation der größeren ev. Gemeinde zu Camen dann folgendes fest: „Zur Verschönerung der neuen Kirche ist ein Bild des Malers Zucchi, darstellend die Tröstung des Heilandes am Ölberge, im Werte von 200 Talern als Altarbild aufgestellt. Durch die Gaben hiesiger Bürger ist über die Hälfte des Kostenwertes gedeckt und es wird von den Mitgliedern der Landgemeinden auch noch ein namhafter Betrag erwartet. Repräsentation beschließt die Übernahme des bleibenden Kaufschillingrestes auf die Einnahmen des Klingelbeutels zur allmählichen Tilgung.“ (zit. nach W. Wieschhoff, a.a.O.) Das Gemälde hat die Maße 2,85 m x 2 m. Es ist mit seinem Rahmen in zwei Pilaster eingesetzt, die einen Palmettenaufsatz tragen (ein Dekorelement, das typisch ist für den Klassizismus; Motiv: Hand mit gespreizten Fingern bzw. Fächer aus Blättern).
Abb. 9: Jesus auf dem Ölberge. Altargemälde in der Pauluskirche in Kamen. Gesamtansicht
Der biblische Hintergrund für dieses Altarbild findet sich in Lukas 22, ab Vers 41. Jesus weiß: Es muß an mir vollendet werden, was geschrieben steht. Er ging zum Ölberg, „41kniete nieder, betete 42und sprach: Vater, willst Du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe! 43Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn“.
Das Gemälde bezieht sich auf genau diesen Vers. Links am Bildrand kniet der Engel (Zucchis Braut, Sybille Elisabeth Grevel, soll hier Modell gestanden haben), etwas erhöht, im Licht, das aus dem Himmel auf die Szene herunterscheint, seine linke Hand zum Himmel aufzeigend, bestätigend, wohin Jesus sein Weg führen wird. Die Anatomie dieses Armes ist Zucchi arg daneben geraten. Der Winkel, in dem er gehalten wird, stimmt nicht; der Unterarm ist zu lang geworden; er ist aus der Perspektive gefallen, besonders auch Zeigefinger und Daumen der himmelwärts zeigenden Hand. In der Rechten hält er einen Pokal, der die Stärkung enthält. Der Blick des Engels, aus einem neutralen Gesicht, scheint nicht auf Jesus gerichtet, sondern eher auf seinen Körper in Höhe der Ellbogen. Jesus, noch Mensch, kniet davor auf dem Boden, richtet seinen Blick nach oben. Jesus’ Kopf entspricht der nazarenischen Tradition 5: langes, schmales, eher süßliches Gesicht, langes, dunkles Haar. Die Hände wirken weniger wie zum Gebet gefaltet, sondern wie aus Pein gewrungen. Sein Gesicht sieht glatt aus, hier erkennt der Betrachter keine Pein, keinen inneren Kampf zwischen der Hoffnung des Menschen Jesus und der Ergebung Jesus’ in sein Schicksal als Erlöser. Es ist nicht zu sehen, was Lukas in Vers 44 beschreibt: „Und er rang mit dem Tode und betete heftiger. Und sein Schweiß wurde wie Blutstropfen, die auf die Erde fielen.“ Dieser Jesus ringt nicht mit dem Tode, kein Schweiß fällt wie Blutstropfen auf die Erde.
Abb. 10: Das Altargemälde
In dieser Szene ist Jesus zusammen mit seinen Jüngern. Auf dem Gemälde verschwinden sie fast im Dunkel, obgleich sie eine gewichtige Rolle in Jesus’ letzten Momenten zu spielen haben. Die großen Flächen sind überwiegend dunkel, kaum gestaltet. Und den Falten der Gewänder fehlt räumliche Tiefe, man sieht, daß sie eher flächig gemalt sind. Deutlicher und stimmungsvoll sind die soldatischen Häscher im Hintergrund rechts zu erkennen. Der Dortmunder Kunsthistoriker Dr. Rolf Fritz urteilt: „ … deutlich, daß Zucchi sich hier offenbar übernommen hatte, und zwar sowohl im Thema wie im Format. Beides ging über seine Kräfte.“
Dennoch muß anerkannt werden, daß die farbliche Gestaltung das Gemälde deutlich gliedert, damit der inhaltlichen Ausgestaltung der Szene gerecht wird: himmlisches Licht mit dem weißgekleideten Engel auf der linken Seite, die Verheißung; Düsternis mit dem rotgekleideten Jesus auf der rechten Seite, die noch unerlöste irdische Welt, jedoch erreicht das himmlische Licht schon Jesus’ Gesicht.
Zucchi nahm, soweit bekannt ist, nie wieder einen solchen Auftrag an, sondern malte das, was er am besten konnte: Porträts. Das war ein Gebiet, auf dem er seine Qualitäten als Maler zeigen konnte.
CZ hatte jetzt eine Familie zu ernähren. Das hieß wohl, daß er sich nach einer festen Beschäftigung umsehen mußte. 1853 ist er in Bielefeld, wo er als privater Zeichenlehrer arbeitete. Es gibt im Stadtarchiv Kamen die Kopie einer Zeitungsannonce vom 18. Oktober 1853, in der CZ ankündigt, „wieder (!) eine Zeichenschule“ einzurichten und Familien um Anmeldung zu seinen Malstunden bittet. Und da es immer schon schwer war, sein Leben als freischaffender Künstler zu finanzieren, malt er alles, was an Aufträgen zu ergattern ist. Für den Bielefelder Sammler Westermann z.B. malt er eine um 1850 bei Halle in Westfalen ausgegrabene germanische Urne, die der Sammler später dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg schenkte.
Da es ein Gemälde von ihm gibt, das Dortmund von Norden zeigt und auf 1854 datiert ist, muß er mindestens noch einmal für kurze Zeit zurückgekommen sein.
Abb. 11: Dortmund von Norden
Diesem Gemälde wird übrigens vom Dortmunder Kunsthistoriker Dr. Rolf Fritz einige Bedeutung zugesprochen. Es ist historisch interessant, weil es „ein genaues Porträt der Stadt in dem Stadium ihres Wachstums zur vorstadtumgebenen Industriestadt [gibt], in der die ersten Fabrikanlagen und Werkhallen sichtbar werden und zum ersten Mal Schornsteine neben den mittelalterlichen Kirchtürmen emporragen und die vierhundertjährige Silhouette der Stadt verändern.“ Darüber hinaus aber sei es auch künstlerisch von Wert, weil „das gewiß nicht sehr anziehende Motiv […] durch geschickte Komposition, vor allem aber durch flotte malerische Behandlung, die eine gute Handschrift verrät, weit aus der Menge der üblichen Ansichten herausgehoben“ sei.
Abb. 12: Dortmund von Norden, farbig, am rechten Rand beschnitten
Hier scheint Zucchi, neben der Porträtmalerei, in seinem Element gewesen zu sein. Nichts an diesem Bild wirkt gekünstelt, gewollt. CZ malt, was sich seinem Auge darbietet, nicht, was in seinem Kopf damit geschieht, wie es nur 20 Jahre später Claude Monet in seinem namengebenden Gemälde „Impression, Soleil Levant“ von 1872 tun sollte. Seine Darstellung wirkt realistisch, mit deutlich romantischen Zügen. Die Stimmung ergibt sich aus der Szenerie. CZ wählt eine sehr glückliche Ansicht, die bestimmenden Linien strukturieren das Gemälde. Alles wirkt „richtig“, an seinem Platz. Der helle Streifen am grauen Himmel auf der rechten Seite bildet eine gekonnte Ergänzung der hier eher eingeschränkten Bebauung.
Stellt man dieses Gemälde neben die Ansicht aus Kamen (vgl. Abb. Am Geist) wird deutlich, daß CZ ein viel besserer Maler ist, als es uns das Kamener Altarbild zeigt. Hier stimmt alles: Motivwahl, Anordnung der Landschaft und Häuser, Strukturierung der Bildfläche, Schaffung einer Stimmung, Vermittlung einer Lebenswirklichkeit, selbst (fast) ohne menschliche Gestalten.
Abb. 13: Christian Philipp Zucchi in Leipzig
Ein Vergleich mit Monet zeigt aber auch, daß CZ kein Erneuerer der Malerei war.
Bielefeld scheint kein auskömmliches Leben geboten zu haben. 1856 taucht die Familie Zucchi in Leipzig auf, einer lebendigen Großstadt, bekannt durch die größte Messe der Zeit, damals so etwas wie eine Verbindung von Stadt und Welt. Trotz aller Provinzialität – hier spürte man schon so etwas wie eine frühe Globalisierung. Da CZ immer noch Hesse war, mußte er sich wohl, um hier dauerhaft arbeiten zu können, einbürgern lassen. Hier bekamen die Zucchis eine weitere Tochter, Elisabeth Henriette Karoline, die selber Malerin wurde, und einen Sohn, Hermann, der aber schon am 6.6.1869 starb.
In den 1860er Jahren malt CZ eine (die Leipziger?) Familie (Graff?) im Stil des Biedermeier, eine Familienidylle vor einem alten Baum in realistisch-romantischer Hügellandschaft. Das dürfte in etwa die Art Gemälde darstellen, die die reichen Leipziger sich für ihre Wohnung leisteten. Die Motivwahl und die Durchführung sind typisch für CZ in dem Sinne, daß es eben kein Avantgardist war. Heute schmückt es das Wohnzimmer einer Kamener Familie, die auch diese Reproduktion genehmigte.
Abb. 14: Die Familie Graff (?)
Es ist typisches Biedermeier, wenngleich zeitlich verspätet, indem hier eine klare Rollenverteilung vorgenommen wird. Die ältere Schwester (sie trägt keinen Ehering, geringer Altersunterschied) wird umrahmt von den beiden jüngeren, Bruder und Schwester. Die Farben ihrer Kleidung sind von hoher Symbolik: die Farbe ihres Kleides ist blau, die Farbe der Treue, die Himmlisches und Irdisches verbindet, das kostbare Blau des Mantels Marias, ein sehr fein ausgearbeiteter weißer Spitzenbesatz, die sogenannte Berthe, die Farbe der Unschuld, krönt den Ausschnitt. In den Händen hält sie ein weißes Tuch. Ihre Finger zeigen, daß sie mit einer Näh– oder Stickarbeit beschäftigt ist, alle Utensilien liegen griffbereit auf dem Tischchen vor ihr: Nähkästchen, Schere, Stichel. Ihr inniger Blick schweift in die Ferne, bleibt im Bildkontext.
Hinter ihr, ganz in weiß gekleidet, in vollkommener Reinheit und Unschuld, sitzt ihre jüngere Schwester, die rechte Hand in die Armbeuge der älteren gelegt, die linke auf ihrer Schulter ruhend. Sie schaut sanft und lieb den Maler an, stellt die Verbindung zur Außenwelt, zur Zukunft her. Ihr ist keine Tätigkeit zugeordnet, sie ist passives, liebes Kind. Überhaupt wird den Kinderporträts CZs nachgesagt, sie stellten Kinder immer als „lieb, gefällig, brav, sittsam, anständig, bürgerlich“ dar.
Ganz anders der schwarzweiß gekleidete Bruder, das Schwarz des gelehrten Talars, gepaart mit dem Weiß der Unschuld. Er sitzt vor seiner Schwester, hält ein Buch in seiner Rechten, hat den Zeigefinger zwischen die aktuellen Seiten gelegt, anscheinend vom Maler bei der Lektüre unterbrochen. Seine linke Hand ruht auf dem Kopf eines großen braunen Hundes, wohl des Familienhundes. Auch er blickt den Maler an, jedoch selbstbewußt, entschlossen. Ihm ist eine Karriere abseits von zu Hause gewiß.
Auf dem Tisch vor der Gruppe steht, neben den bereits erwähnten Dingen, eine Vase mit Blumen, eine Blüte scheint herausgefallen zu sein.
Das Gemälde weist eine klare Komposition auf, die von senkrechten Linien dominiert wird, nur der Horizont hält die Waagrechte. Die Frauengesichter wirken bläßlich, vielleicht sogar wächsern, das des Jungen mit seinen roten Wangen deutlich lebhafter. Das Gemälde reiht sich in eine Vielzahl ähnlicher Darstellungen aus dieser Zeit ein, vereint Innigkeit und Repräsentation, weist jedoch eine deutliche idealistisch-romantische Überhöhung auf, weit weg von jedem Realismus.
Abb. 15: Die Signatur CZs unter dem Gemälde „Die Familie Graff“, elegant wie der Maler selber
CZ war in den 1840er Jahren in Süddeutschland, 1848 nachweislich bereits in Kamen. Dieses Gemälde ist signiert und datiert: Chr. Zucchi, Juni 1846. Es ist also vorstellbar, daß CZ sich, als er dieses Bild malte, auf dem Weg aus Süddeutschland nach Kamen befand. Dann könnte es sich bei der Mittelgebirgslandschaft im Hintergrund um das Wittgensteiner –, Sieger– oder Sauerland handeln. Das Haus am Bach im Talgrund könnte, entsprechend den Gepflogenheiten der Zeit, das Stammhaus der abgebildeten Personen sein, ein Gutshof, dem sozialen Stand der Familie angemessen.
Schade, daß so wenig über CZ bekannt ist. Vielleicht schlummert noch manches in irgendwelchen Archiven, doch wird es nur ein (unwahrscheinlicher) Zufall zutage befördern können. Und ob es dann seinen Weg nach Kamen findet?
Ab 1856 ist CZ fest in Leipzig etabliert. Dennoch zieht ihn und seine Familie die verwandtschaftliche Bindung immer wieder nach Kamen. Im Stadtarchiv gibt es das Protokollbuch des Schützenbataillons, das unter dem Datum 25. September 1866 einen Eintrag zeigt, daß Zucchi „zu Beschaffung eines neuen Transparentes 20 Thlr erhält“. Es geht nicht daraus hervor, ob das Transparent (wohl für das Festzelt) für das vorhergehende Fest (1865) angefertigt wurde oder erst noch angefertigt werden sollte. (Dank an Wolfgang Freese für diesen Hinweis.)
Abb. 16: Christian Philipp Zucchi in den 1870er Jahren
Während der Leipziger Zeit wird eine weitere Tochter geboren, Elisabeth Henriette Karoline (13./14. 9.1860 – 21.7.1928), die ebenfalls Malerin wird. Die Metropole bot dem Porträtmaler CZ viel Arbeit, da es genug vermögende Bürger gab, die ihre Wohnzimmer schmücken wollten. Und CZ wird in Leipzig anerkannt, er ist beliebt. Aber auch für den Restaurator CZ gab es Arbeit. In der reichen Messestadt besaßen die Bildungsbürger, die reichen Kaufleute und Händler, viele Gemälde, die er auffrischen konnte. Und als es ihm gelang, als Zeichenlehrer an der Städtischen Höheren Mädchenschule angestellt zu werden, war ihm ein regelmäßiges Einkommen gesichert.
Bilder, auf denen CZ seine Familie darstellt, spiegeln eine gutsituierte bürgerliche Familie wieder. Stolz ist ihnen in die Figur geschrieben, die Kleidung ist nach der Mode geschneidert, wirkt teuer, die Wohnungseinrichtung ist solide-bürgerlich.
Am 19.9.1889 stirbt CZ im Alter von 78 Jahren in Leipzig, wo er auch begraben ist.
Rolf Fritz urteilt über CZ abschließend: „Gewiß keine überragende Begabung, keine Entdeckung für die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts, ist er doch ein liebenswertes Talent, ein solider Porträtist, der gelegentlich durchaus eigene Wege geht und in seiner Ansicht von Dortmund und der Zeche Grillo sich Motiven zuwendet, die kaum einer seiner Zeitgenossen gesehen hat.
Westfalen ist in der Mitte des vorigen Jahrhunderts (Anm.d.Verf: d.h., des 19.Jh.) nicht gerade reich an malerischen Begabungen. Insbesondere im Ruhrgebiet fehlen sie fast vollständig. Neben wenigen guten Porträtisten, etwa in Hagen und Mühlheim, steht jetzt die Gestalt des Malers Christian Zucchi. Wenn er auch, wie der Westfale Theodor von Oer, später sein Brot in Sachsen suchte, so ist er doch zeitlebens mit Westfalen verbunden geblieben. In diesem Sinn dürfen wir wohl Christian Zucchi einen Maler in Kamen nennen.“
Und die familiäre Bindung der Familie nach Kamen zeigte sich auch darin, daß seine Tochter Elisabeth, obgleich in Erfurt geboren, immer wieder Kamen besuchte. Es gibt eine Reihe Photographien dieser Besuche. Idyllisch wird die Familie im Garten aufgestellt.
Abb. 17: Elisabeth Zucchi (Mitte) zu Besuch in Kamen im Garten des Hotels „König von Preußen, um 1900
Anmerkungen:
1 Andere Quellen geben seine Geburt mit Ende 1810/Anfang 1811 an und die Taufe am 8. Januar 1811.
2 Georg Forster war vor allem Naturforscher, Ethnologe, Reiseschriftsteller, Übersetzer, Journalist und Essayist.
3 Die Bezeichnung „Biedermeier“ war ursprünglich ein Pseudonym, unter dem L. Eichrodt und A. Kußmaul in den „Fliegenden Blättern“ 1855 -1857 literarische Parodien als „Gedichte des schwäbischen Schullehrers Gottlieb Biedermeier“ veröffentlichten, wurde dann auf die Zeit von 1815 – 1848 übertragen, die man als ein Wunschbild bürgerlicher Behaglichkeit sah.
4 Als CZ junger Maler war, schuf Turner in England bereits Gemälde wie „Licht und Schatten“ (1843), die kaum noch Formen erkennen lassen. Und Monet gab mit seinem Gemälde „Impression. Soleil Levant“ von 1872 einer ganz neuen Stilrichtung ihren Namen, dem Impressionismus.
5 Ursprünglich ein Spottname für eine Gruppe deutscher Maler, die in Rom eine Erneuerung der Kunst auf religiöser Grundlage anstrebten. Eine Grundlage war die Rückbesinnung auf die altdeutsche Malerei (Dürer) und die italienische Malerei ) Perugino, Raffael)
Quellen:
Fritz, Rolf, Christian Zucchi, Maler in Kamen um 1850, in: WESTFALEN. HEFTE FÜR GESCHICHTE KUNST UND VOLKSKUNDE. 40. Band, 1962, Heft 1-3, S. 219 ff
Westerholz, Janna, Christian und Elisabeth Zucchi, Streiflichter aus der Kunstgeschichte Kamens, 1997
Wieschhoff, Wilhelm, Das Altarbild in der Pauluskirche, im Gemeindeblatt Der Schiefe Turm, Oktober 1995
Stefan Milk photographierte das Altarbild in der Pauluskirche, „Christus auf dem Ölberg“.
Abbildungen 2 – 4 aus Wikipedia
Abb. 5a: Das Original dieses Gemäldes befindet sich im Besitz des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig, InventarNr. XXV/3; Photographie von Helga Schulze-Brinkop; zur Verfügung gestellt von Rolf Dieter Helgers, Kamen
Alle weiteren Abbildungen entstammen dem Stadtarchiv Kamen.
Das Gemälde „Dortmund von der Nordseite“ von Christian Zucchi befindet sich im Bestand des Museums für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund (Inv. Nr. C 7985), hier reproduziert nach einer Schwarz-Weiß-Photographie, vom Museum zur Verfügung gestellt. Erst später stieß ich dank einem Hinweis von Wolfgang Freese im Stadtarchiv Kamen auf eine farbige Wiedergabe, die allerdings am rechten Rand beschnitten ist, hier aber wegen der Farbgebung trotzdem reproduziert wird.
Dank gebührt dem Stadtarchiv Kamen, das bereitwillig Archivalien und Hilfsmittel zur Verfügung stellte.
KH